# taz.de -- Altern und Würde: Bitte, Papa | |
> Irgendwann muss man für seine Eltern sorgen. Was aber, wenn sie das nicht | |
> wollen? | |
Bild: Zu nah dran: Marlene wollte das Leben ihres Vaters in Ordnung bringen. La… | |
Am Weihnachtsabend vor einem Jahr war klar, dass es so nicht weitergehen | |
konnte. Mein Vater hievte sich auf den Beifahrersitz meines Wagens. Der | |
Geruch, der von ihm ausging, ließ mich das Fenster herunterkurbeln. „Bist | |
du das?“, fragte ich ihn. Mein Vater schaute ertappt. „Der Boiler ist | |
kaputt“, sagte er. „Mit kaltem Wasser badet es sich so schlecht.“ „Wie | |
lange schon?“, fragte ich. „Schon eine ganze Weile“, sagte er. Dann fuhren | |
wir los. | |
Mein Vater ist 72 Jahre alt, und würde man ihn nach objektiven Kriterien | |
beurteilen, müsste man wohl sagen, dass er verwahrlost ist. Bis ich es | |
geschafft habe, dieses Wort zu verwenden, hat es zwei Jahre gedauert. | |
Irgendwann kommen fast alle Kinder an den Punkt, an dem sich das Verhältnis | |
zu ihren Eltern umkehrt. Er kommt oft unvermittelt. In einer Gesellschaft, | |
die von Selbstbestimmung, Selbstverwirklichung und der Sehnsucht nach | |
Freiheit geprägt ist, bringt uns niemand bei, was zu tun ist, wenn die | |
eigenen Eltern es nicht mehr alleine schaffen, ganz egal, ob Alter und | |
Krankheit sie schwächen oder ob es wie bei meinem Vater die Armut ist, die | |
das gewohnte System zum Einsturz bringt. Ich musste das lernen. Ich lerne | |
immer noch. | |
Anfangs ging es nur ums Geld. Eigentlich war mein Vater längst alt genug, | |
in Rente zu gehen. Den kleinen Schreibwarenladen hatte er 2003 aufgegeben | |
und sich einen Traum erfüllt. Er war wieder aufs Land gezogen. Raus aus der | |
engen Dreizimmerwohnung in München-Milbertshofen, in der ich aufgewachsen | |
war und die mein Vater nach der Scheidung alleine bewohnt hatte, zurück in | |
das Haus seiner Eltern. | |
Ein kleiner Einsiedlerhof mit Scheune und Stall, der nach dem Krieg ein | |
paar Schweinen und einer Kuh Platz geboten hatte und auf dem meine | |
Großmutter bis in die achtziger Jahre Hühner hielt. Hinter dem Haus wachsen | |
knorrige Obstbäume in den Himmel. Die Bina, ein schmaler Bach, trennt den | |
Grund von der Landstraße, die die niederbayerischen Ortschaften Aich, | |
Hilling und Bonbruck verbindet. | |
Für meinen Vater, der mit 17 Jahren ohne ein Wort des Abschieds abgehauen | |
war, ist dieses Haus immer ein Sehnsuchtsort geblieben. „Eines Tages ziehe | |
ich wieder aufs Land.“ Diesen Satz habe ich als Kind ziemlich oft gehört. | |
Nun lebte er also dort. Statt aber die Vorzüge seines Alterswohnsitzes zu | |
genießen, fuhr er nach wie vor jeden Tag mit einem klapprigen | |
Mercedes-Sprinter nach München, um Kurierfahrten zu erledigen. Er wollte | |
mit den paar hundert Euro aus dem Job Schulden abbezahlen, eine | |
fünfstellige Summe, die einem mit knapper Rente unbezwingbar vorkommen muss | |
– irgendwie schaffte er es aber, noch mehr anzuhäufen. | |
Seit ich mich erinnern kann, hat mein Vater über seine Verhältnisse gelebt. | |
Alle zwei Jahre leaste er ein neues Auto. Einen Kombi oder einen | |
Jeep-Verschnitt, wegen der Waren, die er für seinen Kiosk einkaufte – aber | |
auch, weil das ein stattliches Auto ist. Mein Vater war auf seine Wagen | |
immer sehr stolz. Er belieh das Haus seiner Eltern und nahm einen Kredit | |
nach dem anderen auf. Die Ehe meiner Eltern zerbrach am ständigen Streit | |
über Geld. | |
## Comics und Schnaps: Er pachtete Kiosk um Kiosk | |
1958, als er als junger Mann nach München kam, heuerte mein Vater als | |
