# taz.de -- Amnestie: „Ein russisch-sowjetisches System“ | |
> „Ich hatte kaum mehr geglaubt, dass ich den Tag noch erlebe“, sagt die | |
> grüne Osteuropa-Politikerin Marieluise Beck. Seit Jahren hält sie engen | |
> Kontakt zu Michail Chodorkowski. Am zweiten Tag nach seiner Freilassung, | |
> als die Fernsehjournalisten vor dem Hotel Adlon warteten, traf sie sich | |
> mit ihm. | |
Bild: Trafen sich kurz nach seiner Freilassung: die Grünen-Abgeordnete Marielu… | |
taz: Frau Beck, seit wann kennen Sie Michail Chodorkowski? | |
Persönlich seit Samstagnachmittag 15 Uhr. Ich könnte auch sagen: Seit acht | |
Jahren, und zwar über Juri Schmidt, den Menschenrechts-Vertreter und Anwalt | |
von Michail Chodorkowski. Ich habe seit diesen Jahren eine tiefe | |
menschliche Verbindung mit Juri Schmidt, und der war Chodorkowskis engster | |
Begleiter. | |
Russlands Präsident Putin hat ihn begnadigt – nach 10 Jahren Haft im | |
Arbeitslager. Ist Chodorkowski nicht ein gebrochener Mann? | |
Nein, in keiner Weise. Er ist überaus gut sortiert im Kopf, besonnen, ohne | |
einen Anflug von Rachegefühlen. Er war in verschiedenen Lagern, er ist im | |
Büro eingesetzt gewesen. | |
Die Welt rätselt jetzt, was Chodorkowskis Pläne nun sind. | |
Wir haben über Pläne schon in unserer Korrespondenz vorher gesprochen. | |
Man konnte mit ihm ins Arbeitslager korrespondieren? | |
Natürlich. Wir hatten einen Austausch über Zukunftsfragen, und dazu gehören | |
regenerative Energien. Das ist für ihn ein überaus spannendes Feld. Man | |
konnte direkt kommunizieren, ich habe aber auch Briefe über die Anwälte | |
hineinschmuggeln lassen. | |
Er wird im Westen jetzt zum Hoffnungsträger. | |
Davon bin ich nicht überzeugt. Die Möglichkeiten, politisch zu arbeiten, | |
ergeben sich nicht so einfach. Was sich als sinngebende Tätigkeit für einen | |
Mann, der ein solches Schicksal hat, ergibt, das ist 48 Stunden nach seiner | |
Freilassung nicht absehbar. | |
Ist er denn noch Milliardär oder komplett enteignet? | |
Ich habe diese Frage nie gestellt. Sein Jukos-Ölkonzern ist zerschlagen, | |
aber Chodorkowski betont, dass er zu der Zeit der Zerschlagung keine Aktien | |
mehr gehalten hat. Sicherlich gibt es ein kleines Vermögen. Chodorkowski | |
ist ja sehendes Auges nach Moskau zurückgekehrt, als sein Partner | |
Leonidowitsch Lebedew schon in Haft saß. Er hat nicht geglaubt, dass Putin | |
es wagt, ihn in Haft zu bringen. | |
Putin hat soviel Macht wie die Zaren nicht. | |
Das ist nach wie vor ein russisch-sowjetisches System. Zwar kann auch bei | |
uns ein Bundespräsident einem Gnadengesuch stattgeben, aber nicht, wenn die | |
Staatsanwaltschaft gerade bekannt gegeben hat, dass sie neu ermittelt. | |
Was bewegt Putin? | |
Putin will seine Macht konsolidieren für sich selbst und seine | |
Nomenklatura, das sind die versammelte Ex-KGB-Genossen aus der St. | |
Petersburger Datschen-Siedlung, die derzeit in Amt und Würden sind. Er ist | |
der Pate, der für die Sicherheit und natürlich auch das Einkommen dieser | |
Menschen sorgen muss. Sein politischer Plan ist die Wiedererrichtung des | |
russischen Imperiums, wie es sich im Verhältnis zur Ukraine besonders | |
zeigt. | |
Dennoch ist er empfänglich für internationalen Druck. | |
In wenigen Wochen findet das große olympische Festival in Sotschi statt. | |
Die internationale Präsenz begann zu bröckeln. | |
Dazu trug auch die Haltung von Joachim Gauck bei. | |
Sicherlich, Gauck hat erklärt, dass er sich nicht auf die Tribüne neben | |
einen solchen diktatorischen Herrscher begeben will. | |
Wenn man sich die Biografie von Chodorkowski anschaut, dann kann man sagen: | |
zwei Machtmenschen, einer hat verloren. | |
Unter Machtgesichtspunkten ist das vielleicht richtig. Zeitzeugen erzählen, | |
dass Chodorkowski in den turbulenten 1990er Jahren einerseits brillant, | |
aber auch hart verpackt war. Es gab damals viele rechtsfreie Räume, die | |
auch Chodorkowski genutzt hat. In den Gegensatz zu Putin hat ihn aber | |
gebracht, dass er das marode Wirtschaftsunternehmen nach westlichen | |
Kriterien modernisieren wollte. Als eine unternehmerische Verbindung zum | |
Westen anstand und Chodorkowski gleichzeitig als Unterstützer | |
demokratischer Strömungen agierte, da hat Putin zugeschlagen. | |
Wie kommt es, dass ausgerechnet der fast vergessene alte Außenminister | |
Hans-Dietrich Genscher jetzt eine wichtige Rolle bei den Verhandlungen mit | |
Putin spielen konnte? | |
Hans-Dietrich Genscher hat durch seine Biografie und sein hohes Alter eine | |
gewisse Autorität. Er war als Vermittler eine kluge Wahl. | |
Genscher gilt in Russland nicht als einer, der durch sein diplomatisches | |
Geschick zum Zerfall des Sowjet-Imperiums beigetragen hat? | |
Das ist, wenn man in Russland nachfragt, der bei uns so hoch geschätzte | |
Gorbatschow. | |
23 Dec 2013 | |
## AUTOREN | |
Klaus Wolschner | |
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