# taz.de -- Sexueller Missbrauch: Sie schweigen, er weint | |
> Eine schwierige Geschichte für die Grünen. Ein ehemaliger Büroleiter, | |
> Hans-Bernd K., soll Minderjährige missbraucht haben, auch im | |
> Wahlkreisbüro. | |
Bild: Mit Handschellen im Gerichtssaal: Hans-Bernd K. | |
GIESSEN taz | Die Liebigstraße in Gießen liegt in einem ruhigen Wohnviertel | |
mit vielen Villen aus der Jahrhundertwende. Hier, im Hochparterre des | |
Hauses mit der Nummer 83, hat der grüne Bundestagsabgeordnete Tom Koenigs | |
sein Wahlkreisbüro. Eine geschwungene Treppe mit sieben Stufen führt hinauf | |
zur Eingangstür, die dieser Tage für Journalisten meistens verschlossen | |
ist. Zumindest dann, wenn man sich nach Hans-Bernd K. erkundigen möchte, | |
der dieses Büro jahrelang geleitet hat. | |
Auch am Telefon möchte sich von den Grünen niemand zu Hans-Bernd K. äußern, | |
sein Name ist aus allen Verzeichnissen getilgt. Dabei hatte K. bei den | |
Grünen viele politische Funktionen inne. Er war stellvertretendes Mitglied | |
im Parteirat der hessischen Grünen, gehörte zum Kreisvorstand der Grünen in | |
Gießen, war in der Sportkommission ebenso tätig wie im Seniorenbeirat des | |
Landkreises. Alle Erinnerung an den ehemaligen Kollegen sind inzwischen | |
einer sorgfältigen „damnatio memoriae“ unterzogen worden. | |
Es ist, als habe es bei den Grünen nie einen Hans-Bernd K. gegeben, der | |
früher auf der Internet-Seite der Partei zu seinem politischen Engagement | |
schrieb: „Ich mache Politik für die Grünen, da sie sich am stärksten für | |
den Schutz von Minderheiten und die Wahrung der Menschenrechte einsetzen.“ | |
Heute steht da nur: „Tut uns leid“, und: „Leider konnten wir die gewünsc… | |
Seite nicht finden. Entschuldigen Sie bitte die Umstände.“ | |
Wer diese Umstände aufklären möchte, wird aus Gießen nach Berlin verwiesen, | |
wo sich Tom Koenigs meistens aufhält, wenn er nicht in der Welt unterwegs | |
ist. Der 70-Jährige hat für die Vereinten Nationen gearbeitet, | |
UN-Friedensmissionen in Lateinamerika geleitet, die Menschenrechtspolitik | |
des Auswärtigen Amtes verantwortet und sitzt seit 2008 im Vorstand des | |
UN-Kinderhilfswerks Unicef. | |
## Der Brief an Tom Koenigs | |
Am 2. Oktober 2013, die neue Fraktionsspitze der Grünen war gerade gewählt | |
worden, bekam Koenigs persönlich Post aus Gießen. Ein anonymer Brief, in | |
dem sein dortiger Büroleiter Hans-Bernd K. des sexuellen Missbrauchs von | |
Minderjährigen beschuldigt wurde. Koenigs reagierte umgehend, übergab den | |
Brief an die Polizei und veröffentlichte kurz darauf eine Stellungnahme: | |
„Ich war von den Vorwürfen schockiert und völlig überrascht (…). Zu den | |
Vorwürfen selbst kann ich nichts sagen. Die Ermittlungen liegen in der Hand | |
der Staatsanwaltschaft und der Polizei, die ich bei der Ermittlungsarbeit | |
unterstütze.“ | |
Zu diesem Zeitpunkt war Hans-Bernd K. bereits festgenommen, seine Wohnung | |
von der Polizei durchsucht worden. Oberstaatsanwältin Ute | |
Sehlbach-Schellenberg legte K. zur Last, seit 2007 bis unmittelbar vor | |
seiner Entdeckung sexuellen Missbrauch an mehreren Kindern verübt zu haben. | |
In mehreren Fällen soll der Mann drei Mädchen und einen Jungen sexuell | |
missbraucht haben. Die Kinder waren zum Zeitpunkt der mutmaßlichen Taten | |
zwischen sechs und zwölf Jahre alt. | |
Seit Ende März muss sich K. nun vor Gericht verantworten. Am heutigen | |
Donnerstag ist der letzte Verhandlungstag. Das Urteil wird am 14. Juli | |
