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# taz.de -- Der sonntaz-Streit: In diesem Sinne: ;-)
> Müssen wir um das Semikolon trauern? Nein, findet Grammatikexperte
> Bastian Sick. taz-Leserin Marlou Lessing dagegen will den Verlust nicht
> hinnehmen.
Bild: Na, wer hat schon mal ein Semikolon benutzt?
Das Semikolon verliert an Bedeutung – das zeigt eine [1][Grafik] der
Washington Post. Während Mark Twain in seinem 1876 veröffentlichten
Beststeller „The Adventrues of Tom Sawyer“ noch neun Semikola auf 1.000
Wörtern verwandte, benutzt Stephenie Meyer in „Twilight“, das 2005
erschien, bei gleicher Wortzahl nur noch 1,9 Semikola.
Ein beachtlicher Niedergang. taz-Leserin Marlou Lessing, die auf
Plattdeutsch dichtet, gehört zu denen, die diesem Niedergang die Stirn
bieten wollen. Sie schrieb für den sonntaz-Streit in der aktuellen taz.am
wochenende eine Liebeserklärung an das Semikolon.
Darin argumentiert sie, dass die Bereitschaft eines Autors, den Strichpunkt
zu setzen, auch etwas über seinen Charakter aussagt: „Die Leute, die mit
Punkt und Komma bestens bedient sind, sind oft dieselben Leute, die allem
misstrauen, das sich nicht in Euro und Cent ausdrücken lässt; die in den
Medien die komplexesten Zusammenhänge in fünf Sätzen „erklärt“ bekommen
wollen und in den Schulen die Kinder von klein auf zu
Wirtschaftstauglichkeit und beruflicher Effizienz drillen.“
Lessing fordert, diese Menschen durch häufige Semikola zu verunsichern:
„Denn auch in ihnen schläft ein verschüttetes Semikolon!“ Anders sieht das
der Bestseller-Grammatikexperte Bastian Sick, Verfasser des Buches „Der
Dativ ist dem Genetiv sein Feind“: Sick sieht im Semikolon, wenn überhaupt,
nur ein Mittel der Verfeinerung. Im sonntaz-Streit formuliert Sick es so:
„Unter den Satzzeichen ist das Semikolon in etwa das, was unter den Fällen
der Genetiv ist: Man muss es nicht beherrschen, um über die Runden zu
kommen.“
## Unpräzise Formulierungen
Auch der Sprachwissenschaftler Anatol Stefanowitsch, bekannt geworden durch
das Bremer Sprachblog und heute Professor an der FU Berlin, sieht kaum noch
Notwendigkeit, das Semikolon zu benutzen. Er befürchtet eher, dass das
Semikolon dazu verführt, unpräzise zu formulieren. Mit dem Semikolon könne
man „eine Beziehung zwischen Sätzen herstellen, ohne darüber nachzudenken,
worin diese Beziehung besteht. Aber spätestens beim Lesen rächt sich diese
Ungenauigkeit.“
Im Verschwinden dieses Satzzeichens gleich einen allgemeinen Kulturverfall
sehen zu wollen, findet er übertrieben; dennoch gönnt er dem sterbenden
Semikolon diese letzte Aufmerksamkeitsbezeugung: „So findet es kurz vor
seinem Ende doch noch eine Daseinsberechtigung.“ Theodor Adorno sah dieses
Ende dadurch begründet, dass schon vor 40 Jahren niemand mehr Zeit und Lust
hatte, lange, verschachtelte Sätze, sogenannte „Perioden“, zu lesen. Um
ihre Texte verkaufen zu können, passten sich erst Redakteure und dann auch
Schriftsteller ihren faul gewordenen Lesern an.
Dabei geht es beim Semikolon um weit mehr als Interpunktion. Denn in diesem
Fall, sagt Adorno, „lassen sich Sprache und Sache nicht trennen. Durch das
Opfer der Periode wird der Gedanke kurzatmig.“ Allerdings schätzte Adorno
das Semikolon nicht nur für den langen Atem, den es dem Leser abverlangt,
sondern auch für seine Ästhetik: „Das Semikolon erinnert optisch an einen
herunterhängenden Schnauzbart; stärker noch empfinde ich seinen
Wildgeschmack.“
## Hintergründig wie die NSA
Einige taz-Leser stellen dagegen im sonntaz-Streit in Abrede, dass das
Semikolon überhaupt bedroht sei. Zumindest aus der Welt des Internets und
der Computer sei das Semikolon heute nicht mehr wegzudenken, sagt Ulli
Bulli, der unseren Streit auf Facebook kommentierte: „Keine
Programmiersprache, kein HTML, fast kein Codeschnipsel ohne Semikolon. Im
Prinzip ist das Semikolon wie die NSA, im Hintergrund immer dabei. In
diesem Sinne: ;-).“
Auch Autor Bastian Sick war sich sicher: Das zwinkernde Emoticon wird dem
Semikolon „für mindestens eine weitere Generation das Überleben sichern.“
Und tatsächlich: Ganz ohne Augenzwinkern kam auch dieser poetische Nachruf
auf das Semikolon nicht aus, den uns ein taz.de-Leser geschickt hat: "Vom
Strichpunkt befreit sind kurze und flache / Sätze durch Schreiberlings
fehlend` Geschick; / Dem Komma grünet Hoffnungsglück; / Das Semikolon, das
alte, schwache, / Zieht sich in die Belletristik zurück. / ;"
Die Streitfrage diskutieren außerdem Radio-Bremen-Vier-Moderator Jens-Uwe
Krause, Typografie-Professorin Sybille Schmitz, die Münchner
Schülersprecherin Nathalie Wiesheu und taz-Leser Felix Kutschinski.
7 Jun 2014
## LINKS
[1] http://knowmore.washingtonpost.com/2014/05/27/the-decline-of-the-semicolon-…
## AUTOREN
Julia Ley
## TAGS
Streitfrage
Sprache
Theodor W. Adorno
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