| # taz.de -- Kolumne Immer bereit: Der Duft meiner Kindheit | |
| > Hufelandstraße, Ecke Bötzowstraße: Die Kolumnistin beobachtet aus einem | |
| > Strandkorb heraus das Haus ihrer Kindheit. Und dann ... | |
| Bild: Nicht die Autorin, nicht die Straße - aber Prenzlauer Berg (1987). | |
| Alle schreiben über die Hufelandstraße, den „Ku’damm des Ostens“, das | |
| Zentrum der Gentrification, das Paradebeispiel innerstädtischen | |
| Strukturwandels nach der Wende. [1][Der Fotokünstler Harf Zimmermann | |
| dokumentiert seit 1986 den Wandel dieses Straßenzugs im Prenzlauer Berg.] | |
| Wieso habe ich noch nie über die Hufelandstraße geschrieben? | |
| Ich sitze in einem Strandkorb und blicke auf das Haus, in dem ich den | |
| größten Teil meiner Kindheit verbracht habe, Hufelandstraße 26, Ecke | |
| Bötzowstraße. Die Fassade ist jetzt lindgrün, sie haben Stuck drangeklebt, | |
| aber die Haustür ist dieselbe wie 1986, als meine Eltern und ich in die | |
| Wohnung einzogen, am 20. Februar bei 15 Grad minus und einem Meter Schnee. | |
| „Das war alles in dem Jahr“, sagt meine Mutter. „Der Umzug, die | |
| Einschulung, Tschernobyl.“ Mein Vater rutschte aus beim Umzug und prellte | |
| sich das Steißbein. Er konnte zwei Wochen lang nicht sitzen. | |
| ## Beletage, erster Stock | |
| Ich fand die Wohnung scheußlich, am Anfang. Beletage, erster Stock. Zu | |
| groß, zu dunkel, zu hoch. Mein Kinderzimmer war ein riesiges Berliner | |
| Zimmer mit Fenster zum Hof. Unten im Haus war ein Friseur. Der | |
| Damenfrisiersalon „Modische Linie“. Dessen Lüftungsanlage befand sich genau | |
| unter meinem Kinderzimmerfenster. Den Geruch hab ich bis heute in der Nase. | |
| Eltern mit kleinen Kindern laufen an mir in meinem Strandkorb vorbei. Sie | |
| sprechen Englisch, Italienisch, Französisch. | |
| Anfang der 90er-Jahre zog Natalie in die Wohnung gegenüber. Natalie war | |
| Ende zwanzig, Studentin, Französin und wunderschön. Sie hatte eine kleine | |
| Tochter, Elena, ich durfte manchmal auf sie aufpassen. | |
| Natalie brachte mir bei, wie man Augenbrauen zupft und Beinhaare epiliert. | |
| Sie kannte jeden und redete unterunterbrochen. Als ich zum ersten Mal | |
| verliebt war, gab Natalie keine Ruhe, ehe sie den Knaben gesehen hatte. Das | |
| machte sie ganz subtil. Sie steckte den Kopf ins Kinderzimmer und flötete: | |
| „Hallo, ich bin die Nachbarin“, während er verunsichert auf dem Boden vor | |
| dem Plattenspieler kauerte. | |
| Der Hinterhof war eine Stein gewordene Tristesse. In der Fassade klafften | |
| die Einschusslöcher der Häuserkämpfe von 1945, darunter Mülltonnen, eine | |
| Teppichstange und ein mickriges, spindeldürres Bäumchen, das sich tapfer | |
| dem Licht entgegenstreckte. | |
| Auf der anderen Seite vom Hof wohnte Ronny, der sah aus wie ein Nazi, | |
| obwohl es die in der DDR offiziell nicht gab. Ronny stellte im Sommer immer | |
| die Boxen seiner Stereoanlage ins Fenster, damit auch bestimmt alle etwas | |
| davon hatten. Die Mutter von Ronny verbrachte die Abende meist im | |
| Bötzowstübl, der Kneipe, die ihre Lüftung ebenfalls auf den Hof raus hatte. | |
| Der Duft meiner Kindheit ist ein Friseur mit Kneipenbetrieb. Wenn Ronnys | |
| Mutter nach Hause kam, stellte sie sich in den Hof und sang aus vollem | |
| Hals: „Einmal um die ganze Welt und die Taschen voller Geld“. | |
| Wo früher die „Modische Linie“ war, ist heute ein asiatisches Restaurant, | |
| im ehemaligen Bötzowstübl ist ein Coffeeshop. | |
| ## Schweinbammel an der Stange | |
| In die Wohnung über uns war damals, gleichzeitig mit uns, Familie Reuter | |
| eingezogen, die hatten drei Kinder. Die älteste, Michele, war so alt wie | |
| ich. Zusammen spielten wir Schweinebammel an den Teppichstangen. Wir | |
| hängten uns in die Kniekehlen und schaukelten an den niedrigen Stangen hin | |
| und her. Frau Reuter arbeitete im Bäcker gegenüber – da, wo heute das Café | |
| drin ist, vor dem der Strandkorb steht, in dem ich sitze und dies schreibe. | |
| Nach der Wende zogen Reuters in ein Haus am Stadtrand, in ihre Wohnung | |
| zogen lauter gutaussehende Studenten. Ich war 17 und fand das sehr | |
| aufregend. Meine Mutter nicht. „Oh nee!“, rief sie. „Studenten! Die ziehen | |
| bestimmt die Dielen ab.“ Sie schrieb gerade an ihrer Habilitation und war | |
| etwas geräuschempfindlich. Eine Woche später setzten die Schleifmaschinen | |
| ein. | |
| Ich habe mich getraut, bin aus meinem Strandkorb aufgestanden und ins Haus | |
| geschlüpft, als jemand die Tür aufmachte. | |
| (Fortsetzung folgt) | |
| 13 May 2014 | |
| ## LINKS | |
| [1] http://www.hufelandstrasse-berlin.de | |
| ## AUTOREN | |
| Lea Streisand | |
| ## TAGS | |
| DDR | |
| Erinnerung | |
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