# taz.de -- Türkisch-armenische Kurzgeschichte: Das Wiegenlied | |
> Arev bricht das 100-jährige Schweigen über Armenien – während einer | |
> Castingshow im türkischen Fernsehen. Eine Kurzgeschichte. | |
Bild: So laut sie konnte, rief sie: „Armenisch!“ - Ein paar Leute vor den B… | |
„Gott, zeige mir dein Angesicht“, flehte sie und hob die Augen. Ihr Blick | |
stieß gegen die Stahlkonstruktion an der Studiodecke, sie sah einen Haufen | |
Kabel. Selbst wenn Gott eines Tages sein Angesicht zeigen sollte, dies war | |
offensichtlich nicht der Moment. | |
Es ging unglaublich hektisch zu. Mit Stapeln von Papieren im Arm eilten | |
junge Frauen auf hohen Absätzen hierhin und dorthin. Junge Männer mit | |
Funkgeräten erteilten Anweisungen. Überall verliefen Kabel. Arev senkte den | |
Blick. Auf dem Boden erblickte sie eine Ameise. | |
Arev. Das war der Name, den ihr die Großmutter ins Ohr geflüstert hatte. | |
Arev bedeutete Sonne: Günes. | |
## Geheimnis | |
„Sprich zu niemandem davon“, hatte die Großmutter gesagt. „Das ist unser | |
Geheimnis. Die Leute sollen dich als Günes kennen.“ Seither bewahrte sie | |
den Namen Arev im Herzen. Dachte sie daran, beschleunigte sich ihr | |
Herzschlag. Gleich würde man sie rufen. | |
Ein Zauberkünstler stand auf der Bühne. Er trieb Nägel in sein Fleisch. | |
Nagel um Nagel versenkte er in seiner Hand. | |
„Autsch!“, rief der erste Juror. „Entsetzlich!“ | |
Die Zuschauer im Studio stießen vor Verblüffung spitze Schreie aus. Unruhig | |
rutschten sie auf ihren Plätzen hin und her. Selbst die Studiomitarbeiter | |
ließen Arbeit Arbeit sein und wandten die Blicke dem Mann auf der Bühne zu. | |
Jetzt zeigte der Magier die mit Nägeln übersäte Hand vor. Auf seinen Lippen | |
lag ein zufriedenes Lächeln. Das Fernsehen übertrug die Szene ins ganze | |
Land. Vor den Bildschirmen hielten die Leute den Atem an. | |
## Jubel | |
Als der Zauberkünstler sich die Aufmerksamkeit aller gesichert hatte, | |
schloss er bedächtig die rechte Hand zur Faust. Was musste er für Schmerzen | |
leiden! Die Leute kreischten. Die Bildschirme zeigten die nagelgespickte | |
Faust in Großaufnahme. Der Mann lächelte noch immer. Elegant zog er mit der | |
linken Hand ein rotes Satin-Tüchlein aus der Tasche, legte es über die | |
vernagelte Faust, riss es aber schon in der nächsten Sekunde wieder | |
herunter. Die Nägel waren in eine weiße Taube verwandelt. Aufgeregt | |
sprangen die Zuschauer auf. | |
„Super!“, jubelte die zweite Jurorin und ließ ihr Haar schwingen. | |
„Fantastisch!“ | |
„Bravo!“, rief Juror Nummer drei. „Unglaubliche Nummer!“ | |
Die Taube drehte eine Runde durch den Saal und landete auf der Schulter des | |
Zauberkünstlers. Mit großer Geste verbeugten sich beide. Das Publikum im | |
Studio applaudierte begeistert. Die Jury schritt zur Abstimmung. Die | |
Spannung stieg. | |
Dreimal ja. Dem Künstler hüpfte das Herz vor Freude. Nun war sicher, dass | |
er im Finale dabei sein würde. Er sprang von der Bühne, umarmte seine | |
Mutter, die ihn in den Kulissen erwartete, und weinte wie ein Kind. Der | |
Zauber war gebrochen! | |
## Nicht weinen | |
„Du darfst nicht weinen“, hatte die Großmutter zu Arev gesagt, als sie noch | |
klein war. „Wir haben unser Leben lang genug geweint. Unsere Tränen sind | |
versiegt. Selbst bei der Beerdigung deines Großvaters habe ich nicht eine | |
Träne vergossen. Wenn du eines Tages weinst, dann soll es um der Liebe | |
willen sein. Weine nur um den, den du liebst, mein Schatz.“ So sprach sie | |
und setzte dann die alten Lippen zum Kuss auf Arevs Augen. | |