Bauarbeiter an. Für die Deutsche Schlafwagengesellschaft bereiste er ganz | |
Europa. Er scheint das Leben damals sehr genossen zu haben. Der Junge vom | |
Dorf, der die Schule nur bis zur neunten Klasse besucht hatte und dessen | |
Jugend aus Elvis-Presley-Platten, Motorrollern und der Eroberung der | |
schönsten Frau im Petticoat bestanden hatte, reiste nun bis nach Hamburg | |
oder Sizilien, amüsierte sich auf der Reeperbahn, aß frische Pasta und | |
trank italienischen Wein. | |
Heute zeugen alte Bilder von dieser Zeit – und Postkarten verflossener | |
Liebschaften, die ich im Grundschulalter in seinem Nachtkästchen fand. Auf | |
einem Schwarz-Weiß-Foto sieht man einen jungen Mann mit gegelter Haartolle | |
im weißen Feinrippunterhemd, eine Zigarette in der Hand, der lachend mit | |
seinen Kumpels in einem leeren Abteil zecht. | |
Ich habe dieses Bild immer gemocht, weil es mich meinem Vater so | |
nahebringt. Die Lust am Abenteuer, die Begeisterung für Nacht und Rausch, | |
all das habe ich sehr gern von ihm geerbt. „Wäre ich bei der Bahn | |
geblieben, hätte ich jetzt ausgesorgt“, sagt mein Vater heute oft. Damals | |
aber wollte er selbstständig sein. | |
Also eröffnete er 1976 mit meiner Mutter, die er im selben Jahr geheiratet | |
hatte, ein Wirtshaus, und als meiner Mutter die schwere Arbeit zu viel | |
wurde, pachtete er Kiosk um Kiosk, um dort Zeitschriften, Comics, | |
Zigaretten, Gummischlangen und Schnaps in kleinen Flaschen zu verkaufen. | |
Viel eingebracht hat ihm das nie. Meine Mutter hielt das Geld zusammen. | |
Doch nach der Scheidung 1992 ging es für meinen Vater finanziell bergab. | |
Als er das Inventar des letzten Ladens an seinen Nachfolger verkaufte, | |
bevor er aufs Land zog, machte er noch mal ordentlich Miese. Deshalb | |
verdingte er sich mit knapp siebzig Jahren als Kurierfahrer. | |
Mein Vater, das kann man wohl so sagen, hat sich selbst in eine desaströse | |
Lage gebracht. | |
Das Ausmaß der finanziellen Katastrophe, in der er sich befand, offenbarte | |
er mir nur sehr zögerlich, Rechnung für Rechnung und Brief um Brief – und | |
als es längst zu spät war, um etwas abzuwehren. | |
## Stabilität, Erwachsenwerden? Hat noch Zeit | |
Im Nachhinein frage ich mich oft, wo ich war, als mein Vater all diese | |
falschen Entscheidungen traf. Ich muss dann feststellen: Überall, nur nicht | |
bei ihm. Ich hatte lange studiert und die Freiheiten, die ein | |
Magisterstudium bot, ausgekostet. Statt ständig zu lernen, ging ich auf | |
Reisen und statt an meinem Lebenslauf zu feilen, stand ich nachts hinterm | |
Tresen. Nach etlichen Praktika und einer Journalistenschule schlug ich mich | |
schließlich als freie Journalistin durch. An meinen Vater habe ich damals | |
keine Sekunde gedacht. Womöglich ist, wer selbst noch mitten in der | |
Entwicklung steckt, dazu auch nicht in der Lage. | |
„Vierzig ist das neue Dreißig“, haben wir unter Freunden oft gesagt – in | |
dem Gefühl, für alles, was mit Stabilität und Erwachsenwerden zu tun hat, | |
noch unendlich viel Zeit zu haben. | |
Jetzt musste ich auf einmal Verantwortung übernehmen, weil man Vater sich | |
zusehends weniger erwachsen benahm. | |
Zuerst war es nur die Steuererklärung, die er mich bat, für ihn | |
auszufüllen. „Ich sehe nicht mehr so gut“, sagte er damals. „Aber ich sa… | |
dir, was du hinschreiben musst.“ | |
Das Verhältnis zu meinem Vater war immer schon gut und schwierig zugleich. | |
