| # taz.de -- Altern und Würde: Bitte, Papa | |
| > Irgendwann muss man für seine Eltern sorgen. Was aber, wenn sie das nicht | |
| > wollen? | |
| Bild: Zu nah dran: Marlene wollte das Leben ihres Vaters in Ordnung bringen. La… | |
| Am Weihnachtsabend vor einem Jahr war klar, dass es so nicht weitergehen | |
| konnte. Mein Vater hievte sich auf den Beifahrersitz meines Wagens. Der | |
| Geruch, der von ihm ausging, ließ mich das Fenster herunterkurbeln. „Bist | |
| du das?“, fragte ich ihn. Mein Vater schaute ertappt. „Der Boiler ist | |
| kaputt“, sagte er. „Mit kaltem Wasser badet es sich so schlecht.“ „Wie | |
| lange schon?“, fragte ich. „Schon eine ganze Weile“, sagte er. Dann fuhren | |
| wir los. | |
| Mein Vater ist 72 Jahre alt, und würde man ihn nach objektiven Kriterien | |
| beurteilen, müsste man wohl sagen, dass er verwahrlost ist. Bis ich es | |
| geschafft habe, dieses Wort zu verwenden, hat es zwei Jahre gedauert. | |
| Irgendwann kommen fast alle Kinder an den Punkt, an dem sich das Verhältnis | |
| zu ihren Eltern umkehrt. Er kommt oft unvermittelt. In einer Gesellschaft, | |
| die von Selbstbestimmung, Selbstverwirklichung und der Sehnsucht nach | |
| Freiheit geprägt ist, bringt uns niemand bei, was zu tun ist, wenn die | |
| eigenen Eltern es nicht mehr alleine schaffen, ganz egal, ob Alter und | |
| Krankheit sie schwächen oder ob es wie bei meinem Vater die Armut ist, die | |
| das gewohnte System zum Einsturz bringt. Ich musste das lernen. Ich lerne | |
| immer noch. | |
| Anfangs ging es nur ums Geld. Eigentlich war mein Vater längst alt genug, | |
| in Rente zu gehen. Den kleinen Schreibwarenladen hatte er 2003 aufgegeben | |
| und sich einen Traum erfüllt. Er war wieder aufs Land gezogen. Raus aus der | |
| engen Dreizimmerwohnung in München-Milbertshofen, in der ich aufgewachsen | |
| war und die mein Vater nach der Scheidung alleine bewohnt hatte, zurück in | |
| das Haus seiner Eltern. | |
| Ein kleiner Einsiedlerhof mit Scheune und Stall, der nach dem Krieg ein | |
| paar Schweinen und einer Kuh Platz geboten hatte und auf dem meine | |
| Großmutter bis in die achtziger Jahre Hühner hielt. Hinter dem Haus wachsen | |
| knorrige Obstbäume in den Himmel. Die Bina, ein schmaler Bach, trennt den | |
| Grund von der Landstraße, die die niederbayerischen Ortschaften Aich, | |
| Hilling und Bonbruck verbindet. | |
| Für meinen Vater, der mit 17 Jahren ohne ein Wort des Abschieds abgehauen | |
| war, ist dieses Haus immer ein Sehnsuchtsort geblieben. „Eines Tages ziehe | |
| ich wieder aufs Land.“ Diesen Satz habe ich als Kind ziemlich oft gehört. | |
| Nun lebte er also dort. Statt aber die Vorzüge seines Alterswohnsitzes zu | |
| genießen, fuhr er nach wie vor jeden Tag mit einem klapprigen | |
| Mercedes-Sprinter nach München, um Kurierfahrten zu erledigen. Er wollte | |
| mit den paar hundert Euro aus dem Job Schulden abbezahlen, eine | |
| fünfstellige Summe, die einem mit knapper Rente unbezwingbar vorkommen muss | |
| – irgendwie schaffte er es aber, noch mehr anzuhäufen. | |
| Seit ich mich erinnern kann, hat mein Vater über seine Verhältnisse gelebt. | |
