# taz.de -- Kolumne Der Rote Faden: Das Echte und das Unechte | |
> Von der schnellen Welt, der falschen Theorie, dass der Mindestlohn auf | |
> die Arbeitslosenzahlen geht und anderem brandneuen Weltwirtschaftswissen. | |
Bild: So sieht ein Mann aus, der Bestsellerliste und Wirtschaftswissenschaften … | |
In der modernen Welt ist ja alles bekanntlich pfeilschnell, die | |
Hochfrequenzhändler an den Börsen raufen sich um die Plätze am Ende der | |
Hochgeschwindigkeitskabel, um ein paar Bruchteile von Nanosekunden | |
schneller zu sein; aber Amazon, das ich nur im Notfall konsultiere, | |
brauchte dann doch drei Wochen, bis Thomas Pikettys „Capital in the | |
Twenty-First Century“ auf meinem Tisch lag. | |
Das Buch wird ja als Wasserscheide der Wirtschaftswissenschaft gefeiert, | |
der amerikanische Nobelpreisträger Paul Krugman, der Papst und ich, wir | |
lesen es gerade gleichzeitig. Es gilt als Buch des Jahrzehnts, und | |
tatsächlich markiert es eine Wende in der Wirtschaftswissenschaft: Dass | |
Marktergebnisse fair, nützlich oder sonst irgendwie erstrebenswert seien, | |
kann nach der Lektüre selbst der weltfremdeste Marktradikale nicht mehr | |
behaupten. | |
Aber was macht ein Buch einflussreich? Natürlich, Qualität gehört dazu, ist | |
aber keine hinreichende Bedingung. Es gibt ja Tausende brillante Bücher, | |
die nicht einflussreich werden, bei denen die Brillanz, die meist ja auch | |
mit Kompliziertheit einhergeht, Einfluss geradezu verhindert. In der | |
Realität gilt: Ein Buch ist dann einflussreich, wenn alle Welt behauptet, | |
dass es einflussreich sei. | |
Grob gesprochen kann man Pikettys Buch kapitalismuskritisch nennen, es hat | |
These und Theorie, aber seine Kirche ist auf dem Fels der Empirie gebaut. | |
Piketty räumt alle bisherige Theorie beiseite, indem er sagt, sie habe zwar | |
schöne Thesen, aber unzureichendes Faktenmaterial, während er sich durch | |
die Zahlen der Ungleichheitsentwicklung gegraben hat. Und die Krankheit der | |
Wirtschaftswissenschaft ist, dass sie ihre eleganten mathematischen Modelle | |
liebt, aber sich um die Wirklichkeit nicht schert. Also um das, was man das | |
echte Leben nennt. | |
Man sieht das aktuell auch an der Mindestlohndebatte in Deutschland. Da | |
wird jetzt erstens von interessierter Lobbyistenseite schon gewarnt, dass | |
die Preise beim Bäcker, die der Taxis, der Friseure und sonst wo kräftig | |
anziehen werden. Die liberale Wirtschaftstheorie schiebt dann noch nach, da | |
die Unternehmen sich die höheren Lohnkosten nicht leisten könnten, werde | |
Arbeitslosigkeit die Folge sein. | |
Nun gibt es aber auch Ökonomen im Geiste Pikettys, die sich empirisch | |
angesehen haben, ob das stimmt. Wenn es denn so wäre, müsste doch in | |
Ländern – oder in Bundesstaaten, etwa der USA –, in denen Mindestlöhne | |
eingeführt oder erhöht wurden, ein Anstieg der Arbeitslosigkeit | |
nachzuweisen sein. Ist er aber nirgends. Es stellt sich bei Betrachtung der | |
ökonomischen Realität nämlich heraus, dass die Taxifahrer, die dann mehr | |
Geld bekommen, ihr Geld beim Bäcker und beim Friseur ausgeben (das gilt | |
auch vice versa und kreuzweise), sodass die Unternehmen zwar höhere Kosten, | |
aber auch mehr Einnahmen haben, weshalb sich der Effekt mindestens | |
neutralisiert. Manche Studien legen sogar nahe, dass die | |
Wirtschaftsbelebung durch Mindestlöhne Arbeitsplätze schafft. | |
So schlägt die Wirklichkeit also das Modell. Ich muss übrigens zugeben, | |
dass mir das Argumentationsmuster, das ich gerade entfalte, nicht ganz | |
gefällt. Das „echte Leben“ gegen „abstrakte Modelle“ in Stellung zu | |
bringen, ist mir nicht nur sympathisch. Theorie- oder gar | |
Intellektuellenfeindlichkeit ist meine Sache nicht, in der Beschwörung der | |
Wirklichkeit kann ein ordentlicher Schuss Romantik und ein Ressentiment | |
gegen das Denken stecken. | |
## Orwell im Kopf | |
„Heilige sollte man immer für schuldig halten, solange nicht ihre Unschuld | |
bewiesen ist“, schrieb George Orwell einmal, und der Satz kam mir in den | |
Kopf, als die beiden lebenden Päpste zwei ihrer Vorgänger zu Heiligen | |
erklärten. Ich persönlich bin kein Heiliger, ich kann auch nicht Wasser in | |
Wein verwandeln, auch wenn ich eine gewisse Übung darin entwickelt habe, | |
die Gegenrichtung zu praktizieren. Womit wir wieder bei Orwell sind, der | |
ein paar Seiten weiter formulierte: „Zweifellos sind Alkohol, Tabak usw. | |
Dinge, die ein Heiliger meiden sollte, aber auch Heiligkeit ist etwas, was | |
menschliche Wesen vermeiden sollten.“ | |
Das echte Leben menschlicher Wesen, mit ihren Idealen und ihrem Scheitern, | |
hielt Orwell gegen die lebensfeindlichen, asketischen Ideale des „Heiligen“ | |
hoch. In der Entscheidung zwischen Gott beziehungsweise irgendeinem anderen | |
abstrakten Ideal und den Menschen solle man sich für die Menschen | |
entscheiden, fürs Leben, für die Treue und den Verrat; für die Wirklichkeit | |
also, die komplex und widersprüchlich ist, in der man nie nur gut sein | |
könne. | |
Wenn ich mich entscheiden müsste, würde ich die Theorie und die Empirie, | |
das Denken und das Leben wählen. Aus mir wird eben nie ein Heiliger. | |
3 May 2014 | |
## AUTOREN | |
Robert Misik | |
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