# taz.de -- Die Wahrheit: Das Rauschen einer stillen Nacht | |
> Richard steckt im Labyrinth des verhexten Weihnachtsmarktes. Der Glühwein | |
> stinkt nach Nelken und Zimt. | |
Vielleicht hätte Richard nicht so spät die Betriebsfeier verlassen sollen. | |
Vielleicht wäre es klüger gewesen, keinen Rumpunsch zu trinken. Und | |
vielleicht sollte Richard es sich endlich angewöhnen, die Geschenke nicht | |
erst an Heiligabend zu besorgen. „Nun“, murmelte er, etwas entsetzt sein | |
Spiegelbild begutachtend, „man kommt aus seiner Haut nicht raus.“ | |
Eine Wechseldusche und zwei Aspirin später saß er in der U-Bahn und fragte | |
sich, woher das lange blonde Haar auf seinem Pulli stammte. Yvonne? Katja? | |
Tief in Richards schwerem Kopf steckte eine Erinnerung an grobes | |
Geknutsche, wollte aber nicht heraus. Ihm wurde klamm zumute. Darum | |
beschloss er, eine Station früher auszusteigen, um sich auf dem | |
Weihnachtsmarkt ein Katerfrühstück zu genehmigen. | |
Am Tresen von „Christkindel’s Glühweinhaus“ war wenig los, der Markt hat… | |
gerade erst geöffnet. Richard winkte dem Kellner, einem Herrn mit | |
Nikolausmütze, Drahtbrille und prächtigem Graubart. Richard kam das Gesicht | |
bekannt vor. Es erinnerte ihn an einen Schauspieler namens Harry … Harry … | |
Richards Gedächtnis war ein blasenwerfender Sumpf. Harry Rohkost? „Guten | |
Morgen, junger Mann“, röhrte der Schankkellner, „was darf’s sein?“ Ehe | |
Richard antworten konnte, dampfte bereits ein Becher Glühwein zwischen | |
seinen Händen. | |
Zunächst glaubte er, sich übergeben zu müssen, so penetrant stank das | |
Gebräu nach Nelken und Zimt. Aber weil der Kellner ihn beobachtete, nippte | |
Richard erneut, und schon beim dritten Zug war das Gebräu nicht mehr so | |
scheußlich. Eine Wärme wie von trocknendem Gips breitete sich in seinem | |
Bauch aus, und Richard bemerkte erstaunt, dass der Becher leer war. Sofort | |
stellte der Kellner ein frisches Glühweinkrüglein hin. „Tut gut, was?“, | |
sagte er und ließ in seinem Bart ein Grinsen erscheinen. Richard nickte | |
brav und trank. | |
„Muss mal was essen“, sagte er mit echtem Bedauern, als der Kellner einen | |
dritten Becher anbot. „Gute Idee“, erwiderte der Bärtige. „Sie können | |
zahlen, wenn Sie wiederkommen.“ Richard bezweifelte, dass er dafür Zeit | |
haben würde, aber er traute sich nicht zu widersprechen. Zwischen den | |
Marktbuden herrschte mittlerweile ein beklemmendes Gedrängel. Hätte Richard | |
sich nicht so sehr aufs Gehen konzentrieren müssen, hätte es ihm wohl zu | |
denken gegeben, dass die Menschen um ihn herum kein Wort redeten und | |
dennoch ein Rauschen wie von zehntausend flüsternden Stimmen die Luft | |
erfüllte. | |
Am „Tiroler Bauernstandl“ bestellte Richard eine Bratwurst, der man die | |
weite Reise leider anmerkte. Das Fischbrötchen, das er in der „Sylter | |
Stube“ nebenan einnahm, schmeckte nach Algen und Schweiß. Er wollte eine | |
Limo bestellen, als ihm auffiel, dass er die ganze Zeit einen | |
„Christkindel’s“-Glühwein mit sich getragen hatte. „Schau an: Richards | |
Weihnachtswunder“, murmelte er und trank, bevor die Gedächtnisstörungen ihm | |
Sorgen bereiten konnten. | |
„So fängt das immer an“, hörte er sagen. Ein kleiner Mann mit einem | |
Gesicht, das lange nicht mehr gelächelt hatte, sah zu ihm auf. Auch der | |