| Alle zwei Jahre leaste er ein neues Auto. Einen Kombi oder einen | |
| Jeep-Verschnitt, wegen der Waren, die er für seinen Kiosk einkaufte – aber | |
| auch, weil das ein stattliches Auto ist. Mein Vater war auf seine Wagen | |
| immer sehr stolz. Er belieh das Haus seiner Eltern und nahm einen Kredit | |
| nach dem anderen auf. Die Ehe meiner Eltern zerbrach am ständigen Streit | |
| über Geld. | |
| ## Comics und Schnaps: Er pachtete Kiosk um Kiosk | |
| 1958, als er als junger Mann nach München kam, heuerte mein Vater als | |
| Bauarbeiter an. Für die Deutsche Schlafwagengesellschaft bereiste er ganz | |
| Europa. Er scheint das Leben damals sehr genossen zu haben. Der Junge vom | |
| Dorf, der die Schule nur bis zur neunten Klasse besucht hatte und dessen | |
| Jugend aus Elvis-Presley-Platten, Motorrollern und der Eroberung der | |
| schönsten Frau im Petticoat bestanden hatte, reiste nun bis nach Hamburg | |
| oder Sizilien, amüsierte sich auf der Reeperbahn, aß frische Pasta und | |
| trank italienischen Wein. | |
| Heute zeugen alte Bilder von dieser Zeit – und Postkarten verflossener | |
| Liebschaften, die ich im Grundschulalter in seinem Nachtkästchen fand. Auf | |
| einem Schwarz-Weiß-Foto sieht man einen jungen Mann mit gegelter Haartolle | |
| im weißen Feinrippunterhemd, eine Zigarette in der Hand, der lachend mit | |
| seinen Kumpels in einem leeren Abteil zecht. | |
| Ich habe dieses Bild immer gemocht, weil es mich meinem Vater so | |
| nahebringt. Die Lust am Abenteuer, die Begeisterung für Nacht und Rausch, | |
| all das habe ich sehr gern von ihm geerbt. „Wäre ich bei der Bahn | |
| geblieben, hätte ich jetzt ausgesorgt“, sagt mein Vater heute oft. Damals | |
| aber wollte er selbstständig sein. | |
| Also eröffnete er 1976 mit meiner Mutter, die er im selben Jahr geheiratet | |
| hatte, ein Wirtshaus, und als meiner Mutter die schwere Arbeit zu viel | |
| wurde, pachtete er Kiosk um Kiosk, um dort Zeitschriften, Comics, | |
| Zigaretten, Gummischlangen und Schnaps in kleinen Flaschen zu verkaufen. | |
| Viel eingebracht hat ihm das nie. Meine Mutter hielt das Geld zusammen. | |
| Doch nach der Scheidung 1992 ging es für meinen Vater finanziell bergab. | |
| Als er das Inventar des letzten Ladens an seinen Nachfolger verkaufte, | |
| bevor er aufs Land zog, machte er noch mal ordentlich Miese. Deshalb | |
| verdingte er sich mit knapp siebzig Jahren als Kurierfahrer. | |
| Mein Vater, das kann man wohl so sagen, hat sich selbst in eine desaströse | |
| Lage gebracht. | |
| Das Ausmaß der finanziellen Katastrophe, in der er sich befand, offenbarte | |
| er mir nur sehr zögerlich, Rechnung für Rechnung und Brief um Brief – und | |
| als es längst zu spät war, um etwas abzuwehren. | |
| ## Stabilität, Erwachsenwerden? Hat noch Zeit | |
| Im Nachhinein frage ich mich oft, wo ich war, als mein Vater all diese | |
| falschen Entscheidungen traf. Ich muss dann feststellen: Überall, nur nicht | |
| bei ihm. Ich hatte lange studiert und die Freiheiten, die ein | |
| Magisterstudium bot, ausgekostet. Statt ständig zu lernen, ging ich auf | |
| Reisen und statt an meinem Lebenslauf zu feilen, stand ich nachts hinterm | |
