| # taz.de -- Filmstart „Timbuktu“: Reine Unschuld gibt es nicht | |
| > Auch Islamisten können ambivalent sein: In „Timbuktu“ entwickelt | |
| > Abderrahmane Sissako eine stille Ästhetik des Widerstands. | |
| Bild: Wahrnehmung geschärft: Szene aus „Timbuktu“. | |
| Fast lautlos springt zu Filmbeginn eine schlanke, elegante, dank vieler | |
| tausend Jahre evolutionärer Anpassung kaum von ihrer Umwelt zu | |
| unterscheidende Gazelle durch die Sanddünen. Dann knallen Schüsse in das | |
| Bild, ein Schnitt auf die Jäger zeigt zunächst, hart gegen die warmen | |
| Farben des Hintergrunds konturiert, jene schwarze Fahne, die seit einigen | |
| Monaten in Zeitung und Fernsehen allgegenwärtig ist als Symbol des | |
| militanten Islamismus. | |
| Die Fahne ist auf einem Geländewagen montiert, die Männer im Jeep scheinen | |
| sich einen Spaß zu machen mit dem fliehenden Tier: „Tötet es nicht, lasst | |
| es lieber müde werden!“, ruft einer. | |
| „Timbuktu“ geht von einem hochaktuellen Konflikt aus: Die titelgebende | |
| malische Stadt war 2012 in die Gewalt islamistischer Rebellen geraten; | |
| einige Monate später konnte sie zwar von Regierungstruppen (mit | |
| französischer Unterstützung) befreit werden, aber der Konflikt schwelt | |
| weiter. | |
| Der Regisseur Abderrahmane Sissako hat aus der zeithistorischen Episode | |
| keinen Bürgerkriegsfilm gemacht, auch keinen Politthriller, sondern eine | |
| vielstimmige Allegorie, die von der langsamen Ermüdung einer Gesellschaft | |
| erzählt. „Timbuktu“ entwirft dabei kein aktivistisches Gegenprogramm gegen | |
| den radikalen Islam, gibt keine Handlungsanweisungen, die man lediglich | |
| korrekt umzusetzen bräuchte, damit alles wieder gut wird. | |
| ## Die Gazelle springt, wohin sie will | |
| Allerdings fühlt sich der Film längst nicht so pessimistisch an, wie man | |
| nach einer Inhaltsangabe vermuten könnte. Das dürfte daran liegen, dass | |
| Sissakos Kino nicht auf die politische Tat, sondern auf die Schärfung der | |
| Wahrnehmung zielt: Im grandiosen Vorgänger „Bamako“ wurde in einem | |
| afrikanischen Dorf ein fiktiver Prozess gegen die Weltbank angestrengt – | |
| viel wichtiger aber war dem Film das Alltagsleben, das sich um den | |
| improvisierten Gerichtshof herum entfaltete und das sich mit dem Vokabular | |
| neoliberaler Bürokraten radikal inkompatibel erwies. | |
| Auf ähnliche Weise insistiert „Timbuktu“ darauf, dass das Leben, das | |
| soziale wie das natürliche, sich niemals widerstandslos den rigiden | |
| Regelsystemen der Islamisten fügen wird; dass es, wenn man nur genau genug | |
| hinschaut (oder hinhört, auf die durch die Gassen schallende verbotene | |
| Musik zum Beispiel, deren Ursprung der Islamic Police lange Zeit verborgen | |
| bleibt), immer und überall Wege finden wird, sich zu entfalten – auch die | |
| Gazelle, die zu Beginn von den Männern im Jeep gejagt wird, taucht am | |
| Filmende noch einmal auf: Sie lebt noch, springt weiter, wohin sie will. | |
| Aus solchen Beobachtungen entwickelt Sissako eine Ästhetik des Widerstands | |
| im Kleinen: Mal läuft einfach nur eine Esel stur durchs Bild und lässt die | |