Ich teile seinen Wunsch nach Unabhängigkeit und einem Leben, das wild ist, | |
außergewöhnlich und ein bisschen heldenhaft. Der Pragmatismus, die Vernunft | |
und buchhalterische Kleinlichkeit meiner Mutter, die ihn in seinen | |
Ehejahren vor dem finanziellen Ruin bewahrt hatten, waren auch mir oft | |
fremd. | |
Trotzdem war er lange ein Mann, vor dessen cholerischen Ausbrüchen ich mich | |
als Kind fürchtete. Als er meiner Mutter kurz nach der Trennung aus | |
Eifersucht ein blaues Auge schlug, sprach ich viele Jahre kein Wort mit ihm | |
und drückte den Hörer auf die Gabel, wenn er am anderen Ende der Leitung | |
war. | |
Mit Mitte zwanzig nahm ich wieder Kontakt zu ihm auf, unser Verhältnis war | |
ein anderes geworden. Er hatte die Kontrolle über mich verloren und war | |
nicht mehr Vater im eigentlichen Sinne. Ich hatte gelernt, alleine | |
zurechtzukommen. | |
Dass der Mann aber, den ich lange Zeit als stark und übermächtig empfunden | |
hatte, jetzt, mit siebzig, plötzlich Hilfe brauchen könnte, fiel mir | |
dennoch schwer zu akzeptieren. Ich fühlte mich schlicht nicht zuständig, so | |
wie er auch längst nicht mehr für mich zuständig war. | |
## „Brauchst du Geld, Papa?“ Er lachte, wie so oft. „Ja“ | |
Gut zwei Jahre muss es wohl her sein, als ich ihm am Telefon diese eine | |
Frage stellte. „Brauchst du Geld, Papa?“ „Ja“, sagt er einfach nur und | |
lachte. Wie so oft. Humor ist für meinen Vater eine Lösung, die auf alles | |
passt. Mit seiner Antwort habe ich trotzdem nicht gerechnet. | |
Dann brachte er seine Rechnungen – und meine Panik wuchs. Mahnungen von der | |
Telekom für einen Festnetzanschluss, der nicht funktionierte, horrende | |
Abschlagszahlungen vom Stromversorger, verursacht durch einen Elektroofen | |
im Wohnzimmer, vom Finanzamt geschätzte Steuernachzahlungen. Und dazu die | |
monatlichen Raten für die Bank, die ihm kaum Geld zum Leben ließen. | |
Gerne hätte ich einige der Rechnungen einfach beglichen. Aber ich war froh, | |
wenn ich selbst über die Runden kam. Ich wohnte zur Untermiete in einer | |
kleinen Einliegerwohnung und statt über die Gründung einer eigenen Familie | |
nachzudenken, kam ich oft erst mittags aus dem Club. Ich fühlte mich wie | |
eine Rettungsschwimmerin, die sich vorgenommen hatte, einen tonnenschweren | |
Sack aus der stürmischen See zu ziehen und drohte, dabei gleich selbst zu | |
ertrinken. | |
In meiner Not wandte ich mich an meine Mutter. Konnte Sie mir nicht einen | |
Teil dieser Verantwortung abnehmen? | |
„Du solltest dich da am besten nicht einmischen“, sagte sie, als sie mit | |
steifem Rücken in meinem Flohmarktsessel saß und ich ihr von den Rechnungen | |
erzählte. Ihre Stimme wurde immer schriller, „dein Vater hat sich | |
schließlich selbst in diese Lage gebracht!“ Seit der Scheidung haben meine | |
Eltern nur das Allernötigste gesprochen. | |
Was meine Mutter in diesem Moment aber vergaß: Sie kann sich sehr wohl von | |
ihrem Ehemann scheiden lassen, ich mich aber nur schlecht von meinem Vater. | |
„Du hilfst nicht ihm damit, sondern mir“, versuchte ich sie zu überzeugen. | |
Schließlich seufzte sie und verhinderte mit hochgezogenen Augenbrauen, dass | |
meinem Vater der Strom abgestellt wurde. Sie beglich die wichtigsten | |
Rechnungen. Gelöst war damit langfristig aber gar nichts. | |
Und weil ich in diesem Moment gemerkt hatte, dass es außer mir niemanden | |
gab, der meinem Vater helfen wollte, stellte ich schließlich gemeinsam mit | |
ihm eine Kostenrechnung auf und vereinbarte einen Termin bei der | |
