| # taz.de -- Antje Kosemund über die Ermordung ihrer Schwester: „Ich sehe die… | |
| > Am Anfang standen Zweifel am Totenschein des kleinen Mädchens. Dann | |
| > zeigte sich: Irma war Opfer nationalsozialistischer „Euthanasie“. | |
| Bild: "Wenn es heute passiert wäre, könnte Irma in einer betreuten Wohngruppe… | |
| taz: Frau Kosemund, wie oft wurde in der Familie noch von Ihrer Schwester | |
| Irma gesprochen, nachdem sie weggebracht worden war? | |
| Antje Kosemund: Selten. Wir waren eine große Familie, meine Mutter ist | |
| schon 1941 gestorben, und nach Irma waren noch fünf Kinder geboren. Meine | |
| Mutter hatte immer Babys und war immer krank. Das ist etwas, was mich bei | |
| meinen Nachforschungen später sehr belastet hat: Irma ist vergessen worden | |
| in der Familie. Man darf auch die Zeit nicht vergessen, wir waren in großen | |
| wirtschaftlichen Schwierigkeiten. | |
| Wie hat Ihre Familie gelebt? | |
| Mein Vater ist 1933 von der Staatspolizei in Haft genommen worden, nach | |
| einer nächtlichen Hausdurchsuchung, das ist eine meiner ersten Erinnerungen | |
| als Kleinkind, ich war viereinhalb Jahre alt. Er war Mitglied des | |
| antifaschistischen Kampfbundes und ist während der Haftzeit aus seinem | |
| Beruf entlassen worden. Er hatte fast drei Jahre praktisch Berufsverbot und | |
| das bei neun Kindern. | |
| Was sind Ihre Erinnerungen an Irma? | |
| Sie war fünfzehn Monate jünger als ich. Trotz der Armut wurde in unserer | |
| Familie viel musiziert und ich sehe dieses Kind im Bettchen sitzen und mit | |
| ihrer Hand den Takt schlagen. Soweit ich das beurteilen kann, hat sie sich | |
| in der Familie wohlgefühlt, sie wurde hauptsächlich von meiner | |
| zweitältesten Schwester betreut, die damals zwölf Jahre alt war. Ich habe | |
| im Laufe meiner Nachforschungen die ganzen Unterlagen von der damaligen | |
| Familienfürsorge bekommen und daraus habe ich ersehen können, dass eine | |
| Nachbarin uns denunziert und gemeldet hat, dass es in unserer Familie ein | |
| Kind gebe, das nicht normal sei. | |
| Konnte man sich wehren? | |
| Das war sehr schwierig. Die Familien wurden sehr unter Druck gesetzt, dazu | |
| kam, dass mein Vater unter Beobachtung der Gestapo stand. Es kam eine | |
| Fürsorgerin und in den Unterlagen stand: Frau Sperling – das war meine | |
| Mutter – weigert sich, das Kind zu zeigen. Das war beim ersten Besuch, also | |
| meine Mutter wusste, was los war. Dann musste meine Mutter wieder mal ins | |
| Krankenhaus, dann kam wieder die Fürsorgerin, dann musste Irma einem | |
| Psychiater vorgestellt werden, der ein furchtbares Gutachten erstellt hat, | |
| in dem nicht einmal ihr Äußeres richtig beschrieben war. | |
| Irma kam Ende 1933 in die evangelischen „Alsterdorfer Anstalten“. War sie | |
| krank? | |
| Ich nehme an – und das bestätigen Ärzte, mit denen ich mich im Laufe der | |
| Jahre unterhalten habe –, dass Irma ein Kind war, das in seiner Entwicklung | |
| zurückgeblieben war. Meine Mutter hatte während der Schwangerschaft eine | |
| Viruserkrankung, und es kann sein, dass Irma dadurch diese Behinderung | |
| hatte. Sie hat spät laufen und sprechen gelernt, ist aber in der Klinik, in | |
