# taz.de -- Gewässer im Norden: Alles fließt | |
> Die mesiten Flüsse wurden vom Menschen gewaltig verwandelt und die | |
> Landschaft gleich mit. Da wurde begradigt, kanalisiert und reguliert. | |
> Heute macht man’s anders. An manchem Ort wird „renaturiert“. | |
Bild: Alter Kanal: Die Obertrave und die alten Salzspeicher vor dem Holstentor … | |
Theodor Storm liebte den weiten Blick aus seinem Arbeitszimmer. Von dort | |
schaute der Dichter auf „das sonnige weithin unter mir ausgebreitete Land | |
hinaus“. In Briefen an den späteren Literaturnobelpreisträger Paul Heyse | |
oder den Schriftsteller Gottfried Keller in Zürich schwärmte Storm von „dem | |
prächtig überschwemmten Tal der Gieselau“ und den wilden Schwänen, die den | |
zeitweiligen „See“ besuchten. | |
Der Naturliebhaber verbrachte die letzten Jahre auf seinem Alterssitz in | |
Hanerau-Hademarschen, einem idyllischen Örtchen auf dem Geestrücken | |
irgendwo zwischen Itzehoe und Heide. Doch von Natur im engen Sinne des | |
Wortes konnte schon Ende des 19. Jahrhunderts im norddeutschen Land keine | |
Rede mehr sein. | |
Das Landschaftsbild wurde wie überall in Europa von Menschenhand | |
umgewandelt. Da ist die Landgewinnung an der Nordseeküste – der erste Kog | |
vor Dithmarschen wurde bereits um 1300 dem Meer abgerungen. Da sind die | |
Abholzungen auf der Geest, Eindeichungen, Begradigungen und Verlegung von | |
Wasserstraßen. „Die Geschichte von Flüssen ist nicht zuletzt eine | |
Geschichte des Versuches, das Wasser durch Menschenhand zu zähmen“, | |
schreiben Norbert Fischer und Ortwin Pelc in ihrem neuen Buch „Flüsse in | |
Norddeutschland“. | |
Fischer ist Kulturwissenschaftler an der Uni Hamburg, Pelc forscht im | |
Museum für Hamburgische Geschichte. Die Flussläufe wurden schon vor der | |
Blütezeit der europäischen Kaufmannsunion „Hanse“ verlegt und kanalisiert, | |
durch Staustufen und Schleusen reguliert, die laufend versandenden | |
Fahrrinnen frei gebaggert und Ufer mit ihren Tälern trockengelegt. Die | |
kultivierten Flüsse dienten Handel und Schifffahrt, wurden ausgenutzt für | |
Ansiedlung und militärischen Schutz, als Nahrungs- und Energiequelle, | |
trieben Getreidemühlen und Ledergerber an. Außerdem sollten Mensch, Tier | |
und Felder durch Deiche und Sperrwerke vor Sturmfluten geschützt werden. | |
## Malaria besiegt | |
Ein auch international bekanntes Beispiel für eine frühe Kultivierung ist | |
der Stecknitzkanal mit seinen ein Dutzend Schleusen. Der Kanal wurde in den | |
Jahren 1392 bis 1398 gegraben und verband die Handelsmetropole Lübeck an | |
der Trave mit Elbe und Nordsee. Der erste Kanal in Europa, der eine | |
Wasserscheide überwand. Doch die Flüsse Stecknitz und Delvenau mussten | |
dafür aus ihren alten Verläufen weichen. Als beeindruckendes Denkmal dieser | |
historischen Ingenieurleistung blieb uns die Palmschleuse bei Lauenburg | |
erhalten. | |
Der Stecknitzkanal war nur der Anfang. In der Neuzeit stieg das Interesse | |
an einer technisch-wirtschaftlichen Nutzung des Wassers „immer stärker an“, | |
so Fischer und Pelc. Und das ging man aufgeklärt optimistisch an: Die | |
Zähmung der Flüsse und der Bau von Kanälen zeige die fortschreitende | |
Entwicklung der Zivilisation, analysierte im 19. Jahrhundert der | |
Nationalökonom Friedrich List, der als Gegner des bedingungslosen | |
Freihandels besonders im heutigen China und anderen Schwellenländern eine | |
Renaissance erfährt. | |
Pioniere waren England und Frankreich, aber auch Deutschlands späterer | |
wirtschaftlicher Aufstieg hängt eng mit der Domestizierung der Flüsse und | |
mit der Nutzung des Wassers als Energiequelle zusammen. Das Buch „Flüsse in | |
Norddeutschland“ ist insofern eine Fortschreibung des Meisterwerkes „Die | |
Eroberung der Natur“. | |
Der Brite David Blackbourn beschreibt darin das Wirken des badischen | |
Baumeisters Johann Gottfried Tulla, der ab 1817 die „Korrektur“ des Rheins | |
leitete. Danach war der Fluss durchgängig schiffbar, das einst sumpfige | |
