# taz.de -- Ausstellung in Brüssel: Krieg und Befreiung | |
> Die Ausstellung „Liberation Route“ will den Vormarsch der Alliierten | |
> 1944/45 aus vielen Blickwinkeln ausleuchten und touristisch aufarbeiten. | |
Bild: Belgier begrüßen ihre Befreier aus den USA. | |
Martin Schulz, der Präsident des EU-Parlaments, hat nach Brüssel geladen. | |
Der umtriebige SPD-Politiker aus Würselen bei Aachen erzählt von seinen | |
Vorfahren: Der eine habe in belgischen, der andere in niederländischen | |
Armeen gekämpft. Ein Onkel war bei der Wehrmacht, „1945 konnte er fliehen | |
aus russischer Gefangenschaft, als Minenfachmann begann er den Alliierten | |
zu helfen und trat auf eine Mine“. | |
Viele solcher Tragödien und Episoden sind Bestandteil des Projekts | |
Liberation Route, das den Vormarsch der Alliierten 1944/45 aus vielen | |
Blickwinkeln ausleuchten und touristisch aufarbeiten will. Ein Projekt mit | |
Geschichten von Siegern und Helden, von Tätern, Opfern, Überläufern, | |
Kollaborateuren, Vertriebenen zwischen allen Fronten – aus den Blickwinkeln | |
vieler Nationen. Es sind auch Geschichten, wie man mit Befreiung umgeht - | |
demütig, ausgelassen, heldenverehrend? | |
Schulz betritt einen unscheinbaren Verschlag in Tarnfarben. Routes of | |
Liberation steht daran, Wege der Befreiung also. Darin befindet sich die | |
Wanderausstellung zum Kriegswinter 1944/45. Eng ist es und bedrückend wie | |
im Schützengraben. Partner aus fünf europäischen Ländern haben die | |
Ereignisse von damals multimedial aufgearbeitet. Viele Fotos aus Archiven | |
anderer Länder hat man noch nie gesehen, manch bewegende Biografie nie | |
gehört, Filmschnipsel nie gesehen. | |
Die Liberation Route ist kein Weg quer durch Europa, sondern eine | |
Zusammenstellung vernetzter Orte, insgesamt sechs: Das englische Kent, die | |
Normandie, Arnheim/Nijmegen, Berlin mit seinem Alliierten-Museum, Danzig | |
als Ort der Befreiung durch die Rote Armee. Und die Rureifel, wo bei der | |
fürchterlichen Schlacht im Hürtgenwald der Vormarsch der Befreier im Winter | |
1944 zum Erliegen kam. | |
Hier erlebte die US-Armee ein Trauma mit vielen tausend Toten innerhalb von | |
vier Monaten, die größten Verluste, die sie in Europa jemals an einem Ort | |
hatte. Genaue Zahlen sind unbekannt. „Auch die US-Army scheint unfähig, | |
eine verlässliche Antwort zu geben“, erklärt der US-Historiker Keith Allen, | |
einer der Kuratoren der Ausstellung. „Vielleicht ist das Nichtwissen die | |
wichtige Nachricht, noch 70 Jahre danach.“ | |
Beim Vormarsch hatten die Befehlshaber die tief eingeschnittenen Täler | |
völlig unterschätzt, dazu kam wochenlang fürchterlichstes Wetter selbst für | |
Eifelverhältnisse. Die Panzer blieben im Morast stecken, wurden von den | |
Höhen reihenweise abgeschossen, Verletzte konnten nicht geborgen werden und | |
sind täglich zu Hunderten jämmerlich verblutet und erfroren. | |
Gotthard Kirch, 58, Geschäftsführer des Rureifel-Tourismus e. V., war an | |
der Konzeption des transnationalen Projekts beteiligt. Kein leichtes | |
Unterfangen: „Zu unserem ersten Treffen in Brüssel sind mein Kollege und | |
ich wohl mit geduckten Schultern reingegangen – wir, die Deutschen, die | |
Bösen von damals.“ Und sie hätten mit ihrer ersten Präsentation offenbar | |
„eine düstere Stimmung verbreitet“. | |
Vor allem der Arnheimer Touristiker habe das nicht verstanden und | |
berichtet, „was bei denen jeden September abgeht an Party, die ganze Stadt | |
ausgeflaggt, wie die sich freuen, dass die Befreier von damals zum Feiern | |
