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# taz.de -- Regisseur über Lesbenfilm: „Fleisch, Emotion und Befreiung“
> Große Liebe, herber Verlust: Abdellatif Kechiche, der Regisseur von „Blau
> ist eine warme Farbe“, über Körperlichkeit, gefährliche Berufe und
> Homophobie.
Bild: Liebe ist immer unerklärlich und verrückt... Und nachher fragt man sich…
taz: Herr Kechiche, Ihr Film erzählt eine heftige Liebesgeschichte zwischen
der Schülerin Adèle und Emma, die auf dem Sprung in eine
Künstlerinnenkarriere ist. Ist das in Ihren Augen eine Amour fou? Was ist
das überhaupt, die große Freiheit oder eine Krankheit?
Abdellatif Kechiche: Liebe ist für mich immer unerklärlich und verrückt.
Die Gefühle sind so stark, dass man sein äußeres Verhalten kaum noch
beherrscht. Liebe wirft die Ordnung des Verstandes über Bord. Man spürt
diesen Zustand der Verrücktheit vor allem dann intensiv, wenn es zum Bruch
kommt. Man durchleidet ihn wie eine Krankheit, und wenn wir geheilt sind,
fragen wir uns, wie uns so etwas überhaupt zustoßen konnte.
Also interessiert Sie die Liebe als Liebeswahn?
Nein. Sie fragen nach der Liebe und bringen das Thema Verrücktheit ein.
Aber es wäre ungehörig, Liebe so zu definieren. Ich will gar keine
Erklärung suchen. Um mich her ist so viel vitale Begeisterung, sich in die
Verliebtheit fallen zu lassen. Ich habe gestandene Männer von solidem
Charakter gesehen, die mit höchster Intensität leiden, wenn der Riss
geschieht. Das ist keine „Krankheit der Jugend“. Vielleicht können manche
mit der Zeit vernünftiger damit umgehen, aber ehrlich gesagt, habe ich
nicht den Eindruck.
In einer Szene führt Emma Adèle ins Museum, wo sie eine Sammlung
historischer Gemälde zum Motiv der nackten Badenden betrachten. Was hat
Ihnen dieses Vorspiel zu der ersten sexuellen Begegnung der Frauen
bedeutet? Sie eignen sich da ziemlich souverän männlich besetzte Objekte
der Begierde an.
Das war keine intellektuelle Entscheidung. Ich fand diese Bilder im Museum
von Lille einfach schön. Sie lösen eine erotische Stimmung aus, sie
antworteten gewissermaßen auf das, was ich ausdrücken wollte. Lust auf
Körperlichkeit spielt da eine Rolle, auch der Kontext der Natur. Fleisch
und Leib, Emotion und Befreiung, Metamorphose und Natur.
Sehen Sie Adèle und Emma in den Liebesszenen Ihres Films ähnlich? Die
beiden atmen, seufzen, bewegen sich ineinander, aber wirken wie perfekt
ausgeleuchtete glatte Skulpturen.
Ich wollte nichts Perfektes zeigen, im Gegenteil. Ich hatte keine
ästhetische Wertung im Sinn. Was Sie bemerken, scheint mir jedenfalls einem
bestimmten Kanon zu entsprechen. Es ging mir um zwei menschliche Wesen, die
sich körperlich lieben.
Normen, nach denen junge Frauen ihre Schönheit konstruieren, sind ja
Realität. Emmas blaue Frisur ist ungewöhnlich, ein rasierter Körper auch?
Ich glaube, es gibt keine Vorschriften, wie man die Liebesleidenschaft in
einem Film darstellt. Was ich tatsächlich vermeiden wollte, war eine
Begegnung zwischen vollkommen gegensätzlichen Figuren, etwa einem dicken
und dünnen oder schwarzen und asiatischen Gegensatzpaar. Und zwei Männer
fand ich schon zu sehr dem Kanon entsprechend. Mein Hauptinteresse galt den
Gesichtern und Gefühlen, und auch da ging es mir nicht in erster Linie um
Typen wie die Künstlerin und die Proletarierin, die eine sensibel, die
andere intellektuell.
Adèle entwickelt sich im Lauf der Geschichte zu Emmas Muse und zur
Hausfrau. Ist der Rückfall in traditionelle Rollen bittere Ironie?
Ich beschreibe die Schwierigkeit, eine wirkliche Liebesgeschichte zu
entwickeln. Nach der Leidenschaft muss etwas bleiben, eine andere Liebe.
Die Unmöglichkeit einer Kontinuität zwischen ihnen habe ich eher versucht,
an den sozialen Bedingungen festzumachen. Die physische Anziehung
widersteht nicht ihrem Verfall. Aber da erlaubt der soziale Unterschied
zwischen Emma und Adèle ihnen nicht wirklich, zusammen zu bleiben.
Sie zeigen Emma als Schülerin und später als Vorschullehrerin in einer
selbstverständlich multikulturellen Kultur. Die Jugendlichen hören die
unterschiedlichste Musik, gehen aber gemeinsam für bessere
Bildungsbedingungen auf die Straße. Ist das Ihr Traum?