| Tresen. Nach etlichen Praktika und einer Journalistenschule schlug ich mich | |
| schließlich als freie Journalistin durch. An meinen Vater habe ich damals | |
| keine Sekunde gedacht. Womöglich ist, wer selbst noch mitten in der | |
| Entwicklung steckt, dazu auch nicht in der Lage. | |
| „Vierzig ist das neue Dreißig“, haben wir unter Freunden oft gesagt – in | |
| dem Gefühl, für alles, was mit Stabilität und Erwachsenwerden zu tun hat, | |
| noch unendlich viel Zeit zu haben. | |
| Jetzt musste ich auf einmal Verantwortung übernehmen, weil man Vater sich | |
| zusehends weniger erwachsen benahm. | |
| Zuerst war es nur die Steuererklärung, die er mich bat, für ihn | |
| auszufüllen. „Ich sehe nicht mehr so gut“, sagte er damals. „Aber ich sa… | |
| dir, was du hinschreiben musst.“ | |
| Das Verhältnis zu meinem Vater war immer schon gut und schwierig zugleich. | |
| Ich teile seinen Wunsch nach Unabhängigkeit und einem Leben, das wild ist, | |
| außergewöhnlich und ein bisschen heldenhaft. Der Pragmatismus, die Vernunft | |
| und buchhalterische Kleinlichkeit meiner Mutter, die ihn in seinen | |
| Ehejahren vor dem finanziellen Ruin bewahrt hatten, waren auch mir oft | |
| fremd. | |
| Trotzdem war er lange ein Mann, vor dessen cholerischen Ausbrüchen ich mich | |
| als Kind fürchtete. Als er meiner Mutter kurz nach der Trennung aus | |
| Eifersucht ein blaues Auge schlug, sprach ich viele Jahre kein Wort mit ihm | |
| und drückte den Hörer auf die Gabel, wenn er am anderen Ende der Leitung | |
| war. | |
| Mit Mitte zwanzig nahm ich wieder Kontakt zu ihm auf, unser Verhältnis war | |
| ein anderes geworden. Er hatte die Kontrolle über mich verloren und war | |
| nicht mehr Vater im eigentlichen Sinne. Ich hatte gelernt, alleine | |
| zurechtzukommen. | |
| Dass der Mann aber, den ich lange Zeit als stark und übermächtig empfunden | |
| hatte, jetzt, mit siebzig, plötzlich Hilfe brauchen könnte, fiel mir | |
| dennoch schwer zu akzeptieren. Ich fühlte mich schlicht nicht zuständig, so | |
| wie er auch längst nicht mehr für mich zuständig war. | |
| ## „Brauchst du Geld, Papa?“ Er lachte, wie so oft. „Ja“ | |
| Gut zwei Jahre muss es wohl her sein, als ich ihm am Telefon diese eine | |
| Frage stellte. „Brauchst du Geld, Papa?“ „Ja“, sagt er einfach nur und | |
| lachte. Wie so oft. Humor ist für meinen Vater eine Lösung, die auf alles | |
| passt. Mit seiner Antwort habe ich trotzdem nicht gerechnet. | |
| Dann brachte er seine Rechnungen – und meine Panik wuchs. Mahnungen von der | |
| Telekom für einen Festnetzanschluss, der nicht funktionierte, horrende | |
| Abschlagszahlungen vom Stromversorger, verursacht durch einen Elektroofen | |
| im Wohnzimmer, vom Finanzamt geschätzte Steuernachzahlungen. Und dazu die | |
| monatlichen Raten für die Bank, die ihm kaum Geld zum Leben ließen. | |
| Gerne hätte ich einige der Rechnungen einfach beglichen. Aber ich war froh, | |
| wenn ich selbst über die Runden kam. Ich wohnte zur Untermiete in einer | |
| kleinen Einliegerwohnung und statt über die Gründung einer eigenen Familie | |
| nachzudenken, kam ich oft erst mittags aus dem Club. Ich fühlte mich wie | |
