# taz.de -- Jugend in Südkorea: Keine Zeit zum Leben | |
> Die junge Generation in Südkorea steht ständig unter Leistungsdruck. Nur | |
> wenige gründen eine Familie. Wann auch – bei 70 Arbeitsstunden pro Woche? | |
Bild: Ein Job bei Smartwatch-Hersteller Samsung ist für viele SüdkoreanerInne… | |
Wie eine Ameisenstraße zieht sich der Menschenstrom Hunderte Meter vom | |
U-Bahnhof die Straße entlang: Mittzwanziger, die mit hängenden Schultern | |
und zerknitterten Gesichtern an grauen Apartmentblocks vorbeischlurfen. Ihr | |
Ziel ist eine Oberschule am nördlichen Stadtrand von Seoul, die wie 80 | |
weitere Schulgebäude an diesem Sonntagmorgen ihre Pforten öffnet. Für viele | |
junge Menschen des Landes wird sich dort in den nächsten zweieinhalb | |
Stunden ihre Zukunft entscheiden. | |
„Sollte ich keinen Job bekommen, kann ich ja immer noch ein Praktikum | |
machen“, sagt Oh Ye-ji, als versuche sie ihre Nervosität herunterzuspielen. | |
Gewappnet mit Dosenkaffee und iPad, durchschreitet die 24-Jährige den | |
Pausenhof, vorbei an Männern in schwarzen Anzügen und Krawatten, die das | |
Geschehen überwachen. | |
Eigentlich könnte die Koreanerin zuversichtlich sein, schließlich hat sie | |
vor Kurzem erst ein Wirtschaftsstudium an einer der renommiertesten Unis | |
des Landes abgeschlossen. Doch 15 Bewerbungsverfahren später ist ihr | |
Selbstbewusstsein angekratzt, und der Kredit für die Studiengebühren sitzt | |
ihr im Nacken. 7.000 Euro hat Oh Ye-ji pro Jahr für ihr Studium bezahlt. | |
Vier Jahre war sie an der Uni. | |
Die Prüfung bei Samsung, bei der von 200.000 Uni-Absolventen nur jeder | |
vierzigste durchkommt, ist die zweitwichtigste im Leben vieler junger | |
Südkoreaner, vor ihr rangiert nur die Aufnahmeprüfung an der Uni. Im | |
letzten Jahr gaben südkoreanische Eltern für ihre Kinder 14 Milliarden Euro | |
für Nachhilfe aus, um sich auf den Uni-Aufnahmetest vorzubereiten. | |
## Samsung, Stolz des Landes | |
Trotz dieser Kosten bestreiten 80 Prozent eines Jahrgangs ein Studium – so | |
viel wie in keinem anderen entwickelten Land der Welt. Das hat auch damit | |
zu tun, dass es kaum mittelständische Betriebe gibt, die die Jugend | |
ausbilden könnte. Südkoreas Wirtschaft steht und fällt mit seinen | |
Konglomeraten. Allein Samsungs Umsatz macht ein knappes Viertel des | |
gesamten Bruttoinlandsprodukts des Landes aus, zudem ist das Unternehmen | |
für ein Drittel aller Exporte verantwortlich. Deshalb gilt ein Vertrag beim | |
größten Konglomerat des Landes in Südkorea immer noch als Ritterschlag, | |
schließlich symbolisiert das Unternehmen den neugewonnenen Stolz einer | |
jahrzehntelang gebeutelten Nation. | |
Doch für eines der großen Unternehmen zu arbeiten, bleibt für das Gros der | |
Jugend ein unerreichbarer Traum, denn die größten 30 Unternehmen | |
beschäftigen gerade einmal 6,8 Prozent der gesamten Arbeitskräfte des | |
Landes. Die Jugendarbeitslosigkeit ist in Südkorea so hoch wie seit den | |
1980ern nicht mehr. Acht Prozent mögen im europäischen Vergleich moderat | |
klingen, doch für ein Land mit rudimentär entwickeltem Sozialstaat, in dem | |
die Kinder nach konfuzianischer Tradition für das Wohlergehen ihrer Eltern | |
verantwortlich sind, ist diese Zahl alarmierend. Zudem trügt die offizielle | |
Statistik: Sie ignoriert eine wachsende Gruppe junger Leute, die sich von | |
der aktiven Arbeitssuche verabschiedet hat. Tatsächlich dürfte die Zahl der | |
unter 30-Jährigen ohne festes Einkommen bei mehr als 20 Prozent liegen. Auf | |
Hilfe vom Staat dürfen sie nicht hoffen, und Nebenjobs reichen in der | |
Hauptstadt Seoul längst nicht zum Leben. | |
## Keine Beziehung, keine Kinder | |
Vor drei Jahren hat eine südkoreanische Tageszeitung der heutigen | |
Generation ihren Namen gegeben: Sampo, was sich in etwa mit „drei Verluste“ | |
übersetzen lässt. Immer mehr junge Koreaner geben jegliche Hoffnung auf, | |
einen Lebenspartner zu finden, jemals zu heiraten, geschweige denn Kinder | |
zu bekommen – nicht aus dem Wunsch nach alternativen Lebensentwürfen oder | |
Rebellion gegen die statusversessene Gesellschaft heraus. Nein, der Kampf | |
