# taz.de -- Depressionen im November: Drei Farben Grau | |
> Die Vögel singen nicht mehr, die Bienen sind tot. Und die Bäume werfen | |
> achtlos das Laub weg wie todkranke Millionäre ihr Geld. | |
Bild: So sieht's aus. | |
Es ist so düster. Eine formidable Saulaune hat sich eingestellt und zeigt | |
der Welt die Borsten. Mit der Umstellung auf Winterzeit haben uns die | |
Verantwortlichen auch noch das letzte Lebenslicht geraubt. Dahinter steckt | |
Kalkül. | |
Der November dient dem System als Vehikel, die Untertanen vom sommerlichen | |
Übermut herunter und über die Planke des Wankelmuts tief hinunter in einen | |
Ozean aus pechschwarzer Schwermut zu stoßen. Schwermut hat nun gar nichts | |
mehr mit Mut zu tun, allenfalls mit Wermut. Ein Bier tut es natürlich auch, | |
oder ein Glühwein. Getränke, die langsam töten, nachdem sie so schlampig | |
wie lieblos ihrem Auftrag der Erzeugung tückischen Sekundenglückes | |
nachgekommen sind. Es ist schon ein rechter Teufelskreis. | |
Wie fröhlich war ich noch im Sommer. Ich sprang mit einem hellen Kleidchen | |
angetan barfuß über blumenbestickte Wiesen. Klatschte bei jeder Biene, die | |
sich sacht an einer Blüte schubberte, bei jedem Schmetterling, der zu | |
meiner Ergötzung taumelnd gaukelte, bei jedem der so zahlreichen | |
Sonnenstrahlen, die meine mit güldenen Härchen zuhauf versehene Sammethaut | |
streichelte, strob und stroff, vor maßloser Verzückung in die Hände, sodass | |
das fortwährende Klatschen einen geschlossenen Klangteppich ergab, der dem | |
Geräusch eines mit buntenem Bast umsäumten winzig kleinen Presslufthammers | |
glich. | |
Goldkehlchen säumten trällernd den Hain. Ich trank den Nektar der Blüten, | |
aß den Klee, sang dem Dasein freudetrunkene Lieder. Am Abend ging ich | |
schweißtriefend und mit vom Dauerapplaus wunden Händen, doch überaus | |
zufrieden und erfüllt zu Bette. Selig schlummerte ich ein und das | |
Sandmännchen hielt auf dem Kopfende meiner Schlafstatt Wacht. Durchs offene | |
Fenster lächelte ein milder Mond. Das war schön. Schön war die Zeit. | |
## Orkus des Vergessens | |
Wo ist sie hin? Verschwunden im Orkus des Vergessens. Kälte macht sich | |
breit. Die Vögel singen nicht mehr, die Sonne schaltet einmal pro Woche das | |
Notaggregat ein und die Bienen sind tot. Erstochen. | |
Der geliebte Bürgermeister unserer kleinen Stadt Berlin tauscht Eselsmütze | |
gegen Hut, den er nun nimmt, obwohl sein Flugplatz noch nicht fertig ist. | |
Die Bäume werfen achtlos das Laub weg wie todkranke Millionäre ihr Geld. | |
Von des Sommers reichem Blumenschmuck sind uns nur die auf den Gräbern | |
welkenden Chrysanthemen geblieben. | |
Das Kleidchen hängt im Schrank, schafswollene Schlüpfer scheuern | |
schmerzhaft am schrumpfenden Schwänzlein. Mit dicken Stahlkappenstiefeln an | |
den Füßen schlurfe ich übellaunig durch die Straßen – die Route ist immer | |
dieselbe: erst der Friedhof, dann das Dunkelrestaurant (Schwarzwurzeln, | |
Schwarzbrot) und am Ende ein Darkroom in der Düsterhauptstraße. Dort sitze | |
ich dann, allein, und weine leise vor mich hin. | |
Gewiss, auch im November gibt es viel zu feiern – da bleibt kein Auge | |