| den Alsterdorfer Anstalten, zunehmend auch widerständig gewesen, hat sich | |
| gegen Festhalten gewehrt, dann hieß es, das Kind bekommt Wutanfälle. Ich | |
| denke, wenn es heute passiert wäre, könnte Irma in einer betreuten | |
| Wohngruppe leben und würde auch bestimmte schulische Leistungen erreichen. | |
| Welche Kinder wurden damals in die Kliniken eingewiesen? | |
| Ich habe mit vielen Überlebenden gesprochen, die zum Teil überhaupt nicht | |
| erkrankt waren, sondern aus sozialen Gründen in die Psychiatrie kamen. Das | |
| war etwa das siebte oder zehnte Kind einer sozial schwachen Familie, das | |
| haben sie nicht in ein Kinderheim gebracht, sondern einfach in die | |
| Psychiatrie gesteckt. Ich habe mit einem gesprochen, Wilhelm Roggenthien, | |
| der 20 Jahre in der Psychiatrie war, nie krank, erst da ist er reduziert | |
| worden auf ein niedriges Bildungs- und Wissensniveau. Ein ganz kluger Mann, | |
| dessen Freundin auch nicht krank war, sondern als knapp 16-Jährige ein | |
| uneheliches Kind bekam, wahrscheinlich von dem Mann ihrer Herrschaft, und | |
| dann auch in die Psychiatrie kam. Diese Frau, Walli, ist mit ihrem Kind mit | |
| dem gleichen Transport nach Wien deportiert worden wie Irma, und ihr Freund | |
| Wilhelm ist in Alsterdorf ausgerissen, hat sich nach Wien durchgeschlagen | |
| und seine Freundin aus der Anstalt herausgeholt. | |
| Wann kam Ihnen zum ersten Mal der Gedanke, dass Irma ermordet worden ist? | |
| Das muss 1982 gewesen sein, mein Vater war 87, 88 Jahre alt. Er wollte sein | |
| Haus aufgeben und in eine Senioreneinrichtung ziehen. Dann hat er mich | |
| gebeten, alte Familiendokumente zu ordnen und da habe ich zum ersten Mal | |
| Irmas Sterbeurkunde gesehen. Irmas Todesdatum war der 8. Januar 1944 und | |
| die Urkunde ist am 4. Januar 1945 ausgestellt. Da war mir sehr schnell | |
| klar, da stimmt etwas nicht, zumal die Todesursache: Grippe, | |
| Lungenentzündung und etwas, was mir sehr merkwürdige vorkam: angeborene | |
| zerebrale Kinderlähmung. Das gibt es überhaupt nicht. | |
| Sie hielten diese Sterbeurkunde erst spät in der Hand. | |
| Irma war fast vergessen. Ich hatte versucht, mit meinem Vater darüber zu | |
| sprechen, aber der wollte über diese Zeit nicht mehr reden. Und was soll | |
| man einen so alten Mann damit quälen? Ich habe dann auf eigene Faust | |
| geforscht, bin von einem Freund von der Vereinigung der Verfolgten des | |
| Naziregimes unterstützt worden, der gerade eine Ausstellung zur Euthanasie | |
| in Hamburg – ich sage: sogenannte Euthanasie – vorbereitet. Da habe ich | |
| Irmas Namen auf der Transportliste für die Deportation in eine | |
| psychiatrische Klinik in Wien gefunden. Dann habe ich an die Alsterdorfer | |
| Anstalten und an die Klinik in Wien geschrieben. | |
| Über das Thema ist sehr lange geschwiegen worden. | |
| Natürlich – solange die Täter noch lebten. Die haben zum größten Teil | |
| Karriere gemacht, wie bei den Juristen und Politikern auch. Etwa Dr. | |
| Kreyenberg, Oberarzt in Alsterdorf, der geglaubt hat, er kann mit | |
| aggressiven Röntgenbestrahlungen geistige Behinderung heilen, und die | |
