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# taz.de -- Die Wahrheit: Brunftzeit im Netz
> Seit dem großen Erfolg des viralen Werbevideos „First Kiss“ tummeln sich
> zahlreiche Nachahmer im Internet. Nicht alle sind harmlos.
Bild: Derzeit in aller Munde: das Online-Video "First Kiss".
Wer weiß noch, wer Julia Engelmann ist? Jene blonde Psychologiestudentin,
die putzige Anagramme aus dem Wort „Mut“ gebildet und damit Millionen von
Internetnutzern begeistert, wachgerüttelt oder wenigstens nachhaltig kalt
gelassen hat? Schnee von gestern, weiß der erfahrene Surfer und verweist
auf den aktuell heißesten Scheiß: Das derzeit mit mehr als 55 Millionen
Klicks gehypte YouTube-Filmchen „First Kiss“.
„First Kiss“ hat alles, was virales Marketing benötigt: Den Anschein von
Authentizität, Menschen, die sich zum Horst machen, einen soliden
Spannungsbogen, sowie eine gefällige Schwarz-Weiß-Ästhetik zu buttriger
Indie-Musik, die vergessen lässt, dass man sich gerade als Spanner
betätigt. Und natürlich eine Firma – in diesem Falle das US-Modelabel WREN,
die eben mit diesem Filmchen ihr virales Marketingpotenzial austestet.
Nun mag man es durchaus erfreulich finden, dass die 20 gecasteten
Kussmodels hübscher anzusehen sind, als die brünftigen Frühlingstrottel,
die derzeit in Stadtparks, Bussen und Fußgängerzonen die immergleiche
Tragikomödie pheromon-begünstigter Übergriffigkeiten aufführen.
Andererseits zeitigt das Video mittlerweile Folgen, die auch der
Regisseurin des Clips, Tatia Pilieva, ungelegen kommen dürften.
So gibt es bereits erste Jugendliche, die sich nach ihrem ersten Kuss die
Hand geben, einander namentlich vorstellen und dann mit einer fiktiven
Kamerafrau zu plaudern beginnen, weil sie unter dem Einfluss des Videos
glauben, nur so küsse man korrekt. Gerade jüngere Menschen werden laut
einer Blitzumfrage auf einschlägigen Pausenhöfen durch die Auswahl der
gezeigten Küsser in zweifelhaften Ansichten bestätigt. Ganz oben unter den
falschen Schlussfolgerungen: 1. Ein Zungenkuss dauert nie länger als wenige
Sekunden. 2. Latinas sind die besten Küsserinnen. 3. Schwule sind verklemmt
und küssen nur flüchtig. 4. Inuit, Asiaten und Schwarze küssen gar nicht.
WREN plant daher einen ethnisch und sexuell diversifizierten Folgefilm, um
den Stereotypen etwas entgegenzusetzen. Gerüchten zufolge sollen irgendwann
sogar Dicke zum Zuge kommen. Spätestens für das zwölfte Video ist das
Knutschen mit einer Leiche anvisiert, um auch die überschaubare nekrophile
Zielgruppe für die Marke zu begeistern.
Allerdings muss sich die Filmemacherin beeilen, denn längst stellen etliche
Nachahmer ihre Elaborate ins Netz. Durch diese alternativen Versionen
werden nicht nur weitere wirre Annahmen in die Bevölkerung getragen, manche
befürchten gar, dass „First Kiss“ einer zunehmend grenzverschiebenden
Darstellung von Intimität den Boden bereitet. So geißelt eine
Tierschutzaktivistin namens Petitionen-Petra in ihrem Blog die scheinbar
harmlosen Nachäffungen „First Sniff“ (Hunde beschnüffeln sich zum ersten
Mal) und „First Hiss“ (züngelnde Schlangen in Weichzeichner-Optik) als „…
der Würde der Tiere unvereinbar“, zumal diese oft nicht einschätzen
könnten, zu welchen Zwecken sie gerade abgelichtet würden. Dass viele User
beim Schauen von Tierpostings Hand an sich legten, sei ebenso Fakt, wie der
Umstand, dass solche Darstellungen erst zu Übergriffen auf Tiere
animierten, vor allem auf Katzen. Auch der Film „First Schiss“, in dem
Babys bei ihrem ersten großen Geschäft gefilmt werden, löst kontroverse
Diskussionen aus. Die Meinungen reichen von „lol“ über „kackegal“ bis …
„OMG. Was für eine Riesenscheiße!!!“. Der fast zeitgleich entstandene,
künstlerisch wesentlich ambitionierte Beitrag „First Diss“, in dem
wildfremde Jugendliche einander gegenüberstehen und sich – anfangs zaghaft,
dann immer forscher – beschimpfen und runtermachen, polarisiert die
Betrachter ebenfalls. Was für die einen amüsante Aufklärung und
distanzschaffende Lächerlichkeit bedeutet, gilt anderen als Verrohung der
Sitten. So wie die verwackelte Aufnahme eines Users mit dem Nickname
Asgard88, der einen Film namens „First Heil“ hochlud. Wegen seiner öden
Vorhersehbarkeit und dilettantischen Machart zählt er bisher nur 39 Klicks
und dürfte kaum über 45 kommen.
Interessanter sind da die Versionen, die die „First-Kiss“-Idee von den
Füßen auf den Kopf stellen. In „Last Kiss“ treten Paare vor die Kamera, b…
denen einer von beiden Trennungsabsichten hat und weiß, dass es der letzte
Kuss sein wird, während der andere denkt, es handle sich um eine witzige
und romantische Idee. „Last Fuck“ treibt diese pfiffige Idee noch etwas
weiter. Der schwarzhumorige Beitrag „Last Laugh“ dagegen zitiert einen
alten Witz: Ein Mann und ein kleines Mädchen spazieren durch einen Wald. Es
wird dunkel und das Mädchen sagt: „Jetzt bekomme ich aber langsam Angst.“
Der Mann antwortet: „Was soll ich denn sagen? Ich muss den ganzen Weg
allein zurück.“
16 Mar 2014
## AUTOREN
Anselm Neft
## TAGS
Kolumne Einfach gesagt
Weltgesundheitsorganisation
Krankenkassen
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