um einen festen Arbeitsplatz frisst all ihr Geld – und die gesamte | |
Freizeit. | |
Am deutlichsten zeigt sich diese Entwicklung in der Geburtenrate, bei der | |
Südkorea von weltweit 224 Staaten an fünftletzter Stelle steht. In Seoul | |
bekommt eine Frau statistisch gesehen nur 0,97 Kinder und ist dabei mehr | |
als 32 Jahre alt. | |
Laut Umfragen der großen Heiratsagenturen steht für Südkoreanerinnen bei | |
der Partnersuche längst nicht mehr der Charakter an erster Stelle, sondern | |
die finanzielle Potenz. Und das aus gutem Grund: Bevor die Eltern ihre | |
Erlaubnis zur Heirat erteilen, müssen die Männer der Tradition entsprechend | |
eine Wohnung kaufen, die Frauen die Einrichtung besorgen. Und sobald die | |
Eltern in Pension gehen, gebietet es die Tradition, sich um ihr Wohl zu | |
kümmern – auch finanziell, denn das staatliche Rentensystem steckt noch in | |
den Kinderschuhen. Um diese Last abzufedern, arbeiten Südkoreaner im | |
Schnitt bis zum 70. Lebensjahr, also ein Jahrzehnt länger als das staatlich | |
vorgeschriebene Renteneintrittsalter. | |
## Südkoreas Aufstieg | |
In einem halben Jahrhundert schuftete sich das Land am Han-Fluss von einem | |
der ärmsten Länder der Welt zur elftgrößten Volkswirtschaft. Noch heute ist | |
nahezu jeder Bereich der Gesellschaft dem Wirtschaftswachstum | |
untergeordnet, für die schwachen Glieder in der Kette bleibt kein Platz. | |
Doch wie schaut es aus auf der Gewinnerseite? | |
Hong Sang-ju hat in seinem Leben alles richtig gemacht, zumindest seine | |
Eltern würden es so sehen. Nach dem Maschinenbau-Studium an der Seouler | |
Nationaluniversität, der Kaderschmiede des Landes, ergatterte er vor vier | |
Jahren eine Stelle bei Samsung Electronics als Ingenieur. Hong sitzt in | |
einem Café im Seouler Nobelbezirk Gangnam und stochert mit seiner Gabel im | |
Ricottasalat. Hinter der Glasfront ragen drei Samsung-Bürotürme 200 Meter | |
in den wolkenlosen Himmel. | |
Für das Gros seiner Generation lebt der 29-Jährige den koreanischen Traum, | |
doch glücklich wirkt er nicht. „Ich wünschte mir, ich könnte auch ein wenig | |
mehr Freizeit haben“, sagt Hong. Sein Arbeitsalltag beginne morgens um | |
sechs, wenn er sich zum Bus aufmache, und ende oft nach Mitternacht. Da er | |
auch am Samstag arbeiten müsse, bliebe nur der Sonntag zum Entspannen. | |
Samsung-Manager seien im ganzen Land für ihre Arbeitswut berüchtigt, sagt | |
Hong: „Den jüngeren Mitarbeitern fehlt dieser Spirit. Sie sind mehr um ihre | |
Work-Life-Balance besorgt.“ | |
Tatsächlich sind immer weniger Südkoreaner bereit, 70 Wochenstunden für | |
einen satten Lohn einzutauschen. Zum ersten Mal seit mehr als zehn Jahren | |
wurde Samsung kürzlich als beliebtester Arbeitgeber des Landes von der | |
Fluggesellschaft Korean Air abgelöst. | |
## „Es war die Hölle“ | |
Die unzähligen enttäuschten Samsung-Bewerber wird das wohl kaum trösten. | |
„Es war die Hölle“, sagt Oh Ye-ji zweieinhalb Stunden und 260 Testfragen | |
später. Hoffnung auf ein Bewerbungsgespräch bei Samsung mache sie sich | |
keine mehr. Ob sie einen anderen Weg für sich sieht, als den absurd hohen | |
Leistungsanforderungen hinterherzuhecheln? Niemand aus ihrer Generation | |
würde genug Kraft haben, gegen das System zu rebellieren, sagt Oh Ye-ji. | |
Als sie frisch an der Uni war, da seien ihre Ideale von einer älteren | |
Studentin befeuert worden, die Demonstrationen organisierte, um die | |
katastrophalen Arbeitszustände der Reinigungs- und Sicherheitskräfte an der | |
Uni anzuprangern. In Südkorea passiere das extrem selten, dass jemand den | |
Mut habe, sich öffentlich gegen den Strom zu stellen. Vor Kurzem erst habe | |
sie ebenjene Studentin wiedererkannt: auf dem Foto einer Tageszeitung. Sie | |
würde jetzt als hohe Regierungsbeamte arbeiten, stand dort geschrieben. Für | |
Oh Ye-ji kam das einem Schock gleich: „Wer dort arbeitet, muss sich | |
zumindest anpassen, wenn nicht gar seine Ansichten aufgeben. Wenn sich | |
selbst solche Leute irgendwann fügen, wer soll dann wirklich etwas ändern?“ | |
24 Oct 2014 | |
## AUTOREN | |
Fabian Kretschmer | |
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