| Scharia Scharia sein, mal formen sich kleine Geschichten, zum Beispiel die | |
| einer Fischhändlerin, die sich weigert, die von den neuen Herrschern | |
| vorgeschriebenen Handschuhe zu tragen, oder die eines Mädchens, das von der | |
| Miliz zwangsverheiratet wird. | |
| In der den sozialen Normen gemäß verrückten – aber von Sissakos Kamera | |
| glamourös wie ein Hollywoodstar inszenierten – Zabou, die in knallbunten | |
| Kleidern durch die Straßen läuft und sich den Besatzern spöttisch lächelnd | |
| entgegenstellt, kristallisiert sich der poetisch-politische Einsatz des | |
| Films besonders eindrücklich: Auf diese notorische, quicklebendige | |
| Querulantin, die auch schon vor ihrem Eintreffen eine Ausgestoßene war, | |
| wissen die Dschihadisten keine Antwort. | |
| ## Repräsentant jener Moderne, die er zu bekämpfen vorgibt | |
| Die Islamisten selbst bleiben nicht die tumben Jungs mit den Gewehren, als | |
| die sie Anfangs in den Film einfahren. Schnell offenbaren sich | |
| Ambivalenzen, nicht aufhebbare Widersprüche: Fußball ist verboten, aber | |
| Messi trotzdem besser als Zidane, Zigaretten sind erst recht verboten, aber | |
| sie schmecken. Schön eine Szene, in der ein junger Rekrut, der in seinem | |
| vorherigen, bürgerlichen Leben anscheinend ein Rapper war, ein forsches | |
| Bekenntnisvideo aufnehmen soll, aber immer wieder nervös und unsicher den | |
| Blick senkt: Die vermeintliche göttliche Ordnung, die sie der Gesellschaft | |
| aufzwingen zu versuchen, erlebt auch jeder Einzelne der Dschihadisten als | |
| persönliche Beengung. | |
| Oder, noch beziehungsreicher, eine andere Szene, in der Abdelkrim, der | |
| Anführer der Milizen, die mit ihrem Mann Kidane und der gemeinsamen Tochter | |
| Toya in einem Zelt außerhalb der Stadt lebende Beduinin Satima besucht. In | |
| seinem Blick auf die ihr Haar offen tragende Frau offenbart sich nicht nur | |
| sexuelles Begehren, sondern auch eine Sehnsucht nach dem | |
| traditionsbewussten, aber friedlichen Leben, das Fatima und die Ihren zu | |
| führen scheinen. In diesem Moment erscheint Abdelkrim selbst wie ein | |
| Repräsentant jener Moderne, die er zu bekämpfen vorgibt. | |
| Ein kluger Film ist „Timbuktu“ nicht zuletzt deswegen, weil der am | |
| ausführlichsten ausgearbeitete Handlungsstrang, die Geschichte der | |
| Beduinenfamilie, zu den politischen Fronten quer steht und klarmacht, dass | |
| Sissako keineswegs auf das Ideal einer unverdorbenen Ursprünglichkeit | |
| hinaus will. Da mögen die bunten Zeltplanen und Gewänder der Beduinen sich | |
| auch noch so harmonisch in die malerischen Naturpanoramen einfügen, da mag | |
| Kidanes melancholischer Gesang auch noch so lieblich in die Geräuschkulisse | |
| der Natur übergehen: Reine Unschuld gibt es in dem Film nicht. | |
| In Kidane lodert eine unversöhnliche Wut, in dem Zelt ist eine Pistole | |
| versteckt. Das tragische Schicksal des Familienvaters lässt sich nicht so | |
| ohne weiteres zur nationalen Allegorie hochrechnen: Zur Waffe greift er | |
| nicht wegen der Islamisten, sondern aus verletzter Eitelkeit. | |
| 11 Dec 2014 | |
| ## AUTOREN | |
| Lukas Foerster | |
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