wiederkommen“. Jedenfalls habe er gelernt, sagt Kirch, „wie radikal | |
verschieden man Befreiung empfinden kann“. | |
## Eine Wanderausstellung durch Europa | |
Die Ausstellung wird mit dem Weg der Befreiung wandern. Guides aller | |
Projektpartner sind gegenseitig geschult. So kann in Danzig jemand auch | |
über die Normandie erzählen, und der Battlefield Guide in Südengland über | |
die Brücke von Arnheim oder die Eifel. | |
Kriegsgrauen ist tatsächlich touristisch umsetzbar, besonders auf dem | |
US-Markt. Da ist The Battle of Hürtgen Forest (tatsächlich mit ü | |
geschrieben) ein fester Begriff. Nach wie vor kommen zahlreiche | |
Familienangehörige in die Nordeifel, um zu sehen where grandpa fought or | |
died. Ein Wallfahrtsort des Scheiterns. Einzelne Divisionen haben eigene | |
Reisebüros. | |
In Deutschland wird die Eifelschlacht eher literarisch vermarktet. Dabei | |
hilft ein großer Zufall. Denn drei große Schriftsteller haben sehr eng mit | |
dem Hürtgenwald zu tun: Ernest Hemingway war damals hier | |
Kriegsberichterstatter, Jerome D. Salinger kämpfte als Soldat und schrieb | |
in Kampfpausen an den ersten Kapiteln von „Catcher in the Rye“. Heinrich | |
Böll hat bald nach dem Krieg hier gewohnt und Salingers großen Roman ins | |
Deutsche übersetzt. Kirch sagt: „Dieses magische Dreieck der Weltliteratur | |
haben wir miteinander in Beziehung gesetzt.“ Ergebnis: der | |
Historisch-Literarische Wanderweg. | |
Bei den Wanderungen helfen Audio- und Videomaterialien, die an festgelegten | |
Orten per Tablet oder Smartphone abrufbar sind. Oder es sind ganz klassisch | |
Guides dabei. Wenn die mit mehr als hundert Besuchern und einer kleinen | |
Mikrofonanlage im Wald alte Texte rezitieren, packt einen das sofort. Eben | |
noch genießt man eine liebliche Wiese im heimeligen Kalltal, plötzlich | |
steht man vor versteckten Bunkerfragmenten im Gebüsch gleich daneben, | |
während man akustisch einen Zeitsprung in die Horrorzeit macht. | |
„Alle Völker haben ihre Mythen“, sagte ein Festredner im EU-Parlament, „… | |
aber zu hinterfragen sind. Nichts ist schwarz-weiß. Jeder hat seine eigene | |
Sicht der Vergangenheit“ – oft eine sehr einseitige. Vor allem das | |
Befreiungsgefühl der Deutschen bleibt vertrackt. Wurde man 1944/45 besiegt | |
oder erlöst? Der Historiker Herbert Ruland von der Hochschule Eupen | |
wunderte sich in Brüssel: „In Belgien werden Offiziere und kommunistische | |
Partisanen, die gegen die Nazis kämpften, in einem Atemzug genannt. | |
Undenkbar in Deutschland.“ | |
## Das vertrackte Befreiungsgefühl | |
Andererseits ziehen sich gerade im grenznahen Ostbelgien bis heute Risse | |
durch Sippen und Familien. „Ein älterer Herr“, berichtet Kirch, „erzähl… | |
mir von seinem Vater und seinem Onkel. Der eine war in der Résistance, der | |
andere hat kollaboriert. Erst hat der eine den anderen verraten. Als der | |
aus dem KZ zurückkehrte, hat er seinen Bruder ins Gefängnis gebracht.“ | |
„Der Krieg war nicht einfach Hobbits gegen Orks, Gut gegen Böse“, meinte in | |
Brüssel der Historiker Sönke Neitzel von der London School of Economics, | |
„es gibt so viele verschiedene Ebenen von Schuld, von Angst und Aggression | |
quer durch alle Völker“. Und Martin Schulz ergänzte: „Die Menschen werden | |
schuldig, wenn sie beginnen zu vergessen.“ | |
12 Apr 2014 | |
## AUTOREN | |
Bernd Müllender | |
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Befreiung | |
Hildebrand Gurlitt | |
Jüdischer Friedhof | |
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