| eine Rettungsschwimmerin, die sich vorgenommen hatte, einen tonnenschweren | |
| Sack aus der stürmischen See zu ziehen und drohte, dabei gleich selbst zu | |
| ertrinken. | |
| In meiner Not wandte ich mich an meine Mutter. Konnte Sie mir nicht einen | |
| Teil dieser Verantwortung abnehmen? | |
| „Du solltest dich da am besten nicht einmischen“, sagte sie, als sie mit | |
| steifem Rücken in meinem Flohmarktsessel saß und ich ihr von den Rechnungen | |
| erzählte. Ihre Stimme wurde immer schriller, „dein Vater hat sich | |
| schließlich selbst in diese Lage gebracht!“ Seit der Scheidung haben meine | |
| Eltern nur das Allernötigste gesprochen. | |
| Was meine Mutter in diesem Moment aber vergaß: Sie kann sich sehr wohl von | |
| ihrem Ehemann scheiden lassen, ich mich aber nur schlecht von meinem Vater. | |
| „Du hilfst nicht ihm damit, sondern mir“, versuchte ich sie zu überzeugen. | |
| Schließlich seufzte sie und verhinderte mit hochgezogenen Augenbrauen, dass | |
| meinem Vater der Strom abgestellt wurde. Sie beglich die wichtigsten | |
| Rechnungen. Gelöst war damit langfristig aber gar nichts. | |
| Und weil ich in diesem Moment gemerkt hatte, dass es außer mir niemanden | |
| gab, der meinem Vater helfen wollte, stellte ich schließlich gemeinsam mit | |
| ihm eine Kostenrechnung auf und vereinbarte einen Termin bei der | |
| Schuldnerberatung. | |
| Der Mann, der uns im Rollkragenpullover in seinem kargen Büro empfing, war | |
| freundlich und wirkte betroffen. Mein Vater war zuvor extra beim Friseur | |
| gewesen. Nun knetete er sein ausgeblichenes Baseballkäppi im Schoß und | |
| beantwortete jede Frage. Die Lösung, die uns der Berater unterbreitete, | |
| schien ganz einfach. Weil mein Vater eine Rente unter dem | |
| Grundsicherungsniveau erhält, riet er ihm, seinen defizitären | |
| Kurierfahrerjob aufzugeben und Privatinsolvenz anzumelden. Auf einen Schlag | |
| wäre er so die Forderungen seiner Gläubiger los. Der einzige Haken: Das | |
| Haus müsse zur Tilgung der Schulden an die Bank fallen. | |
| ## Ab wann müssen sich Kinder um ihre Eltern kümmern? | |
| „Wenn ich aus diesem Haus ausziehen muss, dann sterbe ich“, sagte mein | |
| Vater, als er mit unsicheren Schritten das Büro der Schuldnerberatung | |
| verließ. Das Haus ist ein Teil von ihm geworden. Dort kommt er her, dort | |
| will er bleiben. Eine weitere Station hat er für sein Leben nicht | |
| vorgesehen. | |
| Er wolle, sagte er also, die Schulden, die er gemacht hatte, abbezahlen. | |
| Das gebiete ihm sein Anstand – auch dann, wenn ich, wie ich immer wieder | |
| beteuerte, kein Problem damit hatte, die Schulden und damit auch das Erbe | |
| nach seinem Tod abzulehnen. Er habe sich das genau ausgerechnet. „Wenn ich | |
| die nächsten zehn Jahre meine Raten zahle, hab ich es geschafft.“ In zehn | |
| Jahren würde er über achtzig Jahre alt sein. | |
| Nach dem Besuch bei der Schuldenberatung begann ich vor der Situation | |
| davonzulaufen. Ich war wütend, weil er das Notwendige nicht anerkennen | |
| wollte. Vor allem aber fühlte ich mich unfassbar allein. Mit Freunden über | |
| die Situation zu sprechen, fiel mir schwer. Niemand schien ein ähnliches | |
