# taz.de -- 90 Jahre Eigenart: Ein Mann fällt aus der Zeit | |
> Die Deichtorhallen in Hamburg-Harburg zeigen das Werk des Surrealisten | |
> Gianfranco Baruchello. Für die Kunst verkaufte er sein Erbe. | |
Bild: Baruchello spielt mit den surrealen Reizen der Objets trouvés | |
HAMBURG taz | Ach ja, der Surrealismus. Ist lange her, dass es ihn gab, | |
dass er wirkte, einerseits. Andererseits ist da sofort dieser | |
Wiedererkennungsgenuss, schaut man auf eine Malerei, wo sich ein | |
menschlicher Körper traumwandlerisch aufzulösen scheint. Das Bild ist von | |
Gianfranco Baruchello, ist Opener der ihm gewidmeten Retrospektive in der | |
Sammlung Falckenberg in Hamburg-Harburg, nun seit längerem Teil der | |
„Deichtorhallen“. | |
Und dann geht es nahezu chronologisch weiter, Stockwerk für Stockwerk durch | |
die fünfeinhalb Jahrzehnte, die der 1924 in Livorno geborene italienische | |
Künstler nun schon am Schaffen ist, seit er 1959 die väterlicherseits | |
ererbte Firma mit einem Schlag verkaufte, um Künstler zu werden. | |
Gianfranco Baruchello? Es muss einem nicht unangenehm sein, wenn man seinen | |
Namen noch nie gehört hat, auch wenn man zu den kunstbeflissenen | |
Zeitgenossen gehört. Trotz zweimaliger Teilnahme an der documenta (1972 und | |
2012) und trotz fünfmaliger an der Biennale in Venedig (1972, 1988, 1990, | |
2004 und zuletzt 2013) ist er ein weitgehend unbekannter Künstler | |
geblieben. Es fehlt seinem Werk schlicht das Spektakuläre, das | |
Hemdsärmelige, das Kalkulierte, das sonst dafür sorgt, dass ein Künstler | |
schlagartig bekannt wird, worauf hin er es nur noch schaffen muss, das | |
einmal gewonnene Interesse am köcheln zu halten. | |
## Mentor Duchamp | |
Baruchello ist aber auch nicht der große Schweiger, der durch das | |
Verweigern von Informationen Aufmerksamkeit zu erwecken versucht. Er hat | |
immer viel über seine Arbeiten und die begleitende Gedankenwelt | |
geschrieben, hat sich aber konsequent dem Spiel von Trend und Gegentrend | |
entzogen und folgt damit seinem großen Mentor Marcel Duchamp, den er 1962 | |
in New York kennenlernte und der ihn in die Kunstszene einführte. | |
Schnell verlässt Baruchello damals die traditionelle Bildwelt des | |
Surrealismus, er geht ins Dreidimensionale, entwickelt seine weißen Bilder, | |
kunstvoll drapiert mit kleinsten Zeichen und Szenen, getränkt von manchmal | |
comichaftem Witz. An Landkarten erinnern diese Bilder, an Skizzen von | |
Ausgrabungsstätten, an Stadtpläne, an Bedienungsanleitungen, an anatomische | |
Schnitte. | |
Überhaupt ist sein Oeuvre breit angelegt: Zeichnungen, Collagen, Objekte, | |
Filme. Zugleich hat er seine Erdung durch die Psychoanalyse nicht | |
vergessen, wie eine seiner jüngsten Arbeiten zeigt: Wir stehen vor der | |
Installation „Piccolo Sistema“, einer Art Labor mit Untersuchungstisch, | |
Modellen und Tinkturen. Nur dass auch eine Art Schlafbank dazugehört – | |
nicht allein um sich von all dem Forschen und Analysieren zu erholen, | |
sondern im Gegenteil, um neue Erkenntnisse zu gewinnen: denn im Schlaf geht | |
alles weiter, fängt mancher Denk- und Erkenntnisprozess oft erst an. | |
Es gibt zwischendurch, da sind wir in den späten 60er-Jahren angekommen, | |
eine politische Phase in seinem Werk, die zum damaligen Mainstream der | |
amerikanischen und später der europäischen Gegenwartskunst passt: | |
Baruchello entwirft 1966 inmitten des entfesselten Vietnamkrieges sein | |
„Multipurpose Object“, eine Mischung aus Gewehrschloss, Flaschenöffner und | |
