| # taz.de -- Die Wahrheit: Heulende Top-Talente | |
| > Knallharter Generationenwechsel im Wirtschaftsleben: Bei jedem | |
| > erfolgreichen Abschluss gibt es ein Bärchen ins Führungsheft. | |
| Bild: „Sie kriegen Ihr Bärchen. Aber dann bekommen alle anderen auch eins.“ | |
| „Ist doch nicht so schlimm.“ Der Vorstandsvorsitzende Dr. Maages beugt sich | |
| noch etwas tiefer und knuddelt den jungen Key-Accounter Felix Anton Röslich | |
| noch etwas intensiver. Dann streichelt er ihm zärtlich die Stirn. Frau | |
| Machning, zuständig für Compliance, atmet verstehend aus. Die vollständig | |
| erschienenen Abteilung- und Filialgebietsleiter tuscheln wohlwollend. Ein | |
| Weltkonzern hält inne. | |
| „Die 15 Millionen Euro Verlust stören uns doch gar nicht“, schiebt Dr. | |
| Maages nach. „Da soll sich der Lüneberg nicht so haben!“ | |
| Erneut wird der Key-Accounter Röslich, Absolvent mehrerer | |
| Elite-Universitäten und Hoffnungsträger des Top-Talent-Nachwuchses, von | |
| einem heftigen Weinkrampf geschüttelt. „Er hat miff aber ganff doll böwe | |
| angekuckt“, schluchzt er. Seine Peergroup, ebenfalls Absolventen | |
| zahlreicher Elite-Universitäten und ausnahmslos Top-Talents, schnäuzt | |
| kollektiv in längst tränendurchtränkte Taschentücher. | |
| „Das hat er bestimmt nicht so gemeint“, behauptet Dr. Maages mit letzter | |
| Selbstbeherrschung. „Und jetzt benehmen Sie sich wie ein Mann und nehmen | |
| den Daumen aus dem Mund.“ | |
| Mühsam entwindet sich der erfahrene Wirtschaftskapitän, Vorstand des Jahres | |
| 1998, 2001 und 2003, dem Klammergriff seines arg gebeutelten Mitarbeiters. | |
| ## „Ich will ein Bärchen!“ | |
| „Nein!“ Röslich hämmert mit den Fäusten in den butterweichen Flor des | |
| Teppichs. „Erst will ich ein Bärchen in meinem Führungsheft!“ | |
| Dr. Maages wird ungeduldig. „Herr Röslich, Bärchen gibt es nur bei | |
| erfolgreichem Geschäftsabschluss. Ihr Kunde hat sich aber für einen | |
| Mitbewerber entschieden.“ | |
| „Dann kündige ich.“ Röslich wirft sich auf den Rücken. | |
| „Nein!“, entfährt es dem vielstimmigen Chor der Unternehmensführung. „W… | |
| brauchen Sie!“ | |
| „Ich will ein Bärchen! Und der Lüneberg soll eine Woche lang mit kurzen | |
| Hosen zur Arbeit kommen und ein Schild ,Ich bin ein voll schlechter | |
| Vorgesetzter‘ um den Hals tragen.“ | |
| Dr. Maages, Personalchef Hennekamp und die Leiterin der | |
| Unternehmenskommunikation Silke Nürnberger tauschen Blicke. | |
| „Okay.“ entscheidet der alte Platzhirsch. „Sie kriegen Ihr Bärchen. Aber | |
| dann bekommen alle anderen auch eins.“ | |
| „Und kurze Hosen und ein Umhängesschild für Lüneburg.“ | |
| „Ja, von mir aus.“ Maages atmet vernehmlich aus. | |
| ## Vier Coachingsitzungen | |
| Wolfgang Lüneberg, der Vorgesetzte des Key-Accounters ist schockiert. „Ich | |
| habe nur ein bisschen verärgert geguckt. Als Vorgesetzter muss ich | |
| schließlich den Kopf für die 15 Millionen hinhalten.“ | |
| „Interessiert mich nicht, Lüneberg!“, schäumt der Vorstandsvorsitzende. | |
| „Diese Juwelen dort, diese 12 Top-Talents sind unsere Zukunft. Wir | |
| bräuchten mindestens 450 erstklassige Nachwuchkräfte, aber der Markt ist | |
| leer. Und ich lasse mir unseren hervorragenden Nachwuchs nicht von | |
| Führungskräften versauen, die den Schuss nicht gehört haben. Hennekampf!“ | |
| Der 64 jährige Hennekampf buckelt in Richtung Vorstand. „Nehmen Sie die | |
| Talents aus allen Arbeitsprojekten raus und trommeln Sie alle verfügbaren | |
| Betriebspsychologen zusammen“, brüllt Dr. Maages. „Jeder von denen soll | |
| mindestens vier Coachingsitzungen bekommen, um dieses traumatische Ereignis | |
| zu verarbeiten. Zusätzlich ein Personal Training zur Burnout-Prophylaxe“. | |
| „Und Ihr Flachpfeifen!“ Dr. Maages lässt seinen Blick über alle älteren | |
| Mitarbeiter gleiten. „Ihr stellt mir sicher, dass jeder dieser | |
| außergewöhnlichen jungen Menschen ein Arbeitsumfeld vorfindet, das ihn | |
| beflügelt.“ | |
| ## Gesichter der Gestern-Generationer | |
| „Das reicht nicht!“, ruft eine sommersprossige 26-Jährige mit | |
| Kuschelschildkröte unter dem Arm. „Ich erwarte bis morgen Ihre Kündigung. | |
| Ihre eigene und die aller Vorstände bis runter zum Abteilungsleiter. Wenn | |
| Sie sich weigern, wechseln wir Jungen noch morgen zum Mitbewerber!“ | |
| Die Top-Talents jubeln, auf den Gesichtern der Gestern-Generationer | |
| zeichnet sich dagegen Fassungslosigkeit ab. | |
| Dr. Maages ringt um Worte. „Kein aber!“ unterbricht die sommersprossige | |
| Nachwuchskraft. „Morgen früh übernimmt Röslich die Geschäftsführung. Ich | |
| wechsele in den Aufsichtsrat und meine Kollegen suchen sich ihre Positionen | |
| aus. Sollte dann noch etwas frei sein, können Sie sich gerne bei uns | |
| bewerben. Wir werden nach anonymisierten Bewerbungsverfahren entscheiden. | |
| So, das muss reichen für heute. In einer halben Stunde läuft Heidi Klum und | |
| da darf ich keine Folge verpassen.“ | |
| Euphorisiert die einen, betroffen die anderen, gehen die Leistungsträger | |
| des Weltkonzerns auseinander. Am Morgen des Folgetages vollzieht sich fast | |
| beiläufig und in aller Stille der Wechsel. Selten verlief eine Revolution | |
| so friedlich. | |
| 6 Mar 2014 | |
| ## AUTOREN | |
| Jakob Reil | |
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