| Problem zu haben. Im Gegenteil: Meist waren deren Eltern rüstige Rentner, | |
| die es im Leben zu bescheidenem Reichtum gebracht hatten und ihren | |
| Lebensabend nun mit Wandern, Golf spielen und Reisen zubrachten – genau wie | |
| meine Mutter. | |
| Ich hatte mir schon immer Geschwister gewünscht. Aber noch nie so sehr wie | |
| jetzt. | |
| Wann beginnt eigentlich der Moment, in dem sich die Kinder wieder um ihre | |
| Eltern kümmern müssen und nicht mehr andersherum? Gilt das erst, wenn | |
| Eltern krank und pflegebedürftig werden? Oder fällt auch selbstverschuldete | |
| finanzielle Not, gepaart mit Sturheit, in diese Kategorie? Sollte ich | |
| versuchen, meinen Vater finanziell zu unterstützen und mich damit womöglich | |
| selbst gefährden? Oder musste er die Dringlichkeit seiner Lage selbst | |
| begreifen? | |
| Ich vergrub mich in Arbeit, ging aus, fuhr in Urlaub. Ich wollte nicht über | |
| ihn und seine Misere nachdenken – aus Angst, dass diese Verantwortung viel | |
| zu groß sein könnte. Ich hatte aus gutem Grund bislang keine Kinder | |
| bekommen. | |
| ## Hatte ich das Recht, für ihn Entscheidungen zu treffen? | |
| Dann kam der Weihnachtsabend, an dem er zu mir ins Auto stieg und diesen | |
| Geruch mitbrachte. Den Kurierfahrerjob hatte er inzwischen verloren. Die | |
| Schulden aber waren noch da. | |
| In meiner kleinen Münchner Wohnung drückte ich ihm ein Handtuch in die Hand | |
| und schickte ihn unter die Dusche. Als er nach sehr langer Zeit wieder aus | |
| dem Bad kam, wusste ich, dass es so nicht weitergehen konnte, dass ich sein | |
| Problem zu meinem machen musste. Die Frage war nur: wie? | |
| Hatte ich das Recht, Entscheidungen für ihn zu fällen, auch solche, die ihm | |
| nicht gefielen? War das vielleicht sogar meine Pflicht? | |
| Das alte Haus, das er bewohnt, ist über die Jahre mehr und mehr verfallen. | |
| Jedes Mal, wenn mein Vater die Haustüre öffnet, bröckelt der Beton aus dem | |
| Mauerwerk. Das Abzugsrohr des alten Wamsler-Ofens in der Küche, den man | |
| noch mit Holz befeuern muss, ist kaputt, sodass die Wände von Küche und | |
| Wohnzimmer vom Ruß ganz schwarz geworden sind. | |
| Die beiden Katzen, die meinem Vater die einzige Abwechslung bieten, | |
| schnurren und haaren vor sich hin. Und die Weberknechte, die das Haus | |
| bevölkern, breiten ihre Spinnweben an den Wänden aus. Zum kaputten Boiler | |
| kam schließlich ein Wasserrohrbruch und in der Folge eine Rechnung des | |
| Wasserwirtschaftsamtes, die auch in die Tausende ging. | |
| Mir wäre es am liebsten gewesen, mein Vater wäre in eine Sozialwohnung im | |
| Ort gezogen. Dort hätte er, fast blind, die Nerven im rechten Bein von der | |
| Diabetes angegriffen, alle nötigen Geschäfte in unmittelbarer Nähe gehabt. | |
| Stattdessen hackt er nach wie vor Holz, um es im Winter warm zu haben, | |
| tastet sich über die steilen Treppen des Hauses und entziffert die Nummern | |
| auf seinem Handy mit einer Lupe. Briefe vom Amt kann er mithilfe des | |
| Vergrößerungsglases nur noch entziffern, wenn er damit ins Freie geht oder | |
| die Sonne durch die Fenster scheint. Abends sieht er fern, „Gute Zeiten, | |