erinnerte ihn an einen berühmten Schauspieler. Joachim … Joachim … Richards | |
Hirn war wie aus Matsch. Joachim Kohl? „Was fängt immer so an?“, fragte | |
Richard, doch da schob sich ein Haufen Marktbesucher zwischen ihn und den | |
Fremden. Du liebe Zeit – er musste los, bald war Ladenschluss! Energisch | |
rempelte Richard sich in den Menschenstrom hinein. | |
Er kam durch eine „Kaufmannsgasse“ und eine „Spielzeuggasse“, durch eine | |
„Spezialitäten-“ und eine „Handwerkergasse“ – und dann stolperte er … | |
durch die „Kaufmannsgasse“. Einen Ausgang hatte er nirgends gesehen. Er | |
lief den Weg zurück und stand erneut in der Straße der Kaufleute. Vom | |
Gewühl war Richard außer Atem, aber nicht nur deshalb fühlte seine Kehle | |
sich eng an. | |
Er versuchte jetzt eine andere Tour, ausgehend von der „Spielzeuggasse“. Er | |
prägte sich den Startpunkt ein, eine Bude mit dem Schild „Geduldspiele“. | |
Eine halbe Stunde später spuckte der Menschenstrom ihn genau dort wieder | |
aus. Richard hätte am liebsten geweint, aber er wusste nicht mehr, wie das | |
geht. Dann hatte er eine Idee: Statt auf eigene Faust nach dem Ausgang zu | |
suchen, wollte er sich von den Massen mitziehen lassen. | |
Einige Zeit später stand er wieder vor den Geduldspielen. Erschöpfung kroch | |
von seinen Füßen hinauf bis zur Stirn. Richards Blick trübte sich vor | |
Müdigkeit. Es kam ihm vor, als gehörten die Köpfe und Körper der vielen | |
Menschen nicht zusammen, als würden die Schädel von Hals zu Hals zu hüpfen, | |
während die Leiber darunter immer auf der Stelle liefen. Dann wurde ihm | |
schwarz vor Augen. | |
Richard erwachte auf einem morschen Sessel unter einer Stehlampe mit | |
Troddelschirm. „Sä sänd gäsund?“, fragte eine Frau, die ihn aus dunkel | |
funkelnden Augen musterte. Auch sie erinnerte ihn an eine Berühmtheit. | |
Martina … Martina … Sein Gedächtnis war ein Schlammfeld. Martina Besteck? | |
An der Budenwand hing ein Zettel: „Handlesen 15 €“. Richard krächzte: �… | |
sind Wahrsagerin?“ Die Frau blitzte ihn an und schwieg. „Ob Sie mir | |
vielleicht wahrsagen können, wie ich hier rauskomme?“ Sie ließ sich viel | |
Zeit mit einer Antwort. Richard hatte den Hintern schon halb aus dem Sessel | |
gehoben, als sie rief: „Wenn Sä wollä zu Hausä, dann Sä müssä wissä, w… | |
kommt – das!“ Ihre Hand zuckte vor wie eine Schlange und riss von seinem | |
Pulli ein langes blondes Haar. „Ich hab doch keine Ahnung!“, wimmerte | |
Richard. „Katja – Yvonne – meine Güte, die knutschen doch jeden, der …… | |
einem Wink ihrer langen Finger brachte die Wahrsagerin ihn zum Schweigen. | |
„Sä nächt västähä“, sagte sie. „Nächt dänkä an wän! Dänkä an w… | |
Sä müssä lärnä. Bittä gähän jätz.“ Richard wollte protestieren, aber… | |
seinem Mund kam kein Ton. | |
Draußen vor dem Zelt war es bereits Abend, Heiliger Abend. Immer noch | |
schoben sich unzählige Menschen durch die engen Wege. Niemand sprach ein | |
Wort. Trotzdem rauschte es in der Luft wie von zehntausend flüsternden | |
Stimmen. Richard reihte sich in den stummen Zug ein und es wunderte ihn gar | |
nicht, als zu seiner Linken der bärtige Kellner und rechts der kleine Mann | |
auftauchten. Gemeinsam torkelten sie in die „Handwerksgasse“ hinein, vorbei | |
an einem Stand namens „Treibgut“. | |
24 Dec 2012 | |
## AUTOREN | |
Kay Sokolowsky | |
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