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# taz.de -- Schlagloch Ramadan: Radikale Selbstverlangsamung
> Es ist nicht leicht: Im Genuss das Wissen um das Leiden anderer nicht zu
> vergessen, das ist die Herausforderung beim vierwöchigen Fasten.
Bild: Fastenbrechen in Pakistan.
Nachdem ich im Ramadan des vergangenen Jahrs bereits Schelte bekommen habe,
weil ich schrieb, nur halbtags gefastet zu haben, setze ich diesmal noch
einen drauf: In diesem Jahr habe ich nur die erste Woche gefastet! Trotzdem
wollte ich wenigstens eine der Lehren, die jeden Ramadan so kostbar machen,
auch in den restlichen drei Wochen beherzigen; und zwar habe ich versucht,
jede Mahlzeit, jeden Snack und jedes Glas Wasser so zu mir zu nehmen, als
sei es beim Iftar (Fastenbrechen). Als wäre ich durstig und ausgehungert
und als könnte ich jedes bisschen Nahrung wertschätzen wie ein Geschenk.
Es gibt auch meditative Achtsamkeitsübungen, bei denen man aufmerksamer,
bewusster essen soll – man kann eine Viertelstunde mit einer einzigen
Rosine zubringen, habe ich einmal gehört. So weit ging ich nun nicht, und
trotzdem war es eine sehr schöne Erfahrung. Und ziemlich schwer übrigens.
Selbstauferlegte Verlangsamung. Respekt vor der Nahrung und auch vor dem
eigenen Körper, der ja kein Auto ist, das man einfach an einer Tankstelle
volllädt. Erst wenn man sich zwingt, für jeden noch so kleinen Happen den
Tisch zu decken und sich zu setzen, merkt man, wie oft man gar nicht
wirklich „hinschmeckt“, sondern etwas im Stehen runterschlingt oder es sich
am Schreibtisch reinstopft. Die Dinge beginnen, intensiver zu schmecken,
auch so vermeintlich schlichte Dinge wie Obst und reines Wasser. Man
bemerkt, wie gut wir doch versorgt sind. Kurzum: Man lernt Dankbarkeit.
Und doch hängt diese Feststellung, dass wir so gut versorgt sind,
offensichtlich davon ab, wer hier das „Wir“ ist: Es sind nicht alle sind
gut versorgt. Diese anderen sollen wir nicht vergessen, und trotzdem das
Eigene auskosten und wertschätzen? Keine leichte Gratwanderung, und das
Problem stellt sich natürlich nicht nur dem religiösen Menschen, sondern
auch im säkularen Kontext. Bei mir zog es sich durch diesen gesamten
Ramadan.
## Krieg dort, Wassermelone hier
Zum ersten Mal wurde es mir an jenem Abend klar, als Deutschland haushoch
gegen Brasilien gewann. Grundsätzliche Fußball- und Fifa-Bedenken einmal
außen vor gelassen: Die erste Halbzeit mit ihrer flotten Torfolge hatte
etwas Berauschendes. Dann, in der Halbzeitpause, die Nachrichten: Raketen
auf Tel Aviv und auf Gaza. Eben Euphorie, jetzt Entsetzen. Mancher
Fernsehmoderator hat den Umschwung nicht elegant hinbekommen, aber man kann
das verstehen, denn: Wie sollen zwei solche Meldungen in dieselben
Nachrichten passen? Müsste man nicht eigentlich die zweite Halbzeit absagen
oder die Live-Berichterstattung aus Pietätsgründen abblasen? Natürlich
undenkbar. Also werden nach den Bildern aus Gaza erneut die brasilianischen
Tore eingespielt und wieder gejubelt. Ein bisschen beklommener vielleicht,
aber auch fröhlich.
Da begegnet uns diese unfassbare Gleichzeitigkeit des Unvereinbaren, und
wir finden sie überall. Auch wenn in einem Teil der Welt Krieg ist, muss
anderswo eine Hochzeit gefeiert oder, ganz banal, Geschirr abgespült
werden. Irgendwo anders herrscht Dürre, aber hier genieße ich kühle
Wassermelone. Es wäre ja auch bescheuert, sie abzulehnen, nur weil nicht
jeder eine hat – aber manchmal habe ich das Gefühl, dass mein Kopf einfach
zu klein ist, um so viel Gegensätzliches aufzunehmen.
An einem Tag dieses Ramadan bin ich ans Meer gefahren, an die Lübecker
Bucht, sie ist keine zwei Stunden von hier entfernt. Seit Jahren hatte ich
diese Fahrt vor, ich liebe das Meer, dies Mal kam eine Freundin mit, wir
hatten Picknick eingepackt. Keine zwanzig Kilometer gefahren, kamen wir an
einem Schweinetransporter vorbei. Dreistöckig, durch die Lüftungsschlitze
sah man die langen rosa Rücken. Was ist das für eine Welt, in der manche
zum ersten Mal Sonne auf ihrer Haut spüren – auf der Fahrt zum Schlachthof?
Und ich fahre zum Strand und habe Badeanzug und Sonnencreme dabei.
Am Strand angekommen, kreischten wir wie Kinder „Das Meer! Das Meer!“ Und
wie es roch, und wie es sich anfühlte! Wir wateten durch die seichten
Wellen, aßen belegte Brote und Erdbeeren, rubbelten uns den Sand von den
Waden.
## Ist Vergangenes weniger real?
Was ich meiner Freundin nicht sagte, war der Grund, warum ich mich mit der
Lübecker Bucht etwas schwer tue: Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs wurden
Häftlinge aus dem KZ Neuengamme auf Schiffe deportiert, die in die Lübecker
Bucht ankerten. Diese Schiffe wurden von den Briten, die davon nichts
wussten, beschossen und am 3. Mai 1945 zum Untergang gebracht. Die
wenigsten Flüchtlinge konnten ans Ufer schwimmen, teilweise wurden sie noch
in den Rettungsbooten beschossen. Etwa 6.400 von 7.000 KZ-Insassen
verbrannten. Skelettteile und unbestattete Opfer liegen immer noch auf dem
Meeresgrund.
Ich kann meine Füße nicht in dieses Wasser stecken, ohne zumindest kurz an
diese Unglücklichen zu denken. Auch im Mittelmeer sind gerade wieder 181
Flüchtlinge umgekommen. In jedem Meer liegen unzählige Tote. Ist ein Leid
aber, weil „lange her“, wirklich ausgelöscht? Ich rätsele immer wieder, w…
man die moralischen Implikationen der Zeit – oder umgekehrt: die Bedeutung
der Zeit für die Moral – philosophisch angemessen beschreiben soll. Denn
auch wenn ein Leid in der Vergangenheit liegt und „vergangen“ ist, ist es
doch dadurch nicht weniger real. – Oder?
Ich habe keine Lösung für dieses Rätsel, keine Antwort auf die selbst
gestellten Fragen. Das Wort „Dankbarkeit“ jedenfalls sagt sich so leicht
und enthält doch beides, fast Unversöhnliches. Einerseits dürfen, nein:
sollen wir das uns Gegebene vollständig, in tiefen Zügen, wie unbeschwert
genießen. Anderseits dürfen wir die nicht vergessen, denen solcher Genuss
unmöglich ist; wir müssen den Stachel des Mitleids fühlen, nicht zuletzt,
um, wo möglich, für mehr Gerechtigkeit einzutreten. – Beides gleichzeitig
zu bedenken und zu beherzigen, darin liegt für mich die Übung des Ramadan.
29 Jul 2014
## AUTOREN
Hilal Sezgin
## TAGS
Ramadan
Fasten
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Ramadan
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