erwartet. | |
K. wird auch die direkte und unerlaubte Weitergabe von Drogen an | |
Minderjährige vorgeworfen. Ferner soll er kinderpornografisches Material | |
besessen, das den Kindern gezeigt sowie an sich selbst sexuelle Handlungen | |
vorgenommen haben. In seiner Wohnung soll überdies Reizwäsche beschlagnahmt | |
worden sein – in Kindergröße. | |
## Büro durchsucht | |
Zeitgleich war auch das Büro in der Liebigstraße durchsucht worden, weil | |
mindestens eine der Taten in deren Räumlichkeiten begangen worden sein | |
soll. Entsprechend „fassungslos und entsetzt“ reagierten auch Kreisvorstand | |
und Kreistagsfraktion der Grünen: „Angesichts der schweren Vorwürfe fordern | |
wir ihn auf, eng mit Polizei und Staatsanwaltschaft zusammenzuarbeiten und | |
alles nur Mögliche zu tun, um zur Aufklärung der Vorwürfe beizutragen. Wir | |
erwarten von ihm, dass er alle Ämter und Mandate umgehend niederlegt. | |
Missbrauch von Kindern und Jugendlichen ist immer ein Verbrechen, das | |
besonders schwer wiegt. Für uns Grüne sind die erhobenen Vorwürfe kaum zu | |
ertragen.“ | |
Unerträglich nicht nur wegen der Ungeheuerlichkeit der Anschuldigungen. | |
Sondern auch, weil der Fall sich für die Grünen als politisches Torpedo | |
erweisen könnte. Dabei war es im Herbst 2013 in der öffentliche Debatte um | |
das skandalöse Verhältnis vieler „früher“ Grüner zur Pädophilie gerade… | |
wieder ein wenig leiser geworden. Und nun das. | |
Anton Hofreiter gab damals zu Protokoll: „Die widerwärtigen Verbrechen, die | |
ein Mitglied unserer Partei begangen hat, sollte man nicht vermischen mit | |
schrecklichen Debatten, auch wenn manches zusammenhängen mag.“ Vermutlich | |
erklärt sich daraus auch das Schweigen der Grünen. Auf allen Ebenen | |
herrscht Ruhe, sobald man sich nach dem Fall erkundigt, und selbst Tom | |
Koenigs verweist lediglich auf seine damalige Pressemitteilung. | |
Dabei herrscht ein begründetes Interesse an der Frage, inwiefern das | |
„widerwärtige Verbrechen“ tatsächlich mit den „schrecklichen Debatten“ | |
zusammenhängt, die in der Frühphase der Partei geführt worden sind. Hat | |
Hans-Bernd K. sich absichtlich bei den Grünen eingenistet, auf deren | |
Verständnis für seine Neigungen spekulierend? Ist er am Ende gar ein | |
Gespenst aus der Vergangenheit? Ein Überzeugungstäter also? Jedenfalls | |
verhält sich Hans-Bernd K. vor Gericht wie seine ehemaligen Kollegen, die | |
ihn längst aller Ämter enthoben und aus der Partei ausgeschlossen haben. Er | |
schweigt. | |
## Das übliche Gerede | |
In der Nachbarschaft gibt es das übliche Gerede. Seine Frau sei sehr nett | |
und tagsüber immer „auf Arbeit“ gewesen, erzählt eine Nachbarin, die auch | |
den Prozess verfolgt. Man könne aber in die „Leute nicht reinschauen“, und | |
außerdem habe er „die Sachen“ nie „im Garten gemacht“. Wenn er sie denn | |
gemacht habe, die Sachen. | |
Am Montag dieser Woche auf dem Weg in den Gerichtssaal, noch in | |
Handschellen, gibt sich Hans-Bernd K. erstaunlich leutselig und grüßt seine | |
Nichte, die später für ihn aussagen wird. Der 61-Jährige mit den weißen | |
Haaren trägt eine graue Strickjacke über einem blaukarierten Hemd. Wenn man | |
ihm zu lange in die Augen schaut, zwinkert er einem von der Anklagebank zu. | |
Unbewegt nimmt er auch die Aussagen einer Zeugin entgegen, einer | |
13-Jährigen, die mit ihrem Vater gekommen ist. Sie sei „ein paar Mal“ mit | |