| Menschen damit verbrannt hat. Er gehörte bis ins hohe Alter zur Hamburger | |
| Gesellschaft. Oder Dr. Struwe, der im Nazi-Senat Direktor war, der für die | |
| Transporte und Durchführung verantwortlich war, nach der Befreiung in die | |
| SPD eintrat und wieder Senatsdirektor wurde. | |
| Sind Sie bei Ihren Nachforschungen auf Widerstand gestoßen? | |
| In Alsterdorf überhaupt nicht, dort traf ich Michael Wunder, der die | |
| Euthanasie-Geschichte der Anstalt aufgearbeitet hat. Ohne ihn hätte ich es | |
| nicht geschafft, ich war damals am Rande einer Depression. Aus der Klinik | |
| in Wien bekam ich erst einmal eine Antwort, ja, Irma sei da gewesen, es | |
| gebe aber keine Krankenakte mehr und laut Friedhofsordnung sei das Grab | |
| nach 20 Jahren aufgelassen worden. Das war alles gelogen, aber ich habe dem | |
| Herrn Professor geglaubt – und damit waren die Nachforschungen erst einmal | |
| am Ende. | |
| Aber es ging weiter? | |
| Es war einer dieser seltsamen Zufälle: Ich war bei der Familie meiner | |
| Tochter in Österreich und sah zufällig eine Sendung, in der ein Professor | |
| Neugebauer auftauchte, Leiter des Dokumentationszentrums des | |
| österreichischen Widerstandes. Der erzählte, dass es im Keller der | |
| Pathologie der früheren Psychiatrischen Klinik „Am Steinhof“, einer der | |
| großen Mordstätten während der Nazizeit, einen Gedenkraum gebe. Nun wolle | |
| die Anstalt den Gedenkraum umwidmen zu einem Museum. In diesem Kellerraum | |
| waren Hunderte Gläser mit Gehirnen und anderen Überresten von | |
| Euthanasie-Opfern. Auch das Gehirn meiner Schwester stand in einem dieser | |
| Gläser. Für mich war sofort klar: Das kommt nicht infrage. Diese Überreste | |
| müssen beerdigt werden. | |
| Das haben Sie schließlich erreicht. | |
| Es war ein sehr langer Kampf. Anfang 1995 habe ich die ersten Briefe | |
| geschrieben, es ging lange hin und her mit verschiedenen Stellen. Als mir | |
| das alles zu bunt wurde, habe ich an die Ministerin für Gesundheit | |
| geschrieben und gefordert, dass das Gehirn meiner Schwester und die | |
| Überreste anderer Hamburger Euthanasie-Opfer in Hamburg beerdigt werden. | |
| Ich habe den Brief in Kopie an den Bundespräsidenten und den Bundeskanzler | |
| geschickt. Da hat sich plötzlich etwas bewegt. Am 8. Mai, dem Tag der | |
| Befreiung von Krieg und Faschismus, haben wir zehn Urnen auf dem Ehrenfeld | |
| der Geschwister-Scholl-Stiftung auf dem Ohlsdorfer Friedhof beerdigt. | |
| Haben Sie jemals die Spur der Nachbarin verfolgt, die Ihre Familie damals | |
| denunziert hat? | |
| Können Sie sich vorstellen, wie viel Kraft diese Arbeit kostet? Mich | |
| interessieren die Opfer, nicht die Täter. | |
| ## | |
| ## Die Ausstellung „’Euthanasie‘. Die Morde an Menschen mit Behinderungen | |
| und psychischen Erkrankungen in Hamburg im Nationalsozialismus“ ist noch | |
| bis zum 7. Februar im Hamburger Rathaus zu sehen. Begleitprogramm unter | |
| 31 Jan 2014 | |
| ## AUTOREN | |
| Friederike Gräff | |
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| Euthanasie | |
| Schwerpunkt Nationalsozialismus | |
| Doktor Mengele | |
| Euthanasie | |
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