| schlechte Zeiten“, oder sitzt mit den Katzen im dunklen Zimmer und denkt | |
| nach. Was er sonst so treibt – ich weiß es nicht. | |
| Selbst wenn ich ihn zur Privatinsolvenz zwingen wollte: Konnte ich das | |
| überhaupt? Rein rechtlich? Wollte ich, wie mir Verwandte immer wieder | |
| rieten, meinem Vater das einzige nehmen, was ihm geblieben war: seine | |
| Freiheit, selbst über sein Leben entscheiden zu können. | |
| ## „Du bist die einzige, auf die er hört“, sagen seine Geschwister | |
| Ich war trotz allem seine Verbündete, schon immer gewesen, sein kleines | |
| Mädchen, die Tochter, auf die er stolz ist und auf deren Wort er etwas gibt | |
| – vielleicht gerade deshalb, weil ich so lange wütend auf ihn war. Der | |
| Gedanke, dieses Gefühl, seine Liebe, aufs Spiel zu setzten, tat mir weh. | |
| Vielleicht, dachte ich, bin auch ich es, die mit der Situation | |
| zurechtkommen muss. Mein Vater hatte sich ja, allen Entbehrungen zum Trotz, | |
| in seinem Leben eingerichtet: Seit er kein Auto mehr hat, fährt er mehrmals | |
| in der Woche mit dem Bus in die nächste Ortschaft zum Einkaufen, kocht | |
| seine Mahlzeiten, so gut es geht, auf dem alten Herd in der Küche und ist | |
| trotz des wenigen Geldes, das er zur Verfügung hat, der Feinschmecker | |
| geblieben, der er immer war. | |
| Ab und zu berichtet er mir, wie er aus nur wenigen Zutaten eine gute Suppe, | |
| einen Braten oder eine Nudelsoße zubereiten kann. Einsam scheint er sich | |
| nicht zu fühlen. Auf einen Freundeskreis, wie er mir so existenziell und | |
| wichtig erscheint, hatten weder meine Mutter noch mein Vater je großen Wert | |
| gelegt. Und nachdem die beiden Beziehungen, die mein Vater nach der | |
| Scheidung eingegangen war, wenig erfreulich geendet hatten, schien er ganz | |
| gern alleine zu sein. Er hatte ja die Katzen. | |
| Weil ich wissen wollte, warum es mir so schwer fiel, seine Situation ohne | |
| Angst zu betrachten, ging ich zu einer Therapeutin, die ich schon seit | |
| Jahren kannte. Oft hatte sie mir im Gespräch geholfen, klarer zu sehen. Ihr | |
| Zimmer unter dem Dach und der Schaukelstuhl unter der Schräge, in dem ich | |
| immer saß, waren mir vertraut. | |
| Wir sprachen vor allem über das gute Verhältnis zwischen mir und meinem | |
| Vater. Für viele ist er „ein blöder Hund“, wie man in Bayern sagt. Seine | |
| älteren Geschwister haben ihn oft so genannt. Ein wirklich ernstes Gespräch | |
| mit ihm zu führen, ist nicht leicht. Meist antwortet er in Kalauern. Und | |
| kommt man ihm mit einem guten Rat zu nahe, kann er sehr aufbrausend sein. | |
| Vor allem aber wittert mein Vater hinter jedem gut gemeinten Angebot ein | |
| Komplott. | |
| Fragt man ihn, warum er sicher ist, dass ihm die Nachbarn, Bruder und | |
| Schwester, Stiefsohn und wer weiß noch alles, etwas Böses wollen, kann er | |
| sein Misstrauen nur mit vagen Andeutungen begründen. Wen man um etwas | |
| bittet – so seine Überzeugung – dem wird man zur Last. Und wer einem einen | |
| Gefallen tut, will später etwas dafür, sei es nur: sich einmischen. Also | |
| lässt mein Vater niemanden an sich heran - außer mich. | |
