| # taz.de -- Allein unter Vögeln: Der Aussteiger | |
| > Reinhart Brandau hat alles hinter sich gelassen: seinen Job, seine Kunst | |
| > – und auch die Menschen. Er redet lieber mit den Vögeln. | |
| Bild: Auf Augenhöhe lebt Reinhart Brandau mit Vögeln aller Art | |
| WORPSWEDE taz | Reinhart Brandau hat eine beschissene Wohnung. Auf dem | |
| Fußboden, an den Wänden, auf dem Telefon, auf den Schränken – überall kle… | |
| Vogelscheiße. Obwohl nur eine Tür sein Arbeitszimmer vom wunderschönen, | |
| bewaldeten Garten der Worpsweder Mackensen-Villa trennt, in deren hinterem | |
| Teil Brandau lebt, raubt es einem beim Eintreten den Atem: Es ist stickig, | |
| stinkig und dreckig, die dunkelbraunen Spinnweben und Staubmäuse erzählen | |
| unter der Heizung und in den Ecken viele Geschichten aus vielen Jahren. | |
| „Ich müsste mal wieder aufräumen“, sagt mit einem schelmischen Lächeln d… | |
| Gastgeber. | |
| Dabei kommt das „Vogelzimmer“ erst noch, der Raum, wo Brandaus Pflegevögel | |
| vorwiegend leben. „Zeitweise hatte ich hier vierzig Stück auf einmal“, | |
| erzählt er – und deren Hinterlassenschaften, so scheint‘s, sind noch nie | |
| entfernt worden. Der reich verzierte, alte Bauernschrank im Vogelzimmer: | |
| von oben bis unten vollgeschissen. Eine Staffelei mit einem Aquarell von | |
| Brandau, das Cover seines vorletzten Romans: vollgeschissen. Fenster, | |
| Fußboden, Tisch: alles voll mit frischem und verkrusteten, scharf | |
| riechendem Vogelkot. | |
| Wenigstens auf sich selbst scheint der 77-Jährige zu achten: Seine langen | |
| Haare und sein Bart wirken ebenso frisch gewaschen wie seine Klamotten, | |
| deren Funktion er in den höchsten Tönen lobt: „Diese Hemden halten ewig! | |
| Und die vielen Taschen sind so praktisch!“ Er kauft immer die gleichen | |
| Sachen, näht sie unzählige Male, flickt sie mit bunten Stoffen, solange, | |
| bis es nicht mehr geht. Aber auch dann kommen sie nicht in den Müll, | |
| sondern an die Wand: „Das ist Klamotten-Kunst“, sagt Brandau über seine | |
| Patchwork-Werke. Und diese Kunst ist, natürlich, ebenfalls vollgeschissen. | |
| ## Eine unstillbare Sehnsucht | |
| Reinhart Brandau ist das, was man wohl einen klassischen Aussteiger nennt. | |
| Wie das kam, erzählt er in seiner vierteiligen Biografie, erschienen im | |
| Selbstverlag oder, wie es auf dem Cover heißt, bei „Bird Books Worpswede“. | |
| Er schreibt teils sehr charmant und humorvoll über seine Kindheit, wo er im | |
| Keller seiner Großeltern zwischen Äpfeln, Kartoffeln und eingemachten | |
| Mirabellen die Bombenangriffe auf Hamburg erlebte. Von den Umzügen nach | |
| Bremen und nach England, wo er einen Teil seiner Jugend verbrachte. | |
| Aber auch von seinem Beruf als Flugzeugbauer, seiner Unzufriedenheit und | |
| seiner Sehnsucht nach einem anderen Leben, die ihn nach vielen Jahren der | |
| Wanderschaft schließlich nach Worpswede führte. Lange Jahre verdiente er | |
| sein Geld als Silberschmied, fing an zu malen, widmete sich der Bildhauerei | |
| – und über allem flogen von Anfang an die Vögel. | |
| „Schon meine Mutter zog elternlose Vögel groß“, erzählt Brandau. Mit ihn… | |
| aber auch mit Elfen und anderen Wesen aus seiner Phantasiewelt sprach er | |
| als Kind lieber als mit seinen Mitmenschen, „und zum großen Teil ist das | |
| bis heute so geblieben“, sagt er. Zumindest die Nähe zu den Vögeln: Äußer… | |
| sozial seien die, niemals berechnend und egoistisch, „sie sind einfach da | |
| und richten keinen Schaden an.“ Und sie sind laut Brandau in der Lage, mit | |
| Menschen zu kommunizieren – zumindest mit ihm. Das hat er vor gut 35 Jahren | |
| festgestellt, durch eine Nebelkrähe namens Mecki. | |
| ## Freunde auf Augenhöhe | |
| Gemeinsam mit einer Freundin nahm sich Reinhart Brandau damals des wenige | |
| Wochen alten Vogels an, der aus dem Nest gefallen war. Ihm lasen sie wie | |
| einem Kind zum Einschlafen Wilhelm-Busch-Gedichte vor oder sangen Lieder, | |
| teilten Mittagessen und Bett. Vier Jahre lang flog Mecki bei Brandau ein | |
| und aus, bis seine Besuche immer unregelmäßiger wurden und schließlich ganz | |
| ausblieben. Bis dahin aber war er ein Familienmitglied, half sogar bei der | |
| Pflege all der anderen Vögel, die Brandau beherbergte. „Wir waren Freunde“, | |
| sagt er, „und zwar auf Augenhöhe.“ | |
