# taz.de -- Wahl in Brasilien: Die Herausforderin | |
> Die Umweltschützerin Marina Silva will Präsidentin werden. Dass sie nicht | |
> für eine bestimmte Gruppe oder Klasse steht, macht sie attraktiv für die | |
> Wähler. | |
Bild: Gut argumentierend, kraftvolle oft heisere Stimme: Marina Silva ist eine … | |
RIO DE JANEIRO taz | Der „dritte Weg“ soll in Brasilien einen Namen | |
bekommen: Marina Silva. Weder machtversessen noch korrupt, nicht | |
linksreformistisch und auch nicht liberal-konservativ. Einfach anders, für | |
eine „neue Politik“ stehend, so die meistgebrauchte Selbstbeschreibung von | |
Marina und den Marinistas, ihren Anhängern. Sie grenzt sich ab vom alten | |
Politikgeschäft, hat es aber schwer, das Neue zu definieren. Denn als | |
Präsidentschaftskandidatin ist sie Teil dieses Geschäfts. | |
Marina Silva beeindruckt. Sie ist zierlich, fast schmächtig, und strahlt | |
zugleich viel Kraft und Durchsetzungsvermögen aus. Bei Reden und Interviews | |
bricht ihre Stimme oft, sie wirkt heiser, als ob sie schon zu lange | |
gesprochen hat. Aber sie geht darüber hinweg, argumentiert, pocht auf ihre | |
Aussagen und macht schon mit ihrer Stimme deutlich, dass sie weiterreden | |
wird. Sie blickt in die Augen, freundlich, aber auch unnahbar. Marina ist | |
kein Kumpel, eher berechnend. Wer ihr glaubt, mag sie – wer ihr nicht | |
glaubt, fürchtet sie. | |
Regieren will sie „mit den Besten im Land, aus allen Parteien“. Das seit | |
Langem de facto herrschende Zweiparteiensystem ist Marina Silva zuwider. | |
Manche Linke halten ihren dritten Weg für eine Mogelpackung, einen schönen | |
Diskurs, hinter dem sich das alte erzkonservative Brasilien verbirgt. Viele | |
Rechte befürworten die Initiative, nicht aus Überzeugung, sondern als | |
Vehikel, um die Regierung von Dilma Rousseff loszuwerden. | |
## Multikulti als Herausforderung | |
Aber reicht das, einen dritten Weg zu propagieren, der sich aus den Fehlern | |
anderer speist und nicht mehr benötigt als den Appell an ein gerechtes | |
Brasilien? Viel Streit und Diskussionen hat Marina Silva jedenfalls schon | |
ausgelöst. Der Wahlkampf 2014 ist so verwirrend, so spannend wie schon | |
lange kein Wahlkampf mehr in Brasilien war. | |
Marina wird, wie die meisten Politiker hier, nur mit ihrem Vornamen | |
angesprochen, zumal ihr Nachname Silva im portugiesischen Sprachraum so | |
wenig unterscheidet wie Müller in Deutschland. Sie ist weder weiß noch | |
schwarz noch indigen. Schon äußerlich repräsentiert sie das Brasilien, das | |
sich so gern als konfliktfreies Multikulti sieht. Das macht sie für viele | |
sympathisch. Sie steht nicht für eine Gruppe oder Klasse, schon gar nicht | |
für die weiße Oberschicht, die seit dem ersten Wahlsieg der | |
sozialdemokratischen PT (Partido dos Trabalhadores) vor zwölf Jahren | |
erfolglos versucht, wieder an die Macht und die Pfründen der siebtgrößten | |
Wirtschaftsnation zu kommen. | |
Für Marina Silva ist Multikulti aber kein Markenzeichen, sondern eine | |
Herausforderung: „Schwarze verdienen viel weniger als Weiße, Frauen viel | |
weniger als Männer.“ Es gebe viele Ungerechtigkeiten, und der erste Schritt | |
sei, diese zu erkennen und zu benennen. „Meine Regierung wird gegen die | |
Benachteiligung der Schwarzen, der Indigenas, aller Minderheiten vorgehen. | |
Und gegen die Diskriminierung der LGBT“, fügt sie hinzu, wobei nicht zu | |
überhören ist, dass ihre Wahlkampfberater auf diesen Zusatz bestanden | |
haben. | |
## Die Pfingstkirchlerin | |
Ein heikles Thema für Marina und ihre kleine PSB (Partido Socialista | |
Brasileiro), die über zehn Jahre einer der engsten Partner der | |
Regierungskoalition war. Mehr Rechte für gleichgeschlechtliche Paare stand | |
in der ersten Version ihres Wahlprogramms. Nur Stunden später hieß es, den | |
Verfassern sei leider ein Fehler unterlaufen. | |
Der Grund hierfür sind Marinas streng konservative Familienwerte. Sie ist | |
aktives Mitglied der Assembléia de Deus, einer der Pfingstkirchen | |
Brasilien. Marina steht auch in der Politik dazu: gegen das Recht auf | |
Abtreibung, für die Stärkung heterosexueller Partnerschaften und ihrer | |
Familien. Sie trinkt keinen Alkohol und hat wenig Verständnis für eine | |
moderne, akzeptierende Drogenpolitik. Diskriminierung von Schwulen kann sie | |
natürlich nicht gutheißen, aber ihre religiösen Überzeugungen haben ihre | |
politische Karriere vor einem Jahr schon mal an den Rand des Abgrunds | |
gebracht: Zum Entsetzen ihrer Anhänger verteidigte sie den evangelikalen | |
Abgeordneten Marco Felicinado, der per Gesetzesinitiative die „Heilung von | |
Homosexualität“ ermöglichen wollte. | |
Marina ist aber keineswegs nur die Kandidatin der konservativen Moral. Ihre | |