| „Du bist die einzige, auf die er hört“, sagen seine Geschwister seit Jahren | |
| zu mir. | |
| ## „Da ist viel Wärme“, sagte die Therapeutin über uns | |
| Während ich im Schaukelstuhl wippte, wurde mir bewusst, warum das so ist: | |
| Ich bin die einzige, die ihn so nimmt, wie er ist, die es nicht besser weiß | |
| und sein Leben nicht in den Kategorien "normal" und "nicht normal" bemisst. | |
| Als ich davon erzählte, wusste ich plötzlich sehr genau, dass ich ihn genau | |
| darum zu nichts zwingen darf. Er würde einen Verbündeten verlieren. Und ich | |
| auch. | |
| „Da ist so viel Wärme zwischen Ihnen“, sagte die Therapeutin am Ende der | |
| Sitzung. „Behalten Sie sich das gute Gefühl.“ Danach ging es mir besser. | |
| Ich wollte das gute Gefühl behalten. Also lud ich das Auto eines schönen | |
| Sommertages voller Papiertüten mit Biokost und ökologisch abbaubaren | |
| Putzmitteln und fuhr die knapp neunzig Kilometer zu ihm. | |
| Vier Tage wollte ich bleiben, ihm bei seinen Erledigungen helfen, ihn | |
| verstehen und so herausfinden, was er wirklich braucht und was ich für ihn | |
| leisten kann. | |
| Vielleicht ist es am wichtigsten, dass ich einfach mal für ihn da bin, | |
| dachte ich. | |
| In meiner Erinnerung – und vermutlich auch in der meines Vaters – war die | |
| Küche hier früher ein warmer, behaglicher Raum gewesen. | |
| Als meine Großmutter noch lebte, wirbelte sie hier in einer blauen | |
| Kittelschürze, die Haare unter einem Kopftuch versteckt, zwischen dem | |
| Bratrohr und den auf dem Herd dampfenden Kochtöpfen umher, buk Dampfnudeln, | |
| schnitt Pfannkuchen zu dünnen Streifen als Einlage für die Suppe und | |
| übergoss die eingeritzte Kruste des Schweinebratens im Rohr in regelmäßigen | |
| Abständen mit heißem Wasser. | |
| Jetzt war die Küche eine Art Geisterort: die Schränke und die Tassen und | |
| Teller darin ganz schwarz; die wenigen Lebensmittel standen aufgereiht | |
| neben den Katzenfutterdosen auf der Anrichte. | |
| Zwei Tage putzte ich, weil ich sonst in all dem Dreck nicht kochen konnte. | |
| Ich schrubbte über die Fließen und über Schranktüren. Generationen von | |
| Töchtern haben das in den vergangenen Jahrzehnten für ihre alleinstehenden | |
| Väter wohl so gemacht. Ich aber betrat Neuland, als ich mir die grünen | |
| Gummihandschuhe überstreifte, Wasser und Spülmittel in einem Eimer mischte. | |
| Bislang, das fiel mir dabei auf, hatte sich mein Leben ganz um mich | |
| gedreht. Meine Eltern waren nur Statisten, die mich zwar nach Kräften | |
| unterstützten, mir nicht zu viel dreinreden sollten und die - so nahm ich | |
| an – gänzlich unabhängig von mir funktionierten. | |
| Seit der Scheidung waren wir alle drei Einzelkämpfer. Nur schien mein Vater | |
| mittlerweile nicht mehr allein kämpfen zu können. | |
| Als die Küche einigermaßen bewohnbar war, kochte ich ihm eine deftige | |
| Suppe, die wir an einer Bierbank draußen im Hof aßen. Wir lachten über | |
| seine albernen Witze, die ich seit Jahren kannte. Danach fuhren wir in das | |
| nächste Dorf, um in der Gemeinde über den Verkauf von einem Teil seines | |
| Grundstücks zu verhandeln und um einige Besorgungen zu machen. | |