Stromtal wurde landwirtschaftlich genutzt und die Malaria und deren Erreger | |
waren besiegt. | |
Storms Blick aus dessen Arbeitszimmer glitt noch in seinem Todesjahr 1888 | |
über Wiesen und Felder bis zur Gieselau hin. Die Gieselau, kaum mehr als | |
ein Bächchen, mag hier seit der letzten Eiszeit geflossen sein. Doch | |
Bachlauf und Landschaft hatten sich längst durch Menschenhand verwandelt: | |
Die dichten Wälder waren gerodet, Moore und Sümpfe trockengelegt, Heide | |
brandgerodet worden, um Lebensraum für Nutzpflanzen, Tier und Mensch zu | |
schaffen. | |
Die Gieselau floss nördlich in die Eider, letztere ein besonders markantes | |
Beispiel für das Menschenwerk „Flusslandschaft“: Die Eider wurde immer | |
weiter gen Norden verschoben, die Gieselau von ihrer ursprünglichen Mündung | |
in die Eider abgeschnitten. | |
## Seide und Gewürze | |
Pläne, die Kimbrische Halbinsel weit im Süden auf dem Wasserweg zu queren, | |
entstanden im Mittelalter. Ursprünglich fuhren Schiffe aus der Nordsee | |
kommend über Eider und Treene bis Hollingstedt, wo 16 Kilometer Land | |
überbrückt werden mussten, um das Welthandelszentrum Haithabu zu erreichen. | |
Dorthin brachten Kaufleute über Schlei und Ostsee Bernstein aus Russland, | |
Seide aus Kasachstan und Gewürze aus Indien. | |
Mit dem Bau größerer, seegängiger Schiffe und dem Aufstieg von Lübeck, | |
Hamburg und der Hanse verlor die Eider jedoch an Bedeutung. Bis 1784 der | |
dänische Eider-Kanal über sechs Schleusen die Kieler Förde mit dem | |
ausgebaggerten und vertieften Flusslauf der Untereider bei Rendsburg | |
verband. König Christian VII. und seine Regierung in Kopenhagen hofften, in | |
die strukturschwache Region Handel und Wandel zu locken. | |
Das gelang wohl nur mäßig. Storms späterer Alterssitz Hanerau-Hademarschen | |
erlebte jedenfalls nur eine kurze Phase der versuchten Industrialisierung. | |
Immerhin wurde noch arbeitsintensiv getreidelt: Das Rendsburger Wochenblatt | |
berichtet über die Kanaleröffnung: „Jedes Schiff, ca. 3,1 m tief beladen, | |
wurde von 4 Pferden gezogen; das Paketboot war 23 m lang. Des Gegenwindes | |
wegen konnte das Schiff nur langsam vorwärts gebracht werden. Das | |
Schiffstau, woran die Pferde zogen, riß öfters in Stücken.“ Schon die | |
Probefahrt misslang gründlich. Viele wirtschaftliche Hoffnungen platzten. | |
Zu eng und windungsreich waren Kanal und Eider. | |
## Finanziert durch Sekt | |
Die nächste Verlaufsverschiebung erfuhren Eider und ihr Umland durch den | |
Kaiser-Wilhelm-Kanal. 1895 konnte nach acht Jahren Bauzeit Kaiser Wilhelm | |
II. den nach seinem Großvater benannten, militär-strategisch wichtigen | |
Wasserweg eröffnen. Die erste „Reichswasserstraße“ wurde finanziert durch | |
eine Reichensteuer auf Sekt und Champagner. Aber das ist ein anderes Thema. | |
Immerhin wurde der Nord-Ostsee-Kanal (NOK) wirtschaftlich ein Erfolg. | |
„Flüsse in Norddeutschland“ versammelt zwei Dutzend Aufsätze von | |
Historikern, Museumspädagogen und maritimen Landeskennern. Trotz eines | |
Umfanges von 500 Seiten fehlt mancher Fluss, nicht zuletzt Storms Gieselau. | |
Auch ein engagiertes Lektorat hätte den Lesespaß erhöht. Reich illustriert, | |
ist es ein Lesebuch für Liebhaber und ein Nachschlagewerk für Kenner. | |
Storms Gieselau wurde vom NOK zerschnitten. Weiter nördlich, in | |
Dithmarschen, entstand bei Albersdorf aus den Überbleibseln der kulturell | |
verwandelten „Natur“ ein Naturschutzgebiet. Der Mensch „renaturiert“ se… | |
eigenes Werk und will Fauna, Flora und Habitat, so wie wir sie uns gerne | |
ausmalen, zu ihrem vermeintlichen Recht verhelfen. Doch wusste schon der | |
von Theodor Storm verehrte griechische Philosoph Heraklit: „Alles fließt“. | |
## „Flüsse in Norddeutschland – Zu Ihrer Geschichte vom Mittelalter bis in | |
die Gegenwart“, Hrsg.: Norbert Fischer/Ortwin Pelc; Wachholtz Verlag, | |
Neumünster 2013, 516 Seiten, 32 Euro | |
2 Jan 2014 | |
## AUTOREN | |
Hermannus Pfeiffer | |
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