Schuldnerberatung. | |
Der Mann, der uns im Rollkragenpullover in seinem kargen Büro empfing, war | |
freundlich und wirkte betroffen. Mein Vater war zuvor extra beim Friseur | |
gewesen. Nun knetete er sein ausgeblichenes Baseballkäppi im Schoß und | |
beantwortete jede Frage. Die Lösung, die uns der Berater unterbreitete, | |
schien ganz einfach. Weil mein Vater eine Rente unter dem | |
Grundsicherungsniveau erhält, riet er ihm, seinen defizitären | |
Kurierfahrerjob aufzugeben und Privatinsolvenz anzumelden. Auf einen Schlag | |
wäre er so die Forderungen seiner Gläubiger los. Der einzige Haken: Das | |
Haus müsse zur Tilgung der Schulden an die Bank fallen. | |
## Ab wann müssen sich Kinder um ihre Eltern kümmern? | |
„Wenn ich aus diesem Haus ausziehen muss, dann sterbe ich“, sagte mein | |
Vater, als er mit unsicheren Schritten das Büro der Schuldnerberatung | |
verließ. Das Haus ist ein Teil von ihm geworden. Dort kommt er her, dort | |
will er bleiben. Eine weitere Station hat er für sein Leben nicht | |
vorgesehen. | |
Er wolle, sagte er also, die Schulden, die er gemacht hatte, abbezahlen. | |
Das gebiete ihm sein Anstand – auch dann, wenn ich, wie ich immer wieder | |
beteuerte, kein Problem damit hatte, die Schulden und damit auch das Erbe | |
nach seinem Tod abzulehnen. Er habe sich das genau ausgerechnet. „Wenn ich | |
die nächsten zehn Jahre meine Raten zahle, hab ich es geschafft.“ In zehn | |
Jahren würde er über achtzig Jahre alt sein. | |
Nach dem Besuch bei der Schuldenberatung begann ich vor der Situation | |
davonzulaufen. Ich war wütend, weil er das Notwendige nicht anerkennen | |
wollte. Vor allem aber fühlte ich mich unfassbar allein. Mit Freunden über | |
die Situation zu sprechen, fiel mir schwer. Niemand schien ein ähnliches | |
Problem zu haben. Im Gegenteil: Meist waren deren Eltern rüstige Rentner, | |
die es im Leben zu bescheidenem Reichtum gebracht hatten und ihren | |
Lebensabend nun mit Wandern, Golf spielen und Reisen zubrachten – genau wie | |
meine Mutter. | |
Ich hatte mir schon immer Geschwister gewünscht. Aber noch nie so sehr wie | |
jetzt. | |
Wann beginnt eigentlich der Moment, in dem sich die Kinder wieder um ihre | |
Eltern kümmern müssen und nicht mehr andersherum? Gilt das erst, wenn | |
Eltern krank und pflegebedürftig werden? Oder fällt auch selbstverschuldete | |
finanzielle Not, gepaart mit Sturheit, in diese Kategorie? Sollte ich | |
versuchen, meinen Vater finanziell zu unterstützen und mich damit womöglich | |
selbst gefährden? Oder musste er die Dringlichkeit seiner Lage selbst | |
begreifen? | |
Ich vergrub mich in Arbeit, ging aus, fuhr in Urlaub. Ich wollte nicht über | |
ihn und seine Misere nachdenken – aus Angst, dass diese Verantwortung viel | |
zu groß sein könnte. Ich hatte aus gutem Grund bislang keine Kinder | |
bekommen. | |
## Hatte ich das Recht, für ihn Entscheidungen zu treffen? | |
Dann kam der Weihnachtsabend, an dem er zu mir ins Auto stieg und diesen | |
Geruch mitbrachte. Den Kurierfahrerjob hatte er inzwischen verloren. Die | |
Schulden aber waren noch da. | |
In meiner kleinen Münchner Wohnung drückte ich ihm ein Handtuch in die Hand | |
und schickte ihn unter die Dusche. Als er nach sehr langer Zeit wieder aus | |
dem Bad kam, wusste ich, dass es so nicht weitergehen konnte, dass ich sein | |
Problem zu meinem machen musste. Die Frage war nur: wie? | |
Hatte ich das Recht, Entscheidungen für ihn zu fällen, auch solche, die ihm | |
nicht gefielen? War das vielleicht sogar meine Pflicht? | |