Handschmeichler, das bestens geeignet sei, um das schnelle Entsichern von | |
Waffen ohne hinzugucken zu üben, bis es sich automatisiert. Das lässt sich | |
auch als ironische Replik zum automatischen Schreiben und Zeichnen lesen, | |
das die Surrealisten erst praktizierten, dann zum Kult erhoben. Baruchello | |
bietet dieses obskure Gerät dem Pentagon an, das nach reichlicher Prüfung | |
das Vorhaben freundlich ablehnt – ohne die künstlerische Intention je | |
verstanden zu haben. | |
Auch einige seiner neueren Werke kann man vorsichtig gesellschaftskritisch | |
deuten, etwa seine Serie „Poisonous Plants“: Auf mehreren Beeten wächst | |
sehr ordentlich allerlei Grünzeug vor sich hin. Doch tatsächlich sind es | |
alles Giftpflanzen, die vom Museumspersonal sehr pfleglich behandelt werden | |
und uns darauf hinweisen, wie wenig wir von der botanischen Welt noch | |
wissen. | |
Überhaupt – das Grün und mehr noch das Wuchern, das Wachsen, das man ordnen | |
will und das sich nicht ordnen lässt, das ist und bleibt ein großes Thema | |
des Gianfranco Baruchello. Zuweilen auch im großen Maßstab, denn | |
zwischendurch – 1973 war es und er selbst ging unausweichlich auf die 50 zu | |
– hat ihn die große Krise befallen, und er hat das Malen, Zeichnen, | |
Collagieren und auch das Filmen zwar nicht ganz sein gelassen, aber sich | |
wie eine Art Gegengewicht am Rande von Rom einen bäuerlichen Betrieb | |
gekauft. | |
Zehn Hektar Grund und Boden, um darauf Schafe und Schweine halten, | |
Getreide, Rüben und Mais anbauen zu lassen; dazu ein ordentliches | |
Herrenhaus – sein Projekt „Agricola Cornelia“. Doch nach ein paar Jahren | |
war die Krise wieder überwunden. Baruchello hat zudem schnell eingesehen, | |
dass er nicht zum Bauern taugt und heute hat sich das einstige Agrarstück | |
in einen verwilderten Garten zurück verwandelt. Im Herrenhaus residiert | |
eine riesige Bibliothek und junge Künstler erhalten in den ehemaligen | |
Stallungen und Wirtschaftsräumen die Möglichkeit, während mehrmonatiger | |
Stipendien sich startklar für den Markt zu machen. | |
## Kein Verhältnis zum Geld | |
Er seinerseits brauchte Geld nie. Er hatte immer genug davon, und er | |
scheint auch einen recht laxen Umgang damit zu pflegen. Hausherr und | |
Sammler Harald Falckenberg erzählt: „Ich bin mit ihm durch die Ausstellung | |
gegangen, hab hin und wieder gefragt ’Sag mal, was willst du dafür haben?‘ | |
und er ’Hunderttausend‘ oder ’Zweihunderttausend‘ und ich ’Du bist do… | |
verrückt!‘, aber er verlangt’s eben.“ Und Falckenberg zuckt mit den | |
Achseln, so sind eben die Künstler: Die einen wollen um jeden Preis was | |
verkaufen und die anderen gerade nicht. | |
Und es ist wohl dieser Souveränität zu verdanken, dass man in dieser | |
Ausstellung einen Künstler kennenlernen kann, der von heute aus gesehen | |
immer wieder sehr charmant aus der Zeit gefallen ist und der doch frisch, | |
munter und ganz und gar gegenwärtig wirkt. Apropos Zeit: Noch während die | |
Ausstellung läuft, wird Baruchello seinen neunzigsten Geburtstag feiern | |
können. Er wird es sich nicht nehmen lassen, bei der Gelegenheit erneut in | |
Hamburg-Harburg vorbeizuschauen. | |
## Die Ausstellung endet am 28. September. Eine Führung kann man buchen | |
unter oder telefonisch: 040 / 325 06 762 | |
11 Jul 2014 | |
## AUTOREN | |
Frank Keil | |
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Kunst | |
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