Ihr Leben lang hatte Arev nach einer Liebe gesucht, um deretwillen sich zu | |
weinen gelohnt hätte. Vergebens. Vielleicht hätte sie lieben können, wenn | |
sie ihren Namen vergaß. Das im Herzen gehütete Geheimnis war stärker als | |
alle Möglichkeiten der Liebe. Arev brachte ihr Leben damit zu, im Dunkeln | |
nach ihrem Weg zu tasten. | |
Ein Hund bellte. Applaus brandete auf. Ein seltsames Paar tanzte da gerade | |
auf der Bühne: Ein Mann und ein Hund. Sie tanzten Tango. Lang, lang … | |
Wiegeschritt … rück seit… beugen … wieder von vorn, drei Schritt vor …… | |
hübsch! Mit seinem Hut und der auf Falte gebügelten Hose wirkte der Mann | |
wie ein spanischer Tänzer. Der Hund steckte in einem Flamenco-Kostüm mit | |
Stufenröckchen. | |
## Tanz | |
## | |
Eine neue Melodie erklang, der Mann zog mit Schwung dem Hund das Kostüm vom | |
Leib. Den Hut auf dem eigenen Kopf rückte er vor wie Michael Jackson. Sie | |
tanzten zu „Billie Jean“. Der Mann legte den Moonwalk hin, der Hund | |
tänzelte rückwärts. Im selben Rhythmus drehten sie die Köpfe nach links und | |
rechts. Da schleuderte der Mann den Hut von sich. Nun ertönte eine | |
orientalische Melodie. Sie führten einen Bauchtanz vor. | |
Die Musik verstummte. Verbeugung. Applaus … Der Mann stellte den Hund vor: | |
Das ist Lady. Der erste Juror überschüttete Lady und ihr Herrchen mit Lob. | |
Man fragte nach der Rasse des Hundes. Arev stellte sich vor, man richte | |
diese Frage an sie. | |
Juror Nummer drei fand die Vorstellung „unbefriedigend“. Kaum hatte er das | |
verkündet, fing das Publikum zu murren an. | |
Die Abstimmung lief. Der erste Juror sagte ja, der dritte nein. Das Urteil | |
der zweiten Jurorin ließ auf sich warten. Die Musik wurde lauter, die | |
Spannung stieg. Und … da kam das zweite Ja. Jaaa!!! Großer Applaus. Lady | |
stand im Finale. Vielleicht würde sie sich als das größte Talent der Türkei | |
erweisen. Fantastisch! Ein Hund! So sollte es sein! | |
## Bauchschmerzen | |
Arev hatte Bauchschmerzen. Ein sonderbares Ziehen stieg ihr vom Magen zum | |
Herzen auf. Sie hätte gern einen Schluck Wasser getrunken, war aber | |
außerstande, aufzustehen. Sie schluckte. Auf den Fernsehbildschirmen wirkte | |
das Studio riesig, nie hätte sie gedacht, dass es so klein war. Die Luft | |
war stickig hier. | |
Die Hitze der Scheinwerfer, der Atem von ein paar hundert Menschen, der | |
Schweiß der hektischen Mitarbeiter machten das Atmen schwer. Plötzlich | |
fürchtete sie, ohnmächtig zu werden. Das wäre ein Skandal. Die | |
Programmmacher liebten so etwas, und die Zuschauer auch. Wieder und wieder | |
würde über die Bildschirme flimmern, wie die Kandidatin in Ohnmacht fiel. | |
Die anderen Kandidaten wirkten munter. Ein Jongleur warf unablässig bunte | |
Bälle in die Luft und fing sie wieder auf. Ein blutjunger Kandidat, dem man | |
Schnurrbart und starke Brauen ins Gesicht gemalt hatte, beobachtete ihn | |
voller Bewunderung. Fuchtig zog die Mutter den Sohn beiseite und ließ ihn | |
herunterbeten, was er auswendig gelernt hatte. Eine Sängerin gab ungelenke | |
Töne von sich, vorgeblich, um die Stimme aufzuwecken. | |
## Gedächtnis | |
Auf einmal strich Arev ein Schwall frischer Luft durchs Gesicht. Jemand | |
hatte die Tür geöffnet. Sie warf einen Blick nach draußen. Ein Baum stand | |
da, eine Akazie. Wie gern wäre sie durch die Tür gegangen. Hinaus und auf | |
und davon … Einfach verschwinden! | |
Sie konnte nicht hinaus, sie vergrub sich wieder in sich selbst. | |
Ist das Gedächtnis imstande, die Grenzen des Körpers zu überwinden? Wie | |