Das alte Haus, das er bewohnt, ist über die Jahre mehr und mehr verfallen. | |
Jedes Mal, wenn mein Vater die Haustüre öffnet, bröckelt der Beton aus dem | |
Mauerwerk. Das Abzugsrohr des alten Wamsler-Ofens in der Küche, den man | |
noch mit Holz befeuern muss, ist kaputt, sodass die Wände von Küche und | |
Wohnzimmer vom Ruß ganz schwarz geworden sind. | |
Die beiden Katzen, die meinem Vater die einzige Abwechslung bieten, | |
schnurren und haaren vor sich hin. Und die Weberknechte, die das Haus | |
bevölkern, breiten ihre Spinnweben an den Wänden aus. Zum kaputten Boiler | |
kam schließlich ein Wasserrohrbruch und in der Folge eine Rechnung des | |
Wasserwirtschaftsamtes, die auch in die Tausende ging. | |
Mir wäre es am liebsten gewesen, mein Vater wäre in eine Sozialwohnung im | |
Ort gezogen. Dort hätte er, fast blind, die Nerven im rechten Bein von der | |
Diabetes angegriffen, alle nötigen Geschäfte in unmittelbarer Nähe gehabt. | |
Stattdessen hackt er nach wie vor Holz, um es im Winter warm zu haben, | |
tastet sich über die steilen Treppen des Hauses und entziffert die Nummern | |
auf seinem Handy mit einer Lupe. Briefe vom Amt kann er mithilfe des | |
Vergrößerungsglases nur noch entziffern, wenn er damit ins Freie geht oder | |
die Sonne durch die Fenster scheint. Abends sieht er fern, „Gute Zeiten, | |
schlechte Zeiten“, oder sitzt mit den Katzen im dunklen Zimmer und denkt | |
nach. Was er sonst so treibt – ich weiß es nicht. | |
Selbst wenn ich ihn zur Privatinsolvenz zwingen wollte: Konnte ich das | |
überhaupt? Rein rechtlich? Wollte ich, wie mir Verwandte immer wieder | |
rieten, meinem Vater das einzige nehmen, was ihm geblieben war: seine | |
Freiheit, selbst über sein Leben entscheiden zu können. | |
## „Du bist die einzige, auf die er hört“, sagen seine Geschwister | |
Ich war trotz allem seine Verbündete, schon immer gewesen, sein kleines | |
Mädchen, die Tochter, auf die er stolz ist und auf deren Wort er etwas gibt | |
– vielleicht gerade deshalb, weil ich so lange wütend auf ihn war. Der | |
Gedanke, dieses Gefühl, seine Liebe, aufs Spiel zu setzten, tat mir weh. | |
Vielleicht, dachte ich, bin auch ich es, die mit der Situation | |
zurechtkommen muss. Mein Vater hatte sich ja, allen Entbehrungen zum Trotz, | |
in seinem Leben eingerichtet: Seit er kein Auto mehr hat, fährt er mehrmals | |
in der Woche mit dem Bus in die nächste Ortschaft zum Einkaufen, kocht | |
seine Mahlzeiten, so gut es geht, auf dem alten Herd in der Küche und ist | |
trotz des wenigen Geldes, das er zur Verfügung hat, der Feinschmecker | |
geblieben, der er immer war. | |
Ab und zu berichtet er mir, wie er aus nur wenigen Zutaten eine gute Suppe, | |
einen Braten oder eine Nudelsoße zubereiten kann. Einsam scheint er sich | |
nicht zu fühlen. Auf einen Freundeskreis, wie er mir so existenziell und | |
wichtig erscheint, hatten weder meine Mutter noch mein Vater je großen Wert | |
gelegt. Und nachdem die beiden Beziehungen, die mein Vater nach der | |
Scheidung eingegangen war, wenig erfreulich geendet hatten, schien er ganz | |
gern alleine zu sein. Er hatte ja die Katzen. | |
Weil ich wissen wollte, warum es mir so schwer fiel, seine Situation ohne | |
Angst zu betrachten, ging ich zu einer Therapeutin, die ich schon seit | |
Jahren kannte. Oft hatte sie mir im Gespräch geholfen, klarer zu sehen. Ihr | |
Zimmer unter dem Dach und der Schaukelstuhl unter der Schräge, in dem ich | |
immer saß, waren mir vertraut. | |
Wir sprachen vor allem über das gute Verhältnis zwischen mir und meinem | |
