# taz.de -- Haushaltssperre II: Angst vor den Ruinen im Mund | |
> Einer Praxis für Obdachlose am Ostbahnhof droht wegen der Haushaltssperre | |
> des Bezirks Friedrichshain-Kreuzberg das Aus. | |
Bild: Nicht in jeder Arztpraxis willkommen: Obdachlose in Berlin. | |
Die Schmerzen sitzen rechts unten. Eine Krone hat sich gelöst, der | |
empfindliche Stumpf darunter ist nicht mehr geschützt. Mehrmals war der | |
junge Mann mit den Tätowierungen bereits in der Praxis, heute hat der | |
Zahnarzt Zeit. Christian Bolstorff schiebt ihm ein Wattestück in die Backe. | |
„Bitte noch mal draufbeißen.“ Die Krone sitzt wieder. | |
Man könnte den Patienten für einen ganz normalen, schlaksigen 29-Jährigen | |
halten, wäre er nicht so weggetreten. Sein Blick schweift durch den Raum, | |
ohne etwas zu sehen. Wie die anderen Patienten in der Praxis am Ostbahnhof | |
lebt er auf der Straße. Auch Obdachlose ohne Krankenversicherung können | |
sich hier von Allgemeinmedizinern und Zahnärzten behandeln lassen. Es gibt | |
eine Dusche, eine Kleiderkammer. Und Essen. | |
Ein hochgelobtes Projekt. Doch ob Bolstorff und seine Kollegen auch im | |
nächsten Jahr noch behandeln können, ist aufgrund der Haushaltssperre in | |
Friedrichshain-Kreuzberg (siehe Seite 22) unklar. Von den rund 100.000 | |
Euro, die die Praxis an öffentlichen Mitteln pro Jahr erhält, zahlt etwa | |
ein Drittel der Bezirk. Es handelt sich um freiwillige Zuwendungen, die bei | |
Haushaltssperren gestrichen werden. | |
Der Allgemeinmediziner Uljan Zöba, der drei Tage in der Woche hier | |
arbeitet, befürchtet Schlimmes. Viele seiner Patienten seien verwahrlost | |
und deshalb nicht „wartezimmerfähig“ – normale Ärzte nähmen sie nicht … | |
„Wenn wir sie nicht mehr behandeln, werden einige mit Abszessen oder | |
Blutvergiftungen auf der Straße sterben“, warnt Zöba. | |
Der Bezirkssprecher Sascha Langenbach versucht zu beschwichtigen. „Es ist | |
sehr bedauerlich, dass wir der Praxis aktuell keine Zusage für 2015 machen | |
können.“ Er rechne aber damit, dass es trotz der Sperre weitergehe. „Der | |
Bezirk hat ein enormes Interesse daran, die Praxis zu erhalten.“ | |
Gleich ist Mittag. In der Küche blubbert der Rotkohl, es gibt Kartoffeln | |
und Lammfleisch, das jemand gespendet hat. Mehrere Männer haben es sich an | |
den Tischen bequem gemacht, einer schnarcht mit dem Kopf auf der Platte. | |
„Ich kenne die alle“, sagt ein bärtiger 58-Jähriger, der zu den Stammgäs… | |
gehört. „Wenn es das hier nicht mehr gibt, muss ich betteln gehen.“ | |
Der junge Mann mit der reparierten Krone im Mund hat sich inzwischen | |
rasiert. Er setzt sich, um gleich zu essen. Das Aus der Anlaufstelle wäre | |
ein „Absturz für alle“, sagt er. „Dann haben wir nur noch Ruinen im Mund… | |
28 Oct 2014 | |
## AUTOREN | |
Antje Lang-Lendorff | |
## TAGS | |
Obdachlosigkeit | |
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