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# taz.de -- Das Kriegsende in Aachen: Das Rieseln von Staub und Zeit
> Am 21. Oktober 1944 wurde Aachen als erste deutsche Großstadt vom
> Naziterror befreit. Bürger sorgen dafür, dass sie sich darauf besinnt.
Bild: Ein amerikanischer Soldat im zerstörten Hauptbahnhof, undatiert.
AACHEN taz | Ein atemberaubender Trumm in schmutzigem Beige mitten im
schicken Gründerzeit-Wohngebiet am Aachener Lousberg. Die Betonwände an die
zwei Meter dick und höher als ein fünfstöckiges Haus, an einer Seite mit
stählernen Staub- und Schallschutzwänden.
Halb ausgeweidet ist der alte Kriegsbunker in der Rütscher Straße bereits
und wirkt wie ein riesiger, offener Schrein. Seit einem Jahr wird er Stück
für Stück abgerissen; überall gewaltige Schuttberge, Schrotthaufen,
bedrohliche Überhänge aus den Resten des äußeren Mauerwerks. Dazwischen
wieseln ein paar Bauarbeiter. 26.000 Tonnen Beton gilt es abzutragen.
Im Innern dieses Betonmonsters nahm das Ende seinen Anfang. 199 Tage vor
der Kapitulation des Deutschen Reiches, am 21. Oktober 1944 um 12.05 Uhr,
verlässt Wehrmacht-Oberst Gerhard Wilck den Bunker. Der Stadtkommandant
übergibt nach sechs Wochen schwerer Bombardierungen und Häuserkämpfe die
Kapitulationsurkunde an die US-amerikanischen Streitkräfte. Aachen gibt auf
gegen den ausdrücklichen Führerbefehl, „bis zum letzten Mann“ zu kämpfen.
Hans-Joachim Geupel steht vor der Großbaustelle und ist weniger erschüttert
als erwartet. „Keine Wertung“ will er abgeben, dass dieser Erinnerungsort
vernichtet wird – für 40 Luxuswohnungen. Im Nachhinein habe der Abriss
sogar sein Gutes. „Ohne die heftigen Proteste dagegen vor zwei Jahren wären
wir wahrscheinlich gar nicht auf das Projekt gekommen.“
Wir – das ist die kleine Bürgerstiftung Lebensraum Aachen, deren
Vorsitzender der 62-jährige Ex-Bahn-Manager ist. Das Projekt: letzte
Zeitzeugen-Interviews, die Aufarbeitung durch Historiker, ein bewegendes
Buch und heute Mittag eine große Gedenkveranstaltung.
## Der Bunkerabriss läuft
Aachen, 21.Oktober 1944: Die erste deutsche Großstadt befindet sich in der
Hand der Alliierten. Ein großes Symbol. Ein Weltereignis damals. In Aachen
heute: wenig.
Über Jahrzehnte hat man in Aachen den Bunker als monumentales
Friedenssymbol missachtet. Ein Hochschulinstitut hatte ihn jahrzehntelang
nutzen dürfen und führte innen so massive Umbaumaßnahmen durch, dass
Denkmalschutz zuletzt nicht mehr infrage kam. Investoren erwarben die
Immobilie, die Stadt erteilte die Baugenehmigung. Proteststürme. Anwohner
klagten, erfolglos. Sie mussten sich gegen den Vorwurf verteidigen, es
ginge ihnen nur um Baustellenbelästigung.
„Die Stadt hätte am Gedenktag nichts weiter gemacht“, sagt Hans-Joachim
Geupel. Zur Erklärung: Aachen ist erschöpft vom „Karlsjahr“, 1.200 Jahre
nach dem Tod Karls des Großen. Pausenlos setzte es Feierlichkeiten für den
heimischen Sachsenschlächter, der Europa mit zahllosen Gemetzeln zu einen
suchte. Tja, sagt Geupel, dann müssen eben die Bürger ran: „Unser Projekt
gegen das Vergessen: um darüber nachzudenken, wo diese scheinbar
selbstverständlichen Werte wie Freiheit und Frieden ihren Ursprung haben.“
## Babywindel gehisst
Irgendwann habe das offizielle Aachen nachgefragt, ob man sich nicht
beteiligen könne. Geupel lächelt: „Die große Stadt bittet uns kleine
Stiftung.“ Immerhin: „Jetzt unterstützen sie uns sehr.“ Alexander Lohe, …
Referent des Oberbürgermeisters, formuliert griffig: „Damit reflektiert
wird, was wir gewonnen haben, als wir den Krieg verloren haben.“
Die Bürgerstiftung hat für ihr Buch „70 Jahre Frieden und Freiheit in
Aachen“ vierzehn Zeitzeugen aufgetrieben. Sie berichten von den
überwältigenden Ängsten, vom Darben, von den Toten überall. „Wir wussten …
gar nicht, wie das ist, wenn kein Krieg ist“, so ein damals Siebenjähriger.
