# taz.de -- Fotoausstellung über Jugendliche: Bei Wolfskindern | |
> Der Fotograf Fabian Weiß hat Heimkinder besucht , um zu verstehen, warum | |
> so schlecht über Jugendliche berichtet wird. Er hat sie anders erlebt. | |
Bild: Plötzlich, im tiefen Nirgendwo, etwas finden, worauf man stolz sein kann… | |
HAMBURG taz | Kein Mittelfinger wird ausgestreckt, keine Hand ruht im | |
Schritt. Niemand posiert, niemand rauft. Fabian Weiß hat Jugendliche | |
fotografiert, von denen wir meinen, wir könnten sie uns sofort bildhaft | |
vorstellen, wenn nur bestimmte Worte fallen: problematisch, | |
verhaltensauffällig, straffällig. Jugendliche, die man aus ihren Familien | |
genommen hat, nicht immer mit deren Zustimmung, oft genug gegen sie. | |
Zu sehen ist Weiß’ Serie „Wolfskinder“ derzeit in der Hamburger Fotogale… | |
Freelens, unten am Hamburger Hafen. „Wolfskinder“ – so nennt Weiß die | |
Reihe, weil ihn die mythische Vorstellung beschäftigt hat, wonach im Wald | |
zurückgelassene Kinder von Wölfen großgezogen werden, aber doch eines Tages | |
aus dem Wald zurück unter die Menschen wollen und ja auch müssen. Und warum | |
das Thema? Da kommt – es geht am Ende immer um die Familie – erstmal seine | |
Mutter mit ins Spiel. | |
Die arbeitet als Psychologin, hatte beruflich immer wieder mit der | |
Jugendhilfe zu tun und Fabian Weiß, als er noch zu Hause wohnte, bekam das | |
nicht zusammen: das, was in den Medien über diese Jugendlichen berichtet | |
und immer auch behauptet wurde, und das, was ihm seine Mutter von ihren | |
Begegnungen mit ihnen erzählte. | |
Nun also hat der 27-Jährige sie aufgesucht, hat sie in Pflegestellen und | |
Heimen besucht, meist fernab der Städte, aus denen sie ursprünglich kommen; | |
in Deutschland, in Österreich, in abgeschiedenen Gegenden Polens und | |
Mittelschwedens, wo man keinesfalls unbegründet auf die Heilkraft der Natur | |
setzt, also die von Landschaft, Tieren, Bäumen, Wolken, Wasser, Ruhe und | |
Langsamkeit. Er hat sie dort begleitet und dabei sehr oft auf den Auslöser | |
gedrückt. Er hat sich Zeit genommen, hat sich ihre Zimmer zeigen lassen, | |
ihre Schränke, ihre Habseligkeiten, Briefe und Tagebücher, und hat auch | |
diese abgelichtet. | |
Zu viel Sehnsucht | |
Weiß zeigt einen Fragebogen vor: Ein Jugendlicher sollte, als man ihn | |
aufnahm, eintragen, was er gerne macht. „Mit Freunden treffen und Party | |
machen“, hat der geschrieben, aber das mit dem „Party machen“ lieber wied… | |
durchgestrichen. So klingt es harmloser und zeigt ihn zugleich als einen, | |
der weiß, dass man manches besser für sich behält. So wissen beide Seiten | |
auf ihre Weise übereinander Bescheid. | |
„Er hat ein bisschen zu viel Computer gespielt, die Schule vernachlässigt. | |
Die Eltern haben ihm Nachhilfeunterricht organisiert, da ist er nicht | |
hingegangen. Die Eltern haben die Jugendhilfe eingeschaltet, die hat ihn in | |
einem Heim untergebracht. Da hat er Eltern und Freunde so vermisst, dass er | |
abgehauen ist und nun sitzt er in einer geschlossenen Einrichtung. Das ist | |
ein ganz typischer Weg“, berichtet Weiß von einem anderen Jugendlichen. | |
Er zeigt auf das Foto der 15-jährigen Jennifer, die seltsam | |
verloren-trotzig auf ihrem Bett sitzt und die eigentlich nur für drei | |
Monate in einer sogenannten Klärungsstelle untergebracht werden sollte. | |
Aber jetzt ist sie schon neun Monate dort, weil niemand da ist, der weiß, | |
wo sie hin soll und niemand da ist, der sie haben will. Sie hat an ihre | |
Zimmertür ein Schild gepinnt, das Weiß ebenfalls zeigt und auf dem zu lesen | |
ist: „Ich vermisse meine Mama. Ich brauche Aufmerksamkeit – jetzt! Von | |
Dir!“ | |
Aktuell lebt Fabian Weiß, der aus dem Allgäu kommt und Fotografie in Wien, | |