Beliebtheit hängt eng zusammen mit den Massenprotesten vom Juni 2013, als | |
Hunderttausende für bessere öffentliche Dienstleistungen und gegen korrupte | |
Politiker auf die Straße gingen. So diffus diese Bewegung war, so wenig | |
lässt sich Marinas Unterstützerschaft eingrenzen. Es sind die Unzufriedenen | |
der neu heranwachsenden Mittelschicht, von der regierenden Arbeiterpartei | |
enttäuschte Intellektuelle, Teile der modernen Rechten, es sind Menschen, | |
die noch mehr Wandel und Wohlstand wollen und glauben, dass das Modell | |
Rousseff ausgedient hat. | |
## Häufiger Parteienwechsel | |
Dieses Protestpotenzial hat Marina schon wenige Tage nach ihrer Kandidatur | |
im August auf Platz eins in den Wahlumfragen katapultiert. Erst Mitte | |
September konnte Amtsinhaberin Dilma Rousseff (PT) aufholen. Die Sensation | |
beim ersten Wahlgang am kommenden Sonntag gilt als sicher: Marina wird den | |
zweiten Platz schaffen und damit den Kandidaten der konservativen PSDB aus | |
dem Rennen schmeißen. Für den zweiten Wahlgang Ende Oktober wird ein hartes | |
Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen den beiden Frauen erwartet. | |
Das Wahlphänomen Marina gibt Rätsel auf. Schon vor vier Jahren erreichte | |
die frühere Umweltministerin auf Anhieb 19 Prozent der Stimmen, als sie für | |
die Grüne Partei das erste Mal für das Präsidentenamt kandidierte. Die | |
Grünen verließ sie wieder, wie zuvor die PT, die sie einst mit aufbauen | |
half. Als es ihr nicht gelang, ihre neu gegründete Bewegung „Rede | |
Sustentabilidade“ – das Nachhaltigkeitsnetzwerk – als Partei zu | |
registrieren, ging sie vergangenes Jahr zu den Sozialisten und wurde | |
Vizekandidatin von Eduardo Campos. Das gemeinsame Erneuerungsprojekt kam | |
aber nicht richtig in Gang, und als Mitte August Campos bei einem | |
Flugzeugabsturz ums Leben kam, trat Marina an seine Stelle. Als einzelne | |
Person hat sie schon jetzt viel mehr Bedeutung als Campos, seine PSB und | |
ihre heterogene Parteienkoalition zusammen. | |
Marina stammt aus sehr einfachen Verhältnissen. Als eines von elf Kindern | |
wuchs sie in einer Familie von Kautschuksammlern in Acre auf. Die meisten | |
Brasilianer kennen diesen nördlichen Bundesstaat nur von der Landkarte, er | |
liegt buchstäblich am Ende der Welt. Im Alter von zehn Jahren begann sie | |
als Gummizapferin zu arbeiten, später wurde sie Hausangestellte. Erst mit | |
16 Jahren lernt Marina lesen und schreiben. Ihren Wunsch, Nonne zu werden, | |
gibt sie angesichts der finanziellen Notlage auf. Trotz bitterer Armut | |
ihrer Familie gelingt es Marina zu studieren – Geschichte. Mit 26 Jahren | |
wird sie Lehrerin, zehn Jahre später die jüngste Senatorin Brasiliens. Die | |
Bedrohung ihrer Heimat, des Amazonaswaldes, macht die Mutter von vier | |
Kindern zu einer aktiven Umweltschützerin. | |
## Liberal oder sozial? | |
2003 wurde sie Präsident Lulas erste Umweltministerin – bis 2008, als sie | |
sich mit Dilma Rousseff überwarf, die schon damals die nachholende | |
Entwicklung vor ökologische Interessen setzte. Jetzt, mit 56 Jahren, ist | |
Marina zur größten Bedrohung des gemäßigt linken Reformprojekts ihrer | |
einstigen Partei und ihrer damaligen Widersacherin geworden. Entsprechend | |
heftig geht es im Wahlkampf zur Sache. Die früheren Genossen halten Marina | |
nicht nur ihre konservativen Werte vor. Sie attackieren vor allem ihr | |
liberales Wirtschaftsprogramm. | |
Seelenruhig kontert Marina den Vorwurf, sie werde im Namen des | |
Wirtschaftswachstums die Sozialhilfe abschaffen: „Meine ganze Familie hat | |
gehungert, ein Sozialprogramm hat mir die Alphabetisierung ermöglicht. Wer | |
so etwas erlebt hat, wird niemals Hilfen für die Armen kürzen“, erklärt sie | |
mit überzeugender Stimme. Ihr stets nach hinten gekämmtes Haar | |
unterstreicht dabei ihren strengen Gesichtsausdruck. Sie ist eine gewandte | |
Rednerin, ihr Auftreten natürlich, charismatisch. Sie werde die | |
Sozialprogramme eher ausbauen, aber keinen Klientelismus zulassen, beteuert | |
sie. | |
Die Wählerinnen und Wähler werden nun darüber entscheiden, ob es den | |
dritten Weg Namens Marina Silva geben wird. Die einflussreichen | |
Massenmedien haben sie bereits zu ihrem Liebling erkoren, offenbar wird nur | |
ihr zugetraut, die PT aus der Regierung zu vertreiben. Diese Unterstützung | |
macht Marina verdächtig, denn die erzreaktionären Privatmedien haben kein | |
Interesse an Experimenten und schon gar nicht an sozialer Gerechtigkeit. | |
Die Kandidatin aber lässt sich nicht beirren: Sie will gewinnen und | |
verfolgt ihr Ziel mit fast religiösem Eifer. | |
3 Oct 2014 | |
## AUTOREN | |
Andreas Behn | |
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