Vater. Für viele ist er „ein blöder Hund“, wie man in Bayern sagt. Seine | |
älteren Geschwister haben ihn oft so genannt. Ein wirklich ernstes Gespräch | |
mit ihm zu führen, ist nicht leicht. Meist antwortet er in Kalauern. Und | |
kommt man ihm mit einem guten Rat zu nahe, kann er sehr aufbrausend sein. | |
Vor allem aber wittert mein Vater hinter jedem gut gemeinten Angebot ein | |
Komplott. | |
Fragt man ihn, warum er sicher ist, dass ihm die Nachbarn, Bruder und | |
Schwester, Stiefsohn und wer weiß noch alles, etwas Böses wollen, kann er | |
sein Misstrauen nur mit vagen Andeutungen begründen. Wen man um etwas | |
bittet – so seine Überzeugung – dem wird man zur Last. Und wer einem einen | |
Gefallen tut, will später etwas dafür, sei es nur: sich einmischen. Also | |
lässt mein Vater niemanden an sich heran - außer mich. | |
„Du bist die einzige, auf die er hört“, sagen seine Geschwister seit Jahren | |
zu mir. | |
## „Da ist viel Wärme“, sagte die Therapeutin über uns | |
Während ich im Schaukelstuhl wippte, wurde mir bewusst, warum das so ist: | |
Ich bin die einzige, die ihn so nimmt, wie er ist, die es nicht besser weiß | |
und sein Leben nicht in den Kategorien "normal" und "nicht normal" bemisst. | |
Als ich davon erzählte, wusste ich plötzlich sehr genau, dass ich ihn genau | |
darum zu nichts zwingen darf. Er würde einen Verbündeten verlieren. Und ich | |
auch. | |
„Da ist so viel Wärme zwischen Ihnen“, sagte die Therapeutin am Ende der | |
Sitzung. „Behalten Sie sich das gute Gefühl.“ Danach ging es mir besser. | |
Ich wollte das gute Gefühl behalten. Also lud ich das Auto eines schönen | |
Sommertages voller Papiertüten mit Biokost und ökologisch abbaubaren | |
Putzmitteln und fuhr die knapp neunzig Kilometer zu ihm. | |
Vier Tage wollte ich bleiben, ihm bei seinen Erledigungen helfen, ihn | |
verstehen und so herausfinden, was er wirklich braucht und was ich für ihn | |
leisten kann. | |
Vielleicht ist es am wichtigsten, dass ich einfach mal für ihn da bin, | |
dachte ich. | |
In meiner Erinnerung – und vermutlich auch in der meines Vaters – war die | |
Küche hier früher ein warmer, behaglicher Raum gewesen. | |
Als meine Großmutter noch lebte, wirbelte sie hier in einer blauen | |
Kittelschürze, die Haare unter einem Kopftuch versteckt, zwischen dem | |
Bratrohr und den auf dem Herd dampfenden Kochtöpfen umher, buk Dampfnudeln, | |
schnitt Pfannkuchen zu dünnen Streifen als Einlage für die Suppe und | |
übergoss die eingeritzte Kruste des Schweinebratens im Rohr in regelmäßigen | |
Abständen mit heißem Wasser. | |
Jetzt war die Küche eine Art Geisterort: die Schränke und die Tassen und | |
Teller darin ganz schwarz; die wenigen Lebensmittel standen aufgereiht | |
neben den Katzenfutterdosen auf der Anrichte. | |
Zwei Tage putzte ich, weil ich sonst in all dem Dreck nicht kochen konnte. | |
Ich schrubbte über die Fließen und über Schranktüren. Generationen von | |
Töchtern haben das in den vergangenen Jahrzehnten für ihre alleinstehenden | |
Väter wohl so gemacht. Ich aber betrat Neuland, als ich mir die grünen | |
Gummihandschuhe überstreifte, Wasser und Spülmittel in einem Eimer mischte. | |
Bislang, das fiel mir dabei auf, hatte sich mein Leben ganz um mich | |
gedreht. Meine Eltern waren nur Statisten, die mich zwar nach Kräften | |
unterstützten, mir nicht zu viel dreinreden sollten und die - so nahm ich | |
an – gänzlich unabhängig von mir funktionierten. | |
Seit der Scheidung waren wir alle drei Einzelkämpfer. Nur schien mein Vater | |
