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# taz.de -- Berlins erste Diamorphin-Praxis: Der reine Stoff
> Heroin ist Teufelszeug. Klar. Und Heroin gibt's jetzt vom Arzt. Alles
> klar? Ja: Für manche Abhängige ist eine kontrollierte Nutzung die
> Rettung.
Bild: Heißt nicht Heroin, ist aber Heroin.
BERLIN taz | Die Venen am Arm sind dicht. Keine Chance, die klare
Flüssigkeit in den ausgemergelten Körper zu drücken. Vielleicht klappt es
an der Wade. Oder auf dem Fußrücken. Seit einigen Minuten schon hantiert
die Frau mit der Spritze.
Im Flur hocken die anderen, die darauf warten, sich ihren Schuss zu setzen.
Wirklich eilig hat es aber keiner, schließlich ist genug Stoff da. Und was
für einer: In der ersten Diamorphin-Ambulanz Berlins gibt medizinisches
Fachpersonal allerreinstes Heroin aus, wie man es seit Ewigkeiten nicht
mehr auf der Straße bekommt. Heroin auf Rezept.
Erst seit einem knappen halben Jahr gibt es die Ambulanz im Wedding.
Heroinabhängige bekommen hier Tag für Tag ihre Droge als Kassenleistung. So
viel, wie sie brauchen, so lange, wie es nötig ist. Warum? "Weil sie darauf
angewiesen sind", sagt Thomas Peschel, der behandelnde Arzt.
Schon über dreißig Jahre lang kämpfen die Berliner Behörden einen
Stellungskampf gegen die Heroinszene. Die Zahl der Süchtigen ist nach
offiziellen Statistiken seit Ende der Siebziger nicht mehr gesunken.
Aktuell kommen auf geschätzte 9.000 Abhängige 5.000 Therapieangebote - in
Selbsthilfeeinrichtungen, Entzugskliniken oder Substitutionsprogrammen. Und
doch kann sich am Kottbusser Tor jeder die offene Szene anschauen, die von
keinem dieser Angebote erreicht wird - oder die der Suchtdruck trotzdem
hertreibt.
## Ein sehr langer Weg
Der Weg bis zur ärztlichen Vergabe von Heroin ist lang gewesen. Dabei wird
schon Ende der siebziger Jahre deutlich, dass der Zwang zur Abstinenz nicht
die einzige Form des Umgangs mit Abhängigen sein kann. Zu viele fallen
immer wieder zurück in die Szene, die nur aus Kriminalität, Prostitution,
seelischer und körperlicher Verwahrlosung zu bestehen scheint und damals am
Bahnhof Zoo ihr sichtbarstes Epizentrum hat.
Einer ersten Studie von 1978 zufolge gibt es rund 7.000 Heroinabhängige in
Berlin. Eine ganze Generation Jugendlicher scheint verloren an die
Teufelsdroge mit dem sagenumwobenen Kick. Die Politik steht unter einem
Druck, der nicht in erster Linie mit Moral oder Mitgefühl zu tun hat.
Sondern ab Mitte der Achtziger vor allem mit der Angst, dass sich das
HI-Virus über die Beschaffungsprostitution der Junkies in der
"Normalbevölkerung" ausbreitet.
Deshalb schafft es Methadon als Ersatzstoff in die Arztpraxen. Wie Heroin
ist es ein Opiat, aber es wirkt wesentlich langsamer und vor allem gegen
die körperlichen Entzugserscheinungen. Seit rund 25 Jahren wird es zur
Substitution verwendet, es hat vielen beim Absprung aus der Szene geholfen.
Aber auch Methadon macht abhängig, und es stumpft auf Dauer ab. Vor allem
hilft es vielen nicht gegen den Suchtdruck, die psychische Abhängigkeit von
Heroin. Deshalb treibt es Schwerstabhängige weiter auf die Straße, nicht
selten verticken sie einen Teil ihres Methadons für Heroin.
Eine zweite Studie aus dem Jahr 1993 schätzt die Zahl der Berliner
Heroinabhängigen auf rund 8.000. Noch einmal zwanzig Jahre später werden es
eher mehr als weniger sein, die meisten davon seit über zehn Jahren
abhängig.
Trotz Substitution bleibt die Beschaffungskriminalität ein
sicherheitspolitisches und finanzielles Problem, das schließlich zum Bruch
eines jahrzehntelangen Tabus führt: Eine illegalisierte Substanz soll im
Rahmen des staatlichen Gesundheitssystems abgegeben werden.
