Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Die Wahrheit: Weinige Weihnacht
> Spätestens beim vierten Glas habe ich keine Kraft mehr für die Wahrheit.
> Aber davor sage ich alles über diese verdammte Weihnachtszeit ...
Bild: Als die Weihnachtsmänner von der Agentur für Arbeit ins Lager geschickt…
Weihnachtszeit ist Lesezeit. Autoren werden in Schulen und Bibliotheken
gerufen, um friedliche, besinnliche Geschichten vorzulesen. Diesmal also
ein kleiner Ort irgendwo im deutschen Lande, Provinzbahnhof, letzte
Renovierung kurz nach Hitler. Kein Mann weit und breit, der mir die Technik
erklären kann, wie man in der Dunkelheit die Bürgersteige wieder
herunterklappt, damit ich sicheren Fußes zum Hotel komme. Also doch ein
Taxi …
Das Essen im hoteleigenen Restaurant steht im ungünstig reziproken
Verhältnis von Preis und Qualität. Aber nach dem ersten Wein fällt es schon
weniger auf. Die sympathische Kellnerin fragt, ob es mir schmeckt. Leider
beantworte ich die Frage korrekt. Schade, weil ich mich auf einen
entspannten Abend vor der frühen morgendlichen Schullesung gefreut hatte.
Die Chefin erscheint keine Minute später und fragt, was nicht okay war. Das
Problem ist, dass alles okay war. Aber eben keinen Millimeter darüber. Es
gibt nichts zu klagen. Außer dass der Koch vielleicht noch mal hätte
forschen sollen, ob es nicht doch irgendwas in seinem Leben gibt, was ihm
richtig Spaß macht. Oder was er richtig gut kann. Lohnt sich im
Allgemeinen. Ich erkläre der Chefin, dass alles gut ist, keine Klagen, der
Spinat vielleicht eine Minimalspur zu salzig, das Steak nur ganz wenig zu
durchgebraten, alles kaum der Rede wert.
Die Chefin nickt und bringt mir einen Wein aufs Haus. Hui. Ich bin froh.
Der Wein ist gut und teuer, und es hätte ja auch ein Gruß aus der Küche
werden können. Allerdings habe ich ein wenig Angst, dass der Koch kurz die
Chance hatte, in den Wein zu spucken. Oder Schlimmeres. Dieser Wein
schmeckt eine Spur anders als der erste. Ich ignoriere das. Ich ignoriere
das!
Ich betrachte stattdessen die Deko. Draußen vom Walde kamen schon
Weihnachtsmänner und krochen an den Fassaden hoch. Von drinnen sieht man,
dass sie vorher originelle weiße Dinge an die Scheiben gemalt haben: weiße
Sterne, weiße Kerzen, weiße Nikoläuse, weiße mit Schleifen verpackte
Päckchen …
Die Chefin bringt mir den zweiten Wein. Nun ja, den zweiten aufs Haus. Für
mich leider den dritten. Ab dem dritten Wein neige ich sehr zur Wahrheit.
Das ist schlecht. Ich sage dann so Sachen wie: „Eure beschissene Deko zeigt
denselben miesen Geschmack wie eure verkitschte Inneneinrichtung und die
Wahl eures lausigen Küchenpersonals.“ Oder: „Dieses ganze verkackte
verlogene Weihnachtsgetue mit dem zweihunderttausendsten Abgedudel von
’Jingle Bells‘, mit dem ihr eure glühweinweichgespülten Gehirne vollrotzt,
geht mir total am Arsch vorbei.“ Oder auch so was wie: „Am liebsten würde
ich jeden einzelnen lichterkettenmandelplätzchenverseuchten Weihnachtsmarkt
höchstpersönlich in die Luft jagen.“
So Sätze sage ich ab dem dritten Wein. Beim vierten hört das wieder auf. Ab
dem vierten liege ich verzweifelt heulend in der Ecke und habe keine Kraft
mehr für die Wahrheit. Dafür sind die Gäste alle weg und mich tröstet die
Musik: „White Christmas“. Ach ja, ein weißes Weihnachtsfest, davon träume
ich.
2 Dec 2013
## TAGS
Weihnachten
Wein
Kneipe
## ARTIKEL ZUM THEMA
Die Wahrheit: Lebendiges Kneipensterben
Die Freiheit steht auf dem Spiel - jedenfalls in einer Kaschemme, in der
Lungenkrebs und Raucherbein die wesentlichen Themen unserer Zeit
verhandeln.
Die Wahrheit: Das Rauschen einer stillen Nacht
Richard steckt im Labyrinth des verhexten Weihnachtsmarktes. Der Glühwein
stinkt nach Nelken und Zimt.
Die Wahrheit: Bootcamp mit Bart
Eine zweite Chance für ältere Herren zu Weihnachten.
die wahrheit: Das Zeichen im Schnee
Die Wahrheits-Weihnachtsgeschichte: Wie ein einsamer Todesengel an
Heiligabend in einer Eckkneipe den "Gruppenfladen Arafat" fand.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.