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# taz.de -- Die Wahrheit: Stoßgebet an eine bestreikte Bahn
> Große Deutsche Bahn, auch wenn du jetzt streikest – lasse uns nicht
> fahren, du letztes Leitbild der europäischen Schicksalsgemeinschaft!
Durch zartrosa Nebelschleier am Ufer der Weser bahnt sich der Zug den Weg
entlang goldschimmernd gebeizter Blätter und Perldiademen, die sich in den
Morgen weben. Zur frühen Stunde erreichen wir endlich den traumverlorenen
Bahnhof Elze.
Taubengrauer Flügelschlag in dunstigen Lüften, ein Hahn kräht in der Ferne.
Züchtig aufgereiht steht ein Dutzend Reisender auf dem Bahnsteig in seiner
klaren Sachlichkeit. Unser Zug aber stiehlt sich in aller Stille vom
Nachbarsteig davon, seine Rücklichter blitzen uns ein fröhliches „Lebt
wohl“ hinterher.
Vielen Dank, liebe Bahn, dass du uns diesen wundersam verzauberten
Augenblick schenkst. Danke, dass wir einen Märchenmorgen, wie ihn ein
Brentano oder Grimm nicht güldener in unsere Passagierseele hätte tuschen
können, in seiner ganzen Tiefe auskosten dürfen. Demütig neigen wir das
Haupt vor deiner feinen Vorsehung. Was sind schon Anschlusszüge und Flüge,
Arbeitsverpflichtungen und Temperaturen nahe dem Gefrierpunkt? Dank deiner
weisen und kompetenten Führung, schenkst du uns die Kraft, solch profanen
Tand abzustreifen.
Und auch den Respekt vor unser aller Mutter, der wilden Natur, lehrst du
uns, die wir schon zu vergessen drohten, dass auch wir nur Staub im Wind,
nur Körner im Sand des Universums sind. Geblendet von all dem Firlefanz
einer Zivilisation, in der wir uns schon enthoben fühlten den
schicksalhaften Kräften eines unablässigen Regens.
Dank sei deiner Weisheit, durch die du uns vor Augen führst, wie schnell
sich die Natur das ihr nur mühsam Abgerungene zurückholt, wenn man nur ein
paar Jahre lang die Strecken nicht ordentlich freischneidet. Da wird ein
Gewitter wieder zu dem, was es einmal war, eine Naturgewalt, die mit einem
einzigen Guss das Streckennetz einer Region mit sechs Millionen Einwohnern
für Tage lahmlegt.
Doch, o große Deutsche Bahn, nun ist Unwillen in deine gläsernen und
stählernen Hallen eingezogen – die Züge fahren nicht mehr. Die Führer der
Lokomotiven und ihre Akolythen, die die Gänge der Waggons bevölkern wie
einst die Vandalen das Forum Romanum, sind sich uneins und die Hohepriester
des Unternehmens zornig über dieses Schisma.
Erbarme dich, edle Deutsche Bahn, deines treuen Fahrvolkes. Denn wie sollen
wir unseren Weg finden ohne deine gnädig uns zugeneigte Führung? Vergib uns
unsere kleinlichen Klagen über verjauchte Toiletten oder
einhundertzwanzigminütige Verspätungen. Über Reservierungsfehler und
Buchungsunfälle. Vergib uns unsere Schwäche, wenn wir in überhitzten Zügen
kollabieren oder uns der Gestank ungepflegter Waggons den Atem verschlägt.
Gern entrichten wir den völlig angemessenen Zins für deine herausragenden,
gar nicht mehr zu übertreffenden Leistungen – ja, das und noch viel mehr
sind wir bereit zu geben. Denn wahrlich, du bringst uns nicht allein von A
nach B, nein, du bist ein leuchtender Stern in einer an wahren Werten so
armen Welt. Deutsche Bahn, du letztes Vor- und Leitbild der europäischen
Schicksalsgemeinschaft. Amen.
17 Oct 2014
## AUTOREN
Sven Stemmer
## TAGS
Deutsche Bahn
Streik
Europa
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