Aarhus und London studiert hat, in Estland. Na, wegen der Liebe! Und dann | |
ist es auch noch ganz sinnig und praktisch: „Warum hätte ich nach meinem | |
Master als junger Fotograf nach Berlin oder Hamburg gehen sollen, wo es | |
schon tausende Fotografen gibt und wo ich mir mühsam meinen Platz hätte | |
erkämpfen müssen.“ | |
Andersrum dauert es von Tallinn aus vier Stunden mit dem Zug nach St. | |
Petersburg, im Hafen liegen die Fähren nach Schweden und Finnland und genau | |
genommen ist es auch nach Deutschland nicht wirklich weit. So, an der | |
Schnittstelle zwischen Nord, West und Ost vor Ort, entstanden zuletzt | |
Reportagen aus Georgien und Russland, aus Rumänien, der Slowakei, der | |
Ukraine, aus Transnistrien. Einige Serien sind preisgekrönt – so wie | |
„Wolfskinder“, ausgezeichnet unter anderem mit dem Deutschen Fotobuchpreis. | |
Oft sieht man die Gesichter seiner „Wolfskinder“ nicht in gewohnter | |
Deutlichkeit. Weiß brauchte je die Erlaubnis, sie öffentlich zeigen zu | |
können, mal von den Eltern, oft aber auch vom jeweiligen Vormund oder dem | |
Jugendamt. Und das war mal nicht bereit dazu, dann einverstanden, dann | |
wieder zog es sein Einverständnis zurück. | |
Manchmal sei man seinem Anliegen gegenüber aber auch überraschend positiv | |
gestimmt gewesen. Etwa als er in Düsseldorf in einer Jugendarrestanstalt | |
fotografieren wollte, wo die Jugendlichen auf ihren Gerichtstermin zu | |
warten haben: „Ich hatte keine große Hoffnung, dass man mich reinlassen | |
würde, habe trotzdem angerufen und die sagten: ’Kommen Sie doch morgen mal | |
vorbei.‘“ Und Weiß kam. | |
Frei durch die Wälder | |
Es sind die einzigen Fotos, die die Jugendlichen eingesperrt zeigen. Sonst | |
aber streifen sie durch die Wälder, angeln Fische, fahren über einen See. | |
„Am Ende sind es ganz normale Jugendliche mit ganz normalen Wünschen und | |
Sehnsüchten“, sagt Weiß. Wie der 13-jährige Niko, der ihm nicht nur stolz | |
den Hof zeigte, auf dem er nun bei einer Pflegefamilie im tiefen | |
Mecklenburgischen wohnt, sondern auch, dass er auf diesen Pferden nun | |
reiten kann, und Weiß, der noch nie geritten ist, blieb nichts anderes | |
übrig, als auch auf eines zu steigen. | |
Die Bilder sind angenehm Erwachsenen-frei. Keine dicken Schlüsselbunde | |
hängen an Hosengürteln, keine Dienstpläne wurden abfotografiert. Um | |
darzustellen, dass die Erwachsenen anwesend sind, reicht ein kluges Bild: | |
Fünf Jugendliche sitzen an einem Tisch, schauen gemeinsam auf eine Sanduhr, | |
in der die Zeit verrinnt, sie absolvieren eine Schweigeminute wegen | |
irgendeines Fehlverhaltens. | |
Weiß hofft nun sehr, dass nicht nur das Fotopersonal kommt, um die sorgsam | |
gehängten Bilder zu begutachten, sondern auch der eine oder andere | |
Sozialarbeiter – in so einem Kunstraum bekommt man ja vielleicht mal einen | |
anderen Blick auf seine Arbeit, ohne dass man das anschließend im Team | |
ausdiskutieren muss. | |
Eines der schönsten Fotos –wenn man das so sagen will – zeigt den | |
15-jährigen Felix, der ein Huhn hochgehoben hat, auf Höhe seines Gesichts, | |
und das Huhn schaut uns Betrachter sehr aufmerksam an. Okay, auch von | |
diesem Jugendlichen durfte nicht das Gesicht gezeigt werden, aber das ist | |
nicht der Grund für die Bildkomposition. Weiß sagt: „Er hat ein Huhn hoch | |
genommen, und wollte mir zeigen, dass Hühner nicht fliegen können.“ Können | |
sie ja auch nicht. | |
## Ausstellung: bis zum 26. 6., Mo. bis Fr. 11 - 18 Uhr, Freelens Galerie, | |
Steinhöft 5, nahe Baumwall; | |
## Fabian Weiß: Wolfskinder, Edition Lammerhuber 2013, 160 Seiten, 39 Euro | |
2 Jun 2014 | |
## AUTOREN | |
Frank Keil | |
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