den anderen Kindern – alle aus überforderten Familien, die zunächst noch | |
„dankbar“ für die Zuwendungen des Politikers waren – zu Hans-Bernd K. in | |
die Wohnung gegangen. Dort habe der Angeklagte mit den Kindern „Cola | |
getrunken“ und ihnen Süßigkeiten gegeben, und dann habe man „Fliegen“ | |
gespielt, wobei K. die Kinder aufs Bett warf: „Die anderen fanden das Spiel | |
voll lustig und meinten, ich soll das machen.“ | |
Weil sie dabei aber „zwischen den Beinen und am Bauch“ berührt worden sei, | |
folgte die Zeugin ihrem „komischen Gefühl“ und hielt sich seitdem von K. | |
fern. Weil das Kind jetzt zu „sexuellen Handlungen“ befragt werden soll, | |
schließt der Vorsitzende Richter die Öffentlichkeit aus. Die entsprechende | |
Befragung dauert fast anderthalb Stunden. | |
## Auch mal zotige Witze | |
Eine frühere Mitarbeiterin aus dem Wahlkreisbüro ist ebenfalls geladen. Sie | |
weiß mehr über ihren ehemaligen Chef zu berichten, den sie täglich in der | |
Liebigstraße erlebte. Ihre Aussage erhellte ein wenig den ernüchternden | |
Alltag der Parteiarbeit. Hin und wieder habe K. Kinder mitgebracht und | |
eines der Mädchen stolz als seine „Patentochter“ vorgestellt, die ihn „z… | |
Mittagessen“ abgeholt habe. Auch habe er von Nachbarskindern erzählt, die | |
bei ihm „ein und aus“ gehen würden. Sie habe K. als Mann eingeschätzt, der | |
„auch mal zotige Witze reißt“, mit seiner häufig abwesenden Frau aber ein | |
„eingespieltes Team“ gebildet habe. | |
Auf einer Fahrt mit drei weiteren Frauen zu einer Tagung nach Frankfurt | |
habe er sich im Auto „wie ein Hahn im Korb“ gefühlt und auch entsprechend | |
benommen. Dieses Verhalten und seine Offenheit, was seine Bekanntschaft mit | |
den Kindern anging, hätten bei ihr keinen Verdacht aufkommen lassen. Der | |
Umgang sei „ganz normal gewesen“, betonte die Zeugin: „Und ich bin in | |
dieser Hinsicht sehr sensibilisiert!“ | |
Aufgefallen sei ihr auch der Schreibtisch des Chefs, „ein einziges Chaos“, | |
und dass er „nur das Nötigste“ erledigt habe – was auch von der Zentrale | |
„aus Berlin“ beanstandet worden sei. Öffentlich sei Hans-Bernd K. gern | |
„damit hausieren gegangen“, für Tom Koenigs zu arbeiten: „Er saß gerne … | |
Kreistag.“ Intern allerdings soll er Klage darüber geführt haben, von dem | |
schmalen Gehalt nicht leben zu können. So habe er nur Veranstaltungen | |
besucht, „auf denen es etwas zu essen gab, das war ihm wichtig“. Vom | |
Richter direkt zum politischen Weltbild des Angeklagten befragt, erklärte | |
die Zeugin, K. habe „fachlich nichts beitragen“ können, „nicht genügend | |
Wissen und Können“ und im Grunde „auch kein Interesse an Politik gehabt.“ | |
Alle hätten das gewusst, sie sei davor sogar von Parteifreunden gewarnt | |
worden. | |
Zum Büro in der Liebigstraße hätten 15 Personen einen Schlüssel gehabt, es | |
sei „ein ständiges Kommen und Gehen gewesen, zu jeder Tages- und | |
Nachtzeit“. Und weil man nach Aufschließen der Tür „sofort im Büro“ st… | |
so die Zeugin auf Nachfrage, habe man sich dort auch nie unbeobachtet | |
fühlen können. Überall? Nein, da habe es einen „oberen Raum“ gegeben, et… | |
zwölf Meter vom Eingang entfernt, in den man nur durch mehrere andere | |
Zimmer gelangen könne. | |
Als es um seine Zeit bei den Grünen geht, nimmt Hans-Bernd K. einmal seine | |
Brille ab. Es sieht aus, als wollte er sie putzen. Er weint. | |
15 May 2014 | |
## AUTOREN | |
Arno Frank | |
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