Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Die Wahrheit: Mal Lette, mal Spanier
> Was die Schachwelt im hölzernen Kleinen ist, ist die Außenwelt im Großen:
> Das Nationenhopping wird zum Breitensport.
Bild: Langweilige EU: Beim Nationenhopping will sie nicht mitmachen.
Freitag vor zwei Wochen, irgendwo an der Adria: Der kroatische
Premierminister Zoran Milanović modelliert den Exschachweltmeister Garri
Kasparow eigenhändig zum Kroaten um und erklärt ihn stolz zum Landsmann.
Der gelernte Kremlkritiker hatte schon vorher wochenlang vergeblich
versucht, Lette zu werden.
Nun ist er also Kroate und fügt seiner bunten Autobiografie noch einen
weiteren Tupfer hinzu. Denn eigentlich hatte der im aserbaidschanischen
Baku in eine armenisch-jüdische Familie hineingeborene Russe Kasparow, der
bis zu seinem zwölften Lebensjahr den Namen Weinstein trug, ja schon
Wurzeln genug, um einen eigenen Gemüseladen aufmachen zu können.
Staatenhopping scheint besonders bei Schachspielern en vogue zu sein, deren
Weltverband Fide eigentlich supranational die Losung „Gens una sumus“
verbreitet – zu Deutsch: „Wir sind ein Volk!“ So wurde vor Jahren die
größte ukrainische Zukunftshoffnung am Holzbrett, Sergei Karjakin,
urplötzlich Russe, nachdem er in einem Moskowiter Turnier ein Stück Taiga
gewonnen hatte, auf dem er jetzt womöglich in einer Datscha wohnt. Auch
sein Großmeisterkollege Alexei Schirow ist mal Lette, mal Spanier – und
das, obwohl er eigentlich russischer Herkunft ist.
Geboren wurde er natürlich in der Stadt, in der Schachspieler offenbar
bevorzugt das Licht der Welt erblicken, nämlich in Riga. Auch die aktuellen
deutschen Großmeister kommen hauptsächlich von dort, genauso wie der
Exweltmeister Michail Tal, zu dessen Ehren alljährlich eines der stärksten
Schachturniere überhaupt gespielt wird – bezeichnenderweise in Moskau.
## Die generelle Flexibilisierung von Nationalitäten
Was die Schachwelt im hölzernen Kleinen ist, ist die Außenwelt im Großen.
Auch dort ist ein reger Handel mit Staatsbürgerschaften entstanden. Dabei
fällt derzeit natürlich vor allem das florierende Import- und
Exportgeschäft mit russischen Pässen auf. Die Außenhandelsbilanz des
Landes, vom jahrzehntelangen Wegzug deutschstämmiger Aussiedler und einigen
Abgängen unliebsamer Energiemagnaten aus dem Gleichgewicht gebracht, konnte
zumindest teilweise mit dem Import von Schwergewichten wie Gerard Dépardieu
ausgeglichen werden.
Was aber wird sein, wenn der sich eines Tages mit Putin überwirft und
wieder nach Hause geht? Wird der Kreml dann eine Volksabstimmung in
Dépardieus Loireschloss über den Anschluss der Immobilie an Mütterchen
Russland abhalten, die von zufällig anwesenden Touristen organisiert wird,
die ebenso zufällig bewaffnet und in russische Uniformen gekleidet sind?
Oder sollte man angesichts dieser Nationalitätenläufigkeit von Prominenten
nicht gleich besser Nägel mit Köpfen, oder genauer: Köpfe mit mehreren
Pässen machen? Wenn jeder von uns von vornherein gleich mehrere
Staatszugehörigkeiten bekäme, könnten sich die Präsidenten und Despoten
jedenfalls nicht diese ganzen Frechheiten gegen ihre Völker herausnehmen.
Die könnten sich dann nämlich – frei nach Brecht – unter dem Schutz des
Völkerrechts umdekorieren und den Bekloppten an der Staatsspitze die
Herrschaftsgebiete entziehen– oder doch zumindest deren Bewohner.
Mehr noch, auf einer internationalen Tauschbörse sollte jeder jederzeit
zwischen Pontius und Pilatus wechseln können. Auch wenn es dabei –
realistisch gesehen – zu Kursschwankungen kommen dürfte: Einmal Island
kostet dann vielleicht dreimal Vanuatu plus Ponyaufschlag. Die generelle
Flexibilisierung von Nationalitäten läge doch klar im Trend des obwaltenden
Neoliberalismus. Der heimische Gesetzgeber könnte sogar – um einen Gedanken
von Kaiser Wilhelm II. umzukehren – gleich nur noch Menschen statt Deutsche
in uns erkennen. Selbst die Herkunftsbezeichnung „Phönizier“ oder
„Bandkeramiker“ wäre sinnvoller als „Made in Germany“.
Am meisten müssten dann aber ausgerechnet die Schachspieler umdenken und
-rüsten, die bis auf den heutigen Tag ihre Partien freiwillig unter das
Namensdiktat und die Patronage von Nationalstaaten stellen: Sie spielen
entweder Spanisch oder Holländisch, Russisch oder Königsindisch. Klar, dass
manche Spieler schon jetzt mitunter ganz schön durcheinanderkommen, wenn
sie bei jedem Zug überlegen müssen, wer und was sie selber gerade sind.
14 Mar 2014
## AUTOREN
Reinhard Umbach
## TAGS
Schach
Lärmschutz
Männer
Wladimir Putin
Wulff
Fahrrad
SPD
## ARTIKEL ZUM THEMA
Die Wahrheit: Dämmtipp für Lärmgeplagte
Donnerstag ist Gedichtetag auf der Wahrheit. Heute darf sich die
Leserschaft an einem Poem über Maßnahmen gegen Ruhestörung erfreuen.
Die Wahrheit: Männer kleiden sich an
Es ist Gedichtetag auf der Wahrheit. Heute darf sich die Leserschaft an
einem Poem über das Ankleiden von Männern erfreuen.
Die Wahrheit: Der Traum
Donnerstag ist Gedichtetag auf der Wahrheit. Heute erreicht die Leserschaft
ein Poem über eine traumhafte Männerfreundschaft.
Die Wahrheit: Wulff vor Gericht
Donnerstag ist Gedichtetag auf der Wahrheit. Heute darf sich die
Leserschaft an einem Poem über die Sperenzchen eines Gewesenen vor dem Kadi
erfreuen.
Die Wahrheit: Nächtliche Radler
Donnerstag ist Gedichtetag auf der Wahrheit. Heute darf sich die
Leserschaft an einem Poem über lichtscheue Zweiradfahrer erfreuen.
Die Wahrheit: Der Retter, Sozis, naht!
Donnerstag ist Gedichtetag auf der Wahrheit. Heute darf sich die
Leserschaft an einem Poem erfreuen über den Mann, der es noch deichseln
wird bei der SPD.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.