Ich denke, das ist in Frankreich die Realität, vor allem in einigen
Städten. Diese Frage nach der ethnischen Herkunft stellt sich unter den
Jugendlichen nicht mehr. Sie erleben in jeder Schulklasse eine Melange. Ich
wollte in meinem Film auf etwas anderes hinaus. Die Konflikte zwischen den
Liebenden zeigen sich nicht auf der Ebene ethnischer Herkunft, sondern auf
der Ebene der sozialen Klassen.
Die Kunststudentin zählen Sie zur Bourgeoisie?
Vielleicht ist es das, was ich sagen wollte: Emmas Welt ist die Welt der
Intellektuellen – künstlerisch, ökonomisch und auch, was ihre Nähe zum Kino
angeht. Auf Emmas Party zeigt sich, dass Adèle nicht über die Codes
verfügt, um sich zurechtzufinden und sicher zu fühlen.
Sie zeigen Ihre Protagonistin als sehr starke Frau. Ihr verzweifelter
Liebeskummer scheint ihre tägliche Arbeit nicht zu beeinträchtigen. Setzen
Sie Ihrer Rolle als Vorschullehrerin ein Denkmal?
Sie ist stark, frei und mutig, oder? Sie stellt sich den Schwierigkeiten,
auf die sie stößt, trotz ihrer inneren Zerrissenheit.
Sie rücken den Schauspielerinnen mit der Kamera auf den Leib. Der Film lebt
von ihrer Präsenz. Das Als-ob scheint aufgelöst, sie verkörpern, statt zu
spielen. Sie machen mich als Zuschauerin zur Komplizin.
Die Idee, Schauspielern beim Spielen zuzusehen, ist doch eine
konventionelle kinematografische Vision. In meiner Vorstellung von
dramatischer Kunst fusionieren die Figur und der Schauspieler. Spielen
bedeutet wirkliche Inkarnation und eine totale Implikation. Ich möchte,
dass der Schauspieler lebt und nicht das Leben imitiert. Er muss die Maske
lüften und seine Rolle ins Leben tragen. Das ist aufregend, das lässt den
Schauspieler wachsen.
Ist der Schauspieler die Beute des Regisseurs?
Nein, gefährlich für die Psyche ist das nur, wenn er sich gegen den
Arbeitsansatz stemmt und nicht mitmacht. Deshalb bin ich sehr genau, wenn
ich jemanden engagiere. Ich sage vorher, welchen Einsatz ich verlange,
damit das Handwerk Kunst wird. Wenn Sie auf die Gefahr anspielen, bleibt
mir nur zu wiederholen, was ich auf die Kritik an meinem Arbeitsstil
antwortete, die die Darstellerin der Emma, Léa Seydoux, geäußert hat. Es
gibt gefährlichere Metiers, die psychologisch und körperlich weitaus mehr
fordern als der Beruf des Schauspielers. Aber ich gebe zu, er ist nicht
immer angenehm.
Was sind die gefährlichen Berufe, die Sie meinen?
Die Leute, die morgens aufstehen und mit der Metro zur Arbeit fahren, um am
Ende einen miserablen Lohn zu kassieren. Denken Sie an Adèles Beruf, eine
Erzieherin ist wirklich gefordert. Da ist es deplatziert, vom gefährlichen
Beruf der Schauspieler zu reden. Ich komme aus Adèles sozialer Klasse und
weiß, wovon ich rede. Denken Sie an die Leute, die uns hier im Hotel die
Zimmer putzen. Wenn man auf der Tour Zeuge solcher Bedingungen wird,
bereitet es mir Probleme, vom angeblich gefährlichen Schauspielerberuf zu
reden.
Ihr Film kommt zu einer Zeit ins Kino, in der die populistische Rechte in
Frankreich gegen die gleichgeschlechtliche Ehe polemisiert. Ist Ihre
lesbische Liebesgeschichte ein Statement dagegen?
Ich war zur Zeit der Dreharbeiten vollkommen überrascht von dem
reaktionären Geist, der plötzlich aufkam. Frankreich ist für mich
Aufklärung und Avantgarde in Sachen Freiheit. Diese Reaktion gegen die
Freiheit hat mich sehr irritiert. Ich sehe in dieser Welle auch einen
Appell, sich mit den Gründen auseinanderzusetzen, warum Frankreich auf die
Seite der Gegner der Freiheit schwenkt.
Andererseits wollte ich mich nicht davon einengen lassen. Es war mir sehr
wichtig, das Thema Homosexualität im Film vergessen zu machen. Die
Zuschauer sollen sich mit den Figuren identifizieren, vollkommen unabhängig
von ihrer sexuellen Präferenz. Ich hatte Angst, mich zu frontal diesem
Thema zu stellen, weil das dem Film hätte schaden können. Militanz hätte
unseren Film auf die Community der Interessierten beschränkt.
18 Dec 2013
## AUTOREN
Claudia Lenssen
## TAGS
lesbisch
Cannes
Cannes
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