Dann die Erlösung und die Dankbarkeit für die Befreier. Welche Art Leben
nach dem Überleben kommt, weiß niemand zu ahnen. Mehrere schreiben, dass
sie zum ersten Mal einen Schwarzen sahen: „Was hatte man nicht alles über
die gehört, dass das Menschenfresser waren und so weiter …“ Ein Mädchen:
„In einem Gemüseladen gab es plötzlich Obst, und meine Mutter kaufte mir
eine Traube! Die wollte ich teilen, für uns beide. Aber sie sagte nur:
Nein, die ist jetzt nur für dich!“
## Kaum noch Zeitzeugen
„Leider“, sagt Geupel, „haben wir keinen der Befreier mehr gefunden.“ D…
ehemaligen US-Soldaten wären heute 90 und älter. Aber zwei Aachener sind
noch am Leben, die als Kinder selbst im Lousberg-Bunker saßen,
zusammengepfercht in Todesangst unter ständigen Bombardements: „Der ganze
Bunker wankte und schien sich aus den Fundamenten zu erheben – wie bei
einem Erdbeben“, erinnert sich einer. Als die Wehrmachtführung kapitulieren
wollte, so schreibt eine damals Elfjährige, suchte man im Bunker vergeblich
nach einem weißen Laken. Indes: „Da auch einige Babys da waren, fanden sich
doch noch weiße Tücher.“ Kriegsende dank Babywindel.
Das Thema treibt die Aachener heute um. Ein Zeitzeuge schlägt vor, die
Straße vor dem Bunker in „Große Freiheit“ umzubenennen. Auch ein
81-Jähriger meldet sich mit Verspätung. Mit seiner Familie sei er damals
nahe Fürth evakuiert gewesen, in großer Angst, was aus ihrem Haus in Aachen
geworden sei. In Fürth trafen sie einen US-Soldaten, der perfekt deutsch
sprach: Er sei neben dem markanten Haus stationiert gewesen und kürzlich
noch dort gewesen – alles okay. „Der Mann stellte sich als Henry Kissinger
vor. Damals sagte uns das ja nichts, aber bis heute läuft es mir bei dem
Namen noch kalt den Rücken runter“, berichtet der alte Mann ganz aufgeregt.
## Glockenläuten um Punkt 12
Seit dem Jahrestag des 6. Juni, der Landung der Alliierten in der
Normandie, stellt die Bürgerstiftung unter [1][freeaachen44.de historisch
tagesaktuelle Tweets] ein mit zahlreichen Links. Sie lesen sich wie ein
Kriegs-Countdown. Aachen, 12. September: Die ersten Granaten schlagen ein.
Partei und Polizei flüchten. 13. September: Bevölkerung weiß nicht, wohin.
Zwei 14-Jährige wegen Plünderei durch ein Standgericht zum Tode verurteilt
und exekutiert. Maastricht wird von US-Truppen eingenommen. 17. September:
Valkenburg und Heerlen sind frei. 17 Kilometer bis Aachen. 4. Oktober: Über
20.000 Wehrmachtsoldaten sind in Stellung gegangen. 8. Oktober:
Lautsprecherdurchsagen aus dem Stadtwald! Ultimatum der US-Truppen. 13.
Oktober: Oberst Wilck verlegt seinen Gefechtsstand in den Bunker Rütscher
Straße. 16. Oktober: Der große konzentrische Angriff beginnt.
An diesem Mittag des 21. Oktober 2014 werden ab 12 Uhr in Aachen alle
Glocken läuten. Eine Idee der Bürgerstiftung. Die Kirchen waren schnell
angetan davon, berichtet Geupel. „Ich bin sehr gespannt, wie berührend das
wird; Trauer, Dankbarkeit, Verpflichtung für die Zukunft – jeder wird etwas
anderes empfinden.“
Glockenläuten indes, fand ein Bürgerstifter, das werden doch die vielen
bassbeboosterten Autofahrer gar nicht mitbekommen. Warum nicht alle Ampeln
für fünf Minuten auf Rot stellen? Der rote Knopf im Verkehrsamt und die
zugehörige Mitarbeiterin waren bald identifiziert. Es gab auch Befürworter
bei der Stadt. Oberbürgermeister Marcel Philipp (CDU) aber sagte Nein.
Glockenläuten, so seine Begründung, sei doch genug.
## OB muss sich beeilen
Vergangenen Mittwoch fragte der OB-Referent den verdutzten Geupel, ob die
Gedenkveranstaltung nicht etwas später beginnen könne. Grund: Der OB müsse
vorher dringend einen anderen Bunker besuchen, einen des Konsums: Die neue
Shopping Mall Aquis Plaza habe Richtfest. Geupel teilte mit, 12.05 Uhr sei
nun mal die geschichtlich unveränderbare Zeit. Jetzt will sich der OB
beeilen.
Am Lousberg-Bunker surrt derweil die automatische Betonsäge weiter. Mit
Wasserberieselung wegen des Staubs. Eine sehr archaische Konstruktion über
wacklige Bänder und windschiefe Seilzüge und damit eine Technologie, die
auf bizarre Weise zu 1944 passt. Stetig tropft das Wasser aus dem
Mauerwerk.
Im Frühjahr soll der Klotz Geschichte sein. Immerhin ist man auf der
Baustelle historisch sensibler als der Oberbürgermeister: Auf Vorschlag
Geupels werden die Arbeiter während des Glockenläutens ihre Meißel,
Presslufthämmer und Hydraulikzangen niederlegen. „Dazu bedurfte es nur
eines ganz kurzen Telefonats.“
21 Oct 2014
## LINKS
[1] http://www.freeaachen44.de/
## AUTOREN
Bernd Müllender
## TAGS
Aachen
Schwerpunkt Zweiter Weltkrieg
Schwerpunkt Nationalsozialismus
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