Im Jahr 2002 startet in sieben deutschen Städten eine Studie: 1.300
Süchtige nehmen daran teil, in Spezialambulanzen erhalten sie entweder
Heroin oder Methadon. Berlin, das neben Hamburg die größte Heroinszene
Deutschlands hat, ist nicht unter den Modellstandorten. 2006 liegen die
Ergebnisse vor und sprechen klar für das Heroin: Die Teilnehmer nehmen
deutlich weniger andere Drogen, werden kaum mehr straffällig. 2009 gibt der
Bundestag grünes Licht für die heroingestützte Behandlung, seit Oktober
2010 ist sie - unter strengen Auflagen - Leistung der gesetzlichen Kassen.
Es soll noch einmal drei Jahre dauern, bis Thomas Peschel, vorher Leiter
der Hannoveraner Modellambulanz, die erste Praxis in der Hauptstadt
eröffnet.
## Eine Praxis namens "Heimat"
"Ja, das ist Heroin." Peschel steht im Vergaberaum seiner Ambulanz.
Kariertes Markenhemd in der Jeans, Lederschuhe. In der Hand hält der Arzt
eine Flasche mit klarer Flüssigkeit. "Ich sage aber lieber Diamorphin, das
ist der chemische Name. Heroin ist mit so vielen negativen Assoziationen
belegt."
Die Fixer heißen in der Diamorphinambulanz Patienten, einmal im Quartal
müssen sie ihre Versicherungskarte einlesen lassen. Der Raum hinter der
Glasscheibe, durch die ein Pfleger die aufgezogenen Spritzen reicht, wird
Applikationsraum genannt. Hier stehen namentlich gekennzeichnete Schalen,
darin Desinfektionsmittel, Stauschlauch und Pflaster. Manche haben bunte
Aufkleber auf ihr Schälchen geklebt. Einige Minuten braucht jeder im
Applikationsraum - je nachdem, wie gut die Venen sind. In der Ambulanz aber
verbringen die meisten Stunden. "Patrida" steht auf dem Praxisschild. Das
ist Griechisch für "Heimat".
"Die Atmosphäre ist Teil des Behandlungskonzepts", erklärt Peschel. Der
Aufenthaltsraum ist das Herzstück der Ambulanz. Hier sind die Wände
pastellfarben, im Fenster stehen Orchideen in pinkfarbenen Töpfen und ein
Schachspiel. Die Patienten haben Bücher und Zeitschriften mitgebracht. Im
Radio laufen Songs aus den Achtzigern, und in der Küche steht eine
Thermoskanne mit Tee. "Bitte so lieb sein und Geschirr abräumen", hat
jemand mit der Hand auf ein Schild geschrieben, die i-Punkte sind kleine
Herzen.
Zurückgelehnt in einem der Schwingsessel sitzt Luis*, die Augen halb
geschlossen. Das Gesicht des 36-Jährigen ist eingefallen. Er spricht
undeutlich, seine Zahnprothese hat er nach einem Druck in einer
City-Toilette liegen gelassen. Luis nimmt seit 20 Jahren Drogen. Als er vor
knapp drei Wochen zum Aufnahmegespräch kam, hatte er zwei Monate nicht
geduscht, lebte seit acht Jahren auf der Straße und brauchte täglich bis zu
200 Euro für Heroin. Jetzt sind das dunkle Haar und der Bart sorgfältig
gestutzt, er trägt einen grauen Sweater zur Jeans. "Ich habe nur darauf
gewartet, dass sie hier aufmachen", sagt er, "ich wollte schon lange raus
aus der Szene." Im Moment sei er die meiste Zeit "einfach nur hier", um
sich auszuruhen. Seit Beginn der Behandlung habe er keine Straftat mehr
begangen.
## Weniger toxisch als Alkohol
53 Patienten behandeln Peschel und seine Kollegen täglich mit Diamorphin,
jede Woche kommen zwei neue dazu. Die Ambulanz ist zwölf Stunden geöffnet,
jeden Tag. Auch am Wochenende, auch an Weihnachten. Die meisten kommen
zweimal am Tag, morgens und abends. "Aber gerade am Anfang bleiben die
Patienten den ganzen Tag hier, die haben ja draußen sonst nur die Szene",
sagt Peschel.
Wer aufgenommen werden will, muss mindestens 23 sein, seit fünf oder mehr
Jahren an der Nadel hängen, zwei Therapien erfolglos abgebrochen und sechs
Monate mit Methadon oder einem anderen Stoff substituiert haben, außerdem
unter körperlichen und seelischen Schäden leiden. Die körperliche Seite ist
das eine: Viele der Patienten sind mit Hepatitis oder HIV infiziert, haben
offene Wunden und Entzündungen, sind anfangs ausgemergelt und ungepflegt.
"Aber das ist nicht das Heroin", sagt Peschel. Heroin selbst sei viel
weniger toxisch als Alkohol oder Nikotin. Aber der Stoff von der Straße
enthalte nur 5 bis 7 Prozent Heroin - der Rest seien Streckmittel wie
Backpulver oder Paracetamol. Dazu kommen unsterile Spritzen - und der
Beschaffungsdruck, die Kriminalisierung.