trocken, denn die Tränen fließen ohne Rast: Allerheiligen, Allerseelen, | |
Reichspogromnacht, Mauer kaputt – letztere beiden Ereignisse sind auch als | |
Deutsches Nine-Eleven bekannt –, Volkstrauertag, Buß- und Bettag, | |
Totensonntag. Selten so gelacht. Wer auf Feiern in Schwarz zu Oboenmusik in | |
Moll und mit einem Glas Brackwasser in der Hand herumsteht, kommt hier | |
bestimmt auf seine kranken Kosten. | |
Der freut sich auch über den zähen Todeskampf der Krähe im kahler werdenden | |
Geäst. Freund Eichhorn, Kamerad Dealer und Onkel Exhibitionist stehen | |
einsam im Park herum – wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben. Doch | |
auch in den Straßen ist die Atmo schwer am Boden: Frierende Kinder, an | |
denen man offene Feuer befestigt hat, damit sie nicht unerkannt flüchten | |
können, werden durch die dunklen Gassen getrieben. Vom Glühwein und der | |
eigenen Bosheit besoffene Erzieher singen Spottlieder dazu. Laterne, | |
Laterne, Brandwunden und Sterne. Ab und zu geht ein Kind knisternd in | |
Flammen auf, dann lachen sie nur. Sonst ist außer Weinen, Fluchen, Husten, | |
Niesen, Wehgeschrei und den Sirenen der Rettungswagen kein Laut mehr zu | |
hören. | |
## Frost mit klammen Fingern | |
Es ist die Jahreszeit für Wörter mit U, dem unheimlichsten und dunkelsten | |
aller Vokale: Unmut, Unzufriedenheit, Umsturz, Uhu, Umbringen. In Kriegen | |
und Bürgerkriegen werden Menschen, in den Wäldern kleine Miezekatzen mit | |
großen Augen und in den Umluftbacköfen junge Puter getötet. | |
Oma stirbt. Das Fahrrad wird gestohlen. Alle werden entlassen. Erster Frost | |
legt sich auf die Brücken und greift des Nachts mit klammen Fingern | |
tückisch nach arglosen Autofahrern. Viele sind noch jung. Gewesen. Kein | |
Sandmännchen hilft ihnen nun und kein milder Mond. Hielte nicht Fräulein | |
Nebel das Elend die meiste Zeit unter ihrem weißen Leichentuch verborgen, | |
zerrissen unsre Seelen ganz gewiss vor Leid. | |
Das soll jetzt alles nicht verbittert klingen. Echt nicht, absolut nicht, | |
null. Es ist allenfalls verbittert. Wie es klingt, ist mir hingegen | |
scheißegal. Alles ist mir egal. | |
Dabei gibt es doch überall so wunderschöne Grautöne, dass es eine wahre | |
Pracht ist. Der „Indian Winter“, der Spätherbst, protzt mit seiner reichen | |
Palette aus Blassgrau, Hellgrau, Mittelgrau, Dunkelgrau und Schwarz. Ein | |
depressiver Maler hätte sicher seine reine Freude daran. Doch leider bin | |
ich nur ein depressiver Autor – wer hätte das gedacht? | |
Ach, wäre ich doch wenigstens ein depressiver Clown. Während im Käfigwagen | |
hinter mir ein zerfleddertes Känguru zur Musik der Tiger Lillies röchelnd | |
seinen Löffel abgäbe, bespaßte ich, eine rote Nase ins graue Gesicht | |
geschminkt, im Zirkus November die beiden einzigen Zuschauer, die gekommen | |
sind: Herrn Not und Frau Tod. Sie danken der Vorstellung mit langgezogenen, | |
hohlen Klagelauten. Geld gibt es natürlich keines. Beide standen auf der | |
Gästeliste. | |
13 Nov 2014 | |
## AUTOREN | |
Uli Hannemann | |
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