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# taz.de -- Großer Kicker wiederentdeckt: Der Assimilant
> Er war begeisterter Fußballer, Schiedsrichter – und Jude. Martin Stock
> überlebte die Lager und kehrte zurück ins Land der Täter. Als er 1970
> starb, war er dem Hamburger Fußball keine Zeile wert.
Bild: Zukunft in Brasilien: Martin Stock (li.) verabschiedet sich von Bundestra…
HAMBURG taz | Flughafen Frankfurt/Main, Oktober 1950. Sepp Herberger, der
damalige Trainer der DFB-Auswahl, die vier Jahre später in Bern
Fußball-Weltmeister werden sollte, hat sich eingefunden, um sich von einem
alten Weggefährten zu verabschieden. Der aus Hamburg stammende Martin
Stock, einst selbstständiger Tuchgroßhändler, aber seit 1934 erwerbslos,
ist auf dem Weg nach Brasilien. Er will auswandern, weil er in Deutschland
keine wirtschaftliche Perspektive mehr sieht.
Mehr als 50 Jahre später stößt der Politikwissenschaftler Arthur Heinrich
in einer alten Ausgabe der Zeitschrift Sport Magazin auf einen Artikel, der
das Zusammentreffen auf dem Flughafen schildert, bei dem neben Herberger
und Stock auch Georg Xandry dabei war, der damalige Generalsekretär des
DFB. Heinrich hat den Namen Martin Stock zu dem Zeitpunkt noch nie gehört,
aber eines weiß er sofort: Wenn der Bundestrainer und der
DFB-Generalsekretär zum Rollfeld kommen, um einen Mann zu verabschieden,
muss es sich um eine bedeutende Person handeln. Heinrichs Interesse ist
geweckt.
Was der Autor, der lange Redakteur der Blätter für deutsche und
internationale Politik war, dann für seine Stock-Biografie „Als Jude im
deutschem Fußball“ recherchierte, entpuppt sich als wichtige Ergänzung zur
bundesdeutschen Fußballgeschichtsschreibung: Martin Abraham Stock war,
nachdem er unter anderem die KZs Sachsenhausen und Bergen-Belsen überlebt
hatte, der erste Jude im Vorstand des DFB. Außerdem trug er als
Spielausschuss-Obmann des Hamburger Fußballverbandes (HFV) wesentlich dazu
bei, dass in der Stadt der Ligabetrieb funktionierte.
Es passiert immer wieder, dass Menschen, die in ihrem jeweiligen
Tätigkeitsbereich eine maßgebliche Rolle gespielt haben, dafür erst sehr
spät gewürdigt werden. Aber im Fall Stocks, der 1970 gestorben ist, geht es
wohl um eine besonders große Ungerechtigkeit. Seine Beziehung zum Sport
begann 1908, als er im Alter von 16 Jahren in die Altonaer Spielvereinigung
eintrat – ein Verein, der damals vor allem im längst vergessenen Schlagball
stark war. Eine der ersten prägenden Figuren der Spielvereinigung war der
Altonaer Lehrer Hermann Schnell, der zwischen 1899 und 1901 auch das
dreibändige „Handbuch der Ballspiele“ publizierte. Nach ihm ist heute die
Schnellstraße in Hamburg-Altona benannt. Die Straße begrenzt nach Süden die
beiden Allee-Sportplätze, von denen einer ebenfalls Schnells Namen trägt.
Hier stürmte Martin Stock in den frühen 1920er-Jahren für die
Ligamannschaft der Altonaer Spielvereinigung.
Seine größten sportlichen Erfolge feierte er aber als Schiedsrichter: Stock
wurde in der höchsten norddeutschen Spielklasse eingesetzt, übernahm
darüber hinaus im Norddeutschen Fußballverband (NFV) verschiedene
Funktionärstätigkeiten. Im NFV war in der Weimarer Zeit rabiater
Antisemitismus en vogue, vor allem in der Verbandszeitschrift Turnen, Spiel
und Sport. Durch antisemitische Äußerungen fiel etwa der spätere
Nationalsozialist August Bosse auf, NFV-Vorsitzender zwischen 1914 und
1924. Der Name Bosse war in Hamburg lange präsent: Nach ihm war bis 2011
ein Sportplatz des Eimsbüttler TV benannt – zum „Softballplatz an der Hohen
Weide“ wurde das Feld erst, als der Verein unter dem Druck der
Öffentlichkeit seine NS-Vergangenheit aufgearbeitet hatte.
Stock war aber weit entfernt davon, den politischen Konflikt mit anderen
Funktionären zu suchen. Hier zeichnete sich bereits ein für ihn typisches
Verhaltensmuster ab: Der Jude Stock wollte integriert werden – und
akzeptiert für seine sportorganisatorischen Fähigkeiten. Dieses Ansehen
wurde ihm auch zuteil, und gefährden wollte er es nicht. Stock sei ein
„radikaler Assimilant“ gewesen, schreibt Heinrich.
Das nützte ab 1933 nichts: Sein Verband ließ ihn fallen, die große
Schiedsrichterkarriere war beendet. Wie stark Stocks Bindung an den Fußball
war, zeigte sich 1939, als er sich – vergeblich – um eine Ausreise aus
Deutschland bemühte. Die Reisegepäckliste hatte er bereits fertig: „1 P.
Fußballstiefel“ und „1 P. Schienbeinschützer“ waren dort aufgeführt. 1…
war Stock Ende vierzig. Dass er die Fußballschuhe noch einmal brauchen
würde, war wenig wahrscheinlich. Und trotzdem: Zurücklassen wollte er die
Erinnerungsstücke nicht.