mittlerweile nicht mehr allein kämpfen zu können. | |
Als die Küche einigermaßen bewohnbar war, kochte ich ihm eine deftige | |
Suppe, die wir an einer Bierbank draußen im Hof aßen. Wir lachten über | |
seine albernen Witze, die ich seit Jahren kannte. Danach fuhren wir in das | |
nächste Dorf, um in der Gemeinde über den Verkauf von einem Teil seines | |
Grundstücks zu verhandeln und um einige Besorgungen zu machen. | |
Als es langsam zu dämmern begann, waren wir wieder zu Hause und schürten | |
gemeinsam das Feuer im Ofen an. Ich ging gerade die Vorräte durch und | |
überlegte, was wir zu Abend essen konnten, als mein Vater plötzlich wirr zu | |
reden anfing. Wie jemand, der – bereits im Einschlafen begriffen – noch | |
versucht, auf Fragen zu antworten, dessen Gedanken aber längst in einem | |
Traum gefangen sind. | |
„Was ist denn los?“ fragte ich und muss dabei ängstlich geklungen haben. | |
„Ich muss Insulin spritzen“, sagte er, nun selbst nervös, „gib mir bitte | |
die Kanülen.“ Er nestelte bereits an der Verpackung der Nadel herum, mit | |
der er sich in den Finger stechen und einen Bluttropfen erzeugen muss, um | |
den Blutzuckerspiegel mithilfe eines elektronischen Geräts messen zu | |
können. | |
## Vier Tage wollte ich bei ihm sein. Nach zweien ging ich | |
Als er sich die Injektion in die Bauchfalte gejagt hatte, atmeten wir auf. | |
Meine Zuversicht jedoch, dass ich meinem Vater den größten Gefallen tue, | |
wenn ich ihn nur regelmäßig besuche, war verflogen. | |
In diesem Moment hatte ich nur noch Angst, ihn zu verlieren, dass er | |
sterben würde, allein und ohne dass es jemand mitbekam. Plötzlich hielt ich | |
die Enge, die Kälte und den Dreck nicht mehr aus. | |
Ich reiste ab, obwohl ich noch zwei Tage hatte bleiben wollen. In meiner | |
eigenen, kleinen Wohnung hatte ich mich noch nie so wohl gefühlt wie an | |
diesem Abend. | |
Einige Wochen später rief ich eine Familienkonferenz bei meinem Onkel ein. | |
Gemeinsam saßen wir in der geräumigen Wohnung meines Onkels und seiner Frau | |
in einem Vorort südlich von München und aßen Ratatouille. Ich hatte | |
mittlerweile den Plan gefasst, es mit einer Art Haushälterin zu versuchen, | |
die das Haus ein wenig auf Vordermann bringen sollte und regelmäßig nach | |
ihm sehen. Vielleicht würde mein Vater eine gänzlich fremde Person, die für | |
diese Aufgabe bezahlt würde, akzeptieren. Nur wer eine solche Haushälterin | |
bezahlen sollte, war nicht klar. Also schlug ich vor, die Kosten mit den | |
engsten Verwandten meines Vaters zu teilen. Alle schwiegen betreten. | |
Nein, Geld wolle man nicht bezahlen, erklärte mir meine Tante. Schon einmal | |
habe man meinem Vater Geld geliehen – und es nie zurückbekommen. | |
Einige Wochen später telefonierte ich mit einer älteren Dame, die nicht | |
weit von meinem Vater entfernt wohnt. Nachbarschaftshilfe, dachte ich, das | |
könnte es sein. Menschen, die bereit sind, anderen ehrenamtlich oder für | |
wenig Geld zu helfen. „Mit schwierigen Fällen komme ich gut zurecht“, sagte | |
die Frau, die am Telefon sehr fröhlich und pragmatisch klang. | |
„Bitte, sag ja“, sagte ich wenig später zu meinem Vater. „Tu es für mic… | |
Ich bin so weit weg und ich mache mir Sorgen um dich.“ | |
„Okay“, sagte mein Vater nach einer längeren Pause. „Ab Januar kann sie | |
kommen, wenn dir das so wichtig ist.“ | |
Es ist ein Anfang. | |
3 Dec 2014 | |
## AUTOREN | |
Marlene Halser | |
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