| Als es langsam zu dämmern begann, waren wir wieder zu Hause und schürten | |
| gemeinsam das Feuer im Ofen an. Ich ging gerade die Vorräte durch und | |
| überlegte, was wir zu Abend essen konnten, als mein Vater plötzlich wirr zu | |
| reden anfing. Wie jemand, der – bereits im Einschlafen begriffen – noch | |
| versucht, auf Fragen zu antworten, dessen Gedanken aber längst in einem | |
| Traum gefangen sind. | |
| „Was ist denn los?“ fragte ich und muss dabei ängstlich geklungen haben. | |
| „Ich muss Insulin spritzen“, sagte er, nun selbst nervös, „gib mir bitte | |
| die Kanülen.“ Er nestelte bereits an der Verpackung der Nadel herum, mit | |
| der er sich in den Finger stechen und einen Bluttropfen erzeugen muss, um | |
| den Blutzuckerspiegel mithilfe eines elektronischen Geräts messen zu | |
| können. | |
| ## Vier Tage wollte ich bei ihm sein. Nach zweien ging ich | |
| Als er sich die Injektion in die Bauchfalte gejagt hatte, atmeten wir auf. | |
| Meine Zuversicht jedoch, dass ich meinem Vater den größten Gefallen tue, | |
| wenn ich ihn nur regelmäßig besuche, war verflogen. | |
| In diesem Moment hatte ich nur noch Angst, ihn zu verlieren, dass er | |
| sterben würde, allein und ohne dass es jemand mitbekam. Plötzlich hielt ich | |
| die Enge, die Kälte und den Dreck nicht mehr aus. | |
| Ich reiste ab, obwohl ich noch zwei Tage hatte bleiben wollen. In meiner | |
| eigenen, kleinen Wohnung hatte ich mich noch nie so wohl gefühlt wie an | |
| diesem Abend. | |
| Einige Wochen später rief ich eine Familienkonferenz bei meinem Onkel ein. | |
| Gemeinsam saßen wir in der geräumigen Wohnung meines Onkels und seiner Frau | |
| in einem Vorort südlich von München und aßen Ratatouille. Ich hatte | |
| mittlerweile den Plan gefasst, es mit einer Art Haushälterin zu versuchen, | |
| die das Haus ein wenig auf Vordermann bringen sollte und regelmäßig nach | |
| ihm sehen. Vielleicht würde mein Vater eine gänzlich fremde Person, die für | |
| diese Aufgabe bezahlt würde, akzeptieren. Nur wer eine solche Haushälterin | |
| bezahlen sollte, war nicht klar. Also schlug ich vor, die Kosten mit den | |
| engsten Verwandten meines Vaters zu teilen. Alle schwiegen betreten. | |
| Nein, Geld wolle man nicht bezahlen, erklärte mir meine Tante. Schon einmal | |
| habe man meinem Vater Geld geliehen – und es nie zurückbekommen. | |
| Einige Wochen später telefonierte ich mit einer älteren Dame, die nicht | |
| weit von meinem Vater entfernt wohnt. Nachbarschaftshilfe, dachte ich, das | |
| könnte es sein. Menschen, die bereit sind, anderen ehrenamtlich oder für | |
| wenig Geld zu helfen. „Mit schwierigen Fällen komme ich gut zurecht“, sagte | |
| die Frau, die am Telefon sehr fröhlich und pragmatisch klang. | |
| „Bitte, sag ja“, sagte ich wenig später zu meinem Vater. „Tu es für mic… | |
| Ich bin so weit weg und ich mache mir Sorgen um dich.“ | |
| „Okay“, sagte mein Vater nach einer längeren Pause. „Ab Januar kann sie | |
| kommen, wenn dir das so wichtig ist.“ | |
| Es ist ein Anfang. | |
| 3 Dec 2014 | |
| ## AUTOREN | |
| Marlene Halser | |
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