gibt man uneingestandene Wahrheiten weiter? Wie schwer lastet die Bürde | |
uralter Geheimnisse auf den Schultern eines Menschen? Bleiben Sündentaten | |
über hundert Jahre hinweg lebendig? Wer zahlt den Preis dafür? | |
Günes! | |
Günes Demirci. Arev begriff, dass sie an der Reihe war. Ein junges Mädchen | |
trat mit Schminkutensilien zu ihr und puderte ihr hektisch das Gesicht. | |
Dann ordnete sie ihr das Haar. Sie sah sie an, ohne ihr in die Augen zu | |
schauen. Dann war sie schon wieder weg. Ein junger Mann legte ihr kurz die | |
Hand auf die Schulter: „Du bist dran. Keine Panik, du kriegst das schon | |
hin.“ | |
## Scheinwerferlicht | |
Der Moment freundlicher Anteilnahme tat Arev gut. Wahrscheinlich munterte | |
der Mitarbeiter alle mit denselben Worten auf, dennoch hatten seine Worte | |
Arev Mut gemacht. Sie stand auf und ging Richtung Bühne. Wie immer tastete | |
sie im Dunkeln nach ihrem Weg. | |
In der Mitte der Bühne blieb sie stehen. Die Scheinwerfer blendeten sie. | |
Stimmen drangen an ihr Ohr, doch Arev war nicht aufnahmefähig, sie verstand | |
die Wörter nicht. Unwirkliche Stille herrschte im Studio. Ein Ende dieser | |
Stille reichte einhundert Jahre zurück. | |
## Das Lied | |
Arev hatte ein Lied vorbereitet. Sie wollte singen, ganz ohne | |
Instrumentalbegleitung, nur mit der Stimme, die ihr aus dem Herzen kam. Sie | |
versuchte sich des Textes zu entsinnen, sich die Melodie ins Gedächtnis zu | |
rufen … Nichts. Nur Dunkel! | |
Da hörte sie ein Wispern aus dem Dunkeln, eine zarte, süße Stimme … | |
Bar bar genem, bar genem | |
Gaban gidrem shar genem | |
Es yavruyis arevun | |
Chift khochi khurban genem | |
Arev kam das Wiegenlied über die Lippen, das ihr die Großmutter ins Ohr | |
gesummt hatte, als sie noch ein kleines Mädchen war. | |
Als das Wiegenlied verklang, öffnete sie die Augen. Sie war wieder ein | |
kleines Mädchen. Die Juroren, das Publikum im Studio, die Zuschauer vor den | |
Bildschirmen zu Hause, alle staunten. | |
Der erste Juror meinte: „Hm, interessant, welche Sprache war das?“ | |
„Klingt nach einer Balkansprache“, überlegte die zweite Jurorin laut, | |
„vielleicht Mazedonisch?“ | |
## Und die Sprache | |
Juror Nummer drei erteilte ihr eine Abfuhr: „Unsinn!“, sagte er. „Das ist | |
Hebräisch. Stammst du aus Israel oder so?“ | |
„Nein“, sagte Arev. „Ich bin hier geboren. In der Türkei.“ | |
„Dann verrat uns doch einmal, welche Sprache das war“, drängte der erste | |
Juror. | |
„Schweig still!“, flüsterte die Großmutter in Arevs Ohr. „Um Gottes wil… | |
sag kein Wort, dreh dich um und geh, sofort!“ | |
Zum ersten Mal hörte Arev nicht auf diese Stimme. So laut sie konnte, rief | |
sie: „Armenisch!“ | |
Die Juroren waren pikiert, versuchten das aber zu überspielen. Ein paar | |
Leute vor den Bildschirmen hielten den Atem an. | |
„Wie war noch dein Name?“, fragte der erste Juror nach, leicht verstimmt. | |
„Günes“, wisperte die Großmutter. „Du heißt Günes. Sag allen, dass du… | |
heißt.“ | |
Sie aber antwortete: „Arev!“ | |
A-r-e-v … Mit jedem Buchstaben verzogen sich die Wolken ein Stückchen | |
weiter. Plötzlich glaubte sie das Angesicht Gottes zu erblicken. Sie | |
lächelte. Genau wie der Zauberkünstler verbeugte sie sich mit übertriebener | |
Geste vor der Jury, vor dem Publikum und vor den Zuschauern zu Hause. Ohne | |
auf die Abstimmung zu warten, lief sie durch die Tür, die zur Akazie | |
hinausführte, und war auf und davon. | |
2 Jan 2014 | |
## AUTOREN | |
Gaye Boralioglu | |
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