| Damals habe er gelernt, nicht nur Lebensgewohnheiten, Bedürfnisse und | |
| angeborene Verhaltensweisen der Vögel zu begreifen, „sondern ich habe ihre | |
| Seelen kennengelernt und gemerkt, dass jedes Tier ein Individuum ist“. Und | |
| er ist sich sicher: „Die Vögel verstehen mich ebenfalls.“ Zumindest die | |
| meisten, denn wie das so ist mit Individuen, gab es auch in Brandaus Leben | |
| Vögel, die ihn nicht mochten: „Zum Beispiel ein Bussard mit einem | |
| gebrochenen Bein. Der wurde dann von einer Freundin versorgt, weil sich | |
| zwischen ihm und mir einfach kein Vertrauen aufgebaut hat.“ | |
| Die Erlebnisse mit all dem Federvieh, das Brandau großgezogen, | |
| aufgepäppelt, medizinisch versorgt oder auch einfach nur kennengelernt hat, | |
| hält er akribisch fest: 36 „Brandau Birds Life“-Videos gibt es mittlerweile | |
| auf Youtube, in schmalen, zweisprachigen Büchlein auf Deutsch und Englisch | |
| mit Titeln wie „Vogelkind“, „Schwalbensommer“ oder „Da draußen vor d… | |
| hat er außerdem Vogel-Fotos, Anekdoten, Gedichte und Gedanken über sein | |
| Leben mit den Vögeln veröffentlicht. „Der Vogelflüsterer“ wird Brandau | |
| mittlerweile nicht nur in Worpswede und im Umland genannt,Tierärzte und | |
| MitarbeiterInnen der Station für Wildtier-Vögel in Soltau geben ihm | |
| regelmäßig Tiere in Obhut. | |
| Dass er so gut wie alle dieser geschwächten, verletzten oder kranken | |
| Existenzen durchbringt, liegt laut Brandau an seinem besonderen Verhältnis | |
| zu ihnen: „In dem Moment, in dem ich mit den Vögeln spreche, bin ich kein | |
| Mensch mehr“, sagt er. Beobachtet man ihn im Zwiegespräch mit dem | |
| Krähenjungen, das er gerade füttert, glaubt man ihm – zumindest scheint er | |
| dann für kurze Zeit in einer anderen Welt zu leben. | |
| ## Alles an den Nagel gehängt | |
| Brandau hat nach und nach alles an den Nagel gehängt, seinen Job als | |
| Goldschmied, seine Malerei, seine Bildhauerei. Er lebt mehr schlecht als | |
| recht von einer kleinen Erbschaft und von gelegentlichen Spenden oder | |
| Bücherverkäufen. Schlaf bekommt er wenig, denn wenn er sich nicht um seine | |
| Vögel kümmern muss – nur zwei versorgt er zur Zeit – schreibt er, und zwar | |
| ein Buch nach dem anderen. Kaum war sein letzter Gedichtband fertig, | |
| erschien sein Roman „Jenseits der Flammen“ und kurz darauf dessen | |
| Fortsetzung „Eine unendliche Reise“. Vier Brandau-Bände sind allein im | |
| vergangenen Jahr erschienen. | |
| Das Tempo merkt man den Geschichten an, die immer Slalom fahren zwischen | |
| Wirklichkeit und Fantasie, zwischen Geschichten und Gedichten, die viele | |
| Zeitsprünge machen und ausnahmslos die bessere Welt im Tierreich und in der | |
| Natur finden. Sein nächstes Buch ist gerade fertig geworden, „Seele finden“ | |
| heißt es und handelt vor dem Hintergrund der Weltmeisterschaft teils von | |
| Fußball als seelenlosem Geschäft und teils von – natürlich – Vögeln. | |
| Brandau nennt den Text sein wichtigstes Werk. Es geht um Geld, um | |
| Umweltverschmutzung und um Terrorismus, so wie er ihn versteht: | |
| „Terrorismus, das sind Schleppnetze, die unvorstellbare Schäden anrichten, | |
| Tod bringen und ganze Arten ausrotten – nicht ein paar Bomben, die Gebäude | |
| zerstören oder Menschen töten.“ Denn Menschen seien schließlich nicht vom | |
| Aussterben bedroht. | |
| ## Lästige Verleger | |
| Am liebsten, so scheint es, wäre Reinhart Brandau selbst ein Vogel. Oder | |
| doch zumindest so ungebunden. Obwohl sich sein „Tagebuch einer Singdrossel“ | |
| bei Bertelsmann vor 20 Jahren sehr gut verkauft hat, will er seither nichts | |
| mehr mit Verlegern zu tun haben. Das raube Zeit und beschneide ihn in | |
| seiner Freiheit – wer ein Buch möchte, soll sich halt mit ihm in Verbindung | |
| setzen. | |
| Aber er ist kein Vogel. Er muss Miete zahlen und sein Essen und seine | |
| Kleidung – und selbst seine besten Freunde strengen ihn hin und wieder an: | |
| „Wenn mir wieder jemand einen Vogel bringt, kann ich einfach nicht nein | |
| sagen – aber ich wäre sehr gerne eine Zeit lang im wahrsten Sinne des | |
| Wortes vogelfrei“, sagt er, denn: „Ich müsste mal wieder aufräumen.“ | |
| 3 Aug 2014 | |
| ## AUTOREN | |
| Simone Schnase | |
| ## TAGS | |
| Vögel | |
| Tierliebe | |
| Worpswede | |
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