"Alles, was ich jetzt erreicht habe, wäre vor drei Monaten nicht möglich
gewesen, so krank wie ich war." Andreas* sitzt in der Raucherkabine. Die
braunen Haare hat der 39-Jährige zum Zopf gebunden, eine dicke Silberkette
baumelt über dem gelben Sweatshirt. Hände und Arme sind voller Tattoos.
Andreas spritzt seit 26 Jahren Heroin, er hat insgesamt 15 Jahre im
Gefängnis verbracht. "Normalerweise wäre ich raus aus dem Knast, meine
Klamotten in ein Schließfach und dann los, Dope besorgen", sagt er.
Stattdessen geht er jetzt in den Applikationsraum und injiziert sich seine
Abendration. Dann muss er noch mal zur Arbeit: Seit ein paar Wochen hat er
einen Minijob. Und vergangene Woche konnte er den Mietvertrag für die erste
eigene Wohnung seit Jahren unterschreiben. "Das ist schon ein besonders
glücklicher Fall", meint Peschel. Aber alle seiner Patienten würden
gesünder, achteten mehr auf sich, interessierten sich wieder für das Leben.
"Ich habe noch nie eine Therapie erlebt, die so effektiv ist", sagt der
Arzt zu seiner eigenen Motivation. Kein einziger Patient habe die
Behandlung abgebrochen.
Da machen sich ein paar Süchtige auf Staatskosten ein berauschtes Leben -
solche Vorbehalte kennt auch Peschel. "Die Patienten, die zu mir kommen,
nehmen Heroin nicht, weil es so kickt", sagt er. Das sei nur bei seelisch
gesunden Menschen so, anderen helfe die Droge erst einmal auf ein "normales
Level". Deshalb spricht der Psychiater Peschel auch nicht von Abhängigen,
sondern davon, dass seine Patienten aufgrund massiver psychischer
Vorschädigungen auf Diamorphin angewiesen sind. Bei ihrem Heroinkonsum
handelt es sich quasi um eine Selbstmedikation.
## Hysterisch gegenüber Opiaten
Dass die Sucht immer psychische Ursachen hat, davon ist auch Chaim Jellinek
überzeugt. "Bei uns landen die mit der schwersten Kindheit", sagt der
Allgemeinmediziner, der seit fast 20 Jahren in der Substitutionsbehandlung
arbeitet und seit 2000 eine Praxis in Neukölln betreibt. Ein bäriger Typ,
langer, weißer Bart und Schiebermütze. 250 Patienten kommen täglich, um
sich ihr Methadon zu holen: Tabletten, die durch ein Fenster am Tresen
gereicht und sofort hinuntergespült werden müssen. Bei Jellinek stranden
die desolatesten Fälle - Süchtige, die aus anderen Therapien rausgeflogen
sind, wegen Gewaltandrohung oder fortgesetzten Konsums. Auch die Hälfte
seiner Patienten kommt mit Methadon allein nicht aus.
"Es gibt nicht die eine richtige Therapie", sagt Jellinek. Die Diskussion
sei viel zu substanzbezogen, die Politiker seien "zu hysterisch gegenüber
Opiaten". Dass trotz der hohen Sicherheitshürden und des Imageproblems
jemand den Mut gehabt hat, in Berlin eine Ambulanz zur heroingestützten
Behandlung aufzumachen, sei ein wichtiger Schritt, um jedem Patienten
anbieten zu können, was er braucht. "Mit Peschel halte ich Berlin für den
Ort, der sich die meiste Mühe gibt, mit Spritzdrogenabhängigen würdig
umzugehen", sagt Jellinek.
Zwei neue Patienten nimmt Peschel zurzeit pro Woche auf. Die Warteliste ist
bis Sommer gefüllt und die Kapazität der Ambulanz damit fast erschöpft.
"Viel mehr als hundert Patienten können wir nicht behandeln", sagt Peschel.
Die Landesdrogenbeauftragte schätzt den Bedarf auf bis zu 300 Patienten.
Aber bevor eine neue Praxis zugelassen wird, wollen die Politiker erst
einmal die Evaluierung durch die Charité und die tatsächlichen Auswirkungen
der Diamorphinambulanz abwarten.
Am Ende kann auch hier finanzpolitischer Druck zu Behandlungsgerechtigkeit
führen: Rund 40 Euro kostet die Behandlung mit Heroin täglich. Ein Tag in
einem Berliner Gefängnis kostet den Staat mehr als 130 Euro.
*Namen aller Patienten geändert
29 Jan 2014
## AUTOREN
Manuela Heim
## TAGS
Heroin
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