Das musste er dann allerdings am 8. November 1941 tun, als 969 Juden aus
Hamburg in das Ghetto der weißrussischen Stadt Minsk deportiert wurden: Am
Hannoverschen Bahnhof – gelegen im heutigen Lohsepark in der Hafencity, wo
bis 2017 eine Gedenkstätte entstehen soll – begann eine Odyssee durch
zahlreiche Zwangsarbeits- und Vernichtungslager. Aus dieser Hamburger
Gruppe überlebten nur acht Menschen, Stock war einer.
Heinrich geht davon aus, dass Stock bereits im Herbst 1945 dem Fußball
wieder seine organisatorischen Fähigkeiten zur Verfügung stellte, zuerst
dem HFV, dann dem DFB. Als sich Stock nach Brasilien verabschiedete, pries
man ihn beim DFB in höchsten Tönen. Allein: Das Lob hatte einen perfiden
Beiklang. „Ihre Wertschätzung galt einem Menschen, dessen Biografie sie
zuvor um elementare Bestandteile gekappt hatten“, so Heinrich. „Stocks
Ausgrenzung im Sport ab 1933, seine Verschleppung 1941 und die folgende
Lager-Odyssee, das alles kam nicht vor.“
Stock nahm das, man muss beinahe schon sagen: selbstverständlich, nicht
übel. Drei Tage nach dem WM-Endspielsieg von 1954 schickte er aus Rio de
Janeiro ein Glückwunschschreiben an Herberger, lobte die „konzentrierte
Sachlichkeit einer geschlossenen Mannschaftseinheit“, rief ihm ein
„dreifaches hipp, hipp, hurra“ zu und unterzeichnete mit „in alter
Anhänglichkeit, Ihr Martin Stock“. Die „Anhänglichkeit“ versicherte der
Holocaust-Überlebende da einem Mann, der im Mai 1933 in die NSDAP
eingetreten war.
Nachdem Stock 1957 aus Brasilien zurückgekehrt war – wirtschaftlicher
Erfolg war auch ihm dort nicht vergönnt –, landete er wieder beim HFV, für
den er dann noch einige Jahre als Schiedsrichter-Obmann tätig war. Im
Jubiläumsbuch „100 Jahre Fußball in Hamburg“, das der HFV 1994
veröffentlicht hat, taucht der Name Stock zweimal auf. Unter anderem, weil
er zu jenen sieben Männern gehört hatte, die die erste Satzung des HFV
unterschrieben.
Zwei Erwähnungen – das wird einerseits seiner Rolle beim Aufbau des
Verbandes ab 1945 kaum gerecht, andererseits ist es schon relativ viel,
wenn man bedenkt, dass auf dem Verbandstag 1971, als der „im letzten Jahr
aus unserem Kreise Verstorbenen“ gedacht wird, Stock nicht einmal
namentlich genannt wird. Auf die Idee, ihm posthum die Ehrenmitgliedschaft
zu verleihen, kam danach niemand.
Der HFV könnte heute natürlich ein Zeichen setzen. Heinrichs
Stock-Biografie ist eine implizite Forderung, dies zu tun. Der Verband
hätte viele Möglichkeiten, Stock zu würdigen: als Namensgeber von
Turnieren, Preisen oder Ähnlichem. Andererseits ist der Fußballbetrieb
tendenziell ein geschichtsvergessenes Milieu. Zu den Ausnahmen gehört die
DFB-Kulturstiftung Theo Zwanziger, die dabei half, dass Heinrichs
aufwendiges Buchprojekt überhaupt umgesetzt werden konnte. Seine intensive
Recherche lässt sich daran ablesen, dass Anmerkungen und Quellenverzeichnis
fast 100 Seiten umfassen.
Der Autor macht keinen Hehl daraus, dass es äußerst schwierig war, das Buch
zu finanzieren. Zur Seite stand ihm dabei unter anderem Stefanie
Schüler-Springorum: Die Leiterin des Zentrums für Antisemitismusforschung
an der TU Berlin vermittelte Kontakte zu diversen Stiftungen.
Schüler-Springorum, die zehn Jahre lang das Institut für die Geschichte der
deutschen Juden in Hamburg leitete, wird das Buch demnächst auch
vorstellen.
Dass der Name Stock so lange vergessen war, ist zumindest in einer Hinsicht
nicht verwunderlich. Auch den Namen des Klubs, dem er Jahrzehnte lang die
Treue hielt, kennt heute kaum noch jemand. Die Altonaer Spielvereinigung
hat bereits seit 1989 keine Fußballabteilung mehr. „Wir sind mittlerweile
ein sehr kleiner Verein geworden“, sagt Susanne Knüppel, die Vorsitzende
des Klubs. „Wir haben seit Langem keine ,Heimat‘ mehr in dem Sinne, dass
wir ein Vereinshaus oder Ähnliches besäßen.“ Nicht einmal eine Website
existiert. 2015 wird die Spielvereinigung 120 Jahre alt. Mit großen
Feierlichkeiten ist nicht zu rechnen.
## Arthur Heinrich: „Als Jude im deutschen Fußball. Die drei Leben des
Martin Abraham Stock“, Verlag die Werkstatt 2014, 348 Seiten, 29,90 Euro
## Präsentation mit Stefanie Schüler-Springorum (Zentrum für
Antisemitismusforschung, TU Berlin): 18. September, 20 Uhr, Hamburg,
Millerntorstadion, Fanräume
12 Sep 2014
## AUTOREN
René Martens
## TAGS
Stadtentwicklung Hamburg
Hamburg
Leipzig
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