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# taz.de -- Nachruf auf Tempo-30-Erfinder: Ein Störenfried im besten Sinn
> Der Sozialwissenschaftler und ökologischer Vordenker mischte sich ein mit
> antikapitalistischer Verve und sanfter Menschenfreundlichkeit.
Bild: Ganz ökologisch im Grün versteckt... Und wer hat's erfunden?
BERLIN taz | Man konnte ihn nicht übersehen. Das neugierig-jungenhafte
Gesicht, die Pilzkopfsträhnen, der unvermeidliche rote Pullover. Der
Berliner Sozialwissenschaftler Otto Ullrich war auf unzähligen politischen
Veranstaltungen präsent. Als leidenschaftlicher Diskutant.
Er mischte sich ein mit seiner ureigenen Diktion: einer Mischung aus
ostpreußischem Idiom, antikapitalistischer Verve und einer tief
anrührenden, sanften Menschenfreundlichkeit. Ullrich war dabei vollkommen
undiplomatisch. Was zu sagen war, sagte er mit der Tonlage des radikalen
Aufklärers, rücksichtslos gegenüber Mainstream und eigener Karriere. Er war
ein Störenfried im besten Sinn. Ullrich ist vergangenen Mittwoch im Alter
von 76 Jahren gestorben.
Ullrich kam 1938 auf einem ostpreußischen Bauernhof zur Welt, auf dem es
weder Strom noch Zentralheizung gab, auch keine Innentoilette und
„natürlich kein Auto“, wie er stets betonte. 1945 die Flucht mit dem
traumatischen Tod von Vater und Großmutter. Erst mit zehn Jahren geht er in
die Schule, zuvor hat ihm die Mutter Lesen und Schreiben beigebracht.
Ullrich wird Rundfunktechniker, studiert später Elektrotechnik, arbeitet
bei Telefunken. Er holt das Abitur nach, studiert Soziologie,
Sozialpsychologie und Wirtschaftswissenschaften. 1977 entsteht sein
Klassiker „Technik und Herrschaft“, in dem erstmals beschrieben wird,
welches Eigenleben technische Strukturen entwickeln – und wie schwer sie
beherrschbar sind.
Wichtig für Ullrichs Werdegang: der Zivilisationskritiker und Ökopionier
Ivan Illich. In den 80er Jahren stößt Ullrich an der Westberliner TU zur
„Traube-Gruppe“ um den konvertierten Atomkritiker Klaus Traube. Zusammen
mit Helmut Holzapfel, Ursula Neubauer, Wolfgang Sachs, Karl-Otto
Schallaböck und Helmut Spitzley entsteht ein kreatives Feld ökologischer
Avantgardisten, die in die Verkehrs- und Energiepolitik und die neue grüne
Partei ausstrahlen. „Autoverkehr 2000“ heißt die bekannteste Studie der
Gruppe. Die Tempo-30-Zonen in den Städten und kleinere, dafür ökologischere
Motoren – hier sind sie erdacht worden. Und: Ullrich sieht in CO2 einen
Klimaschadstoff. Andere lachen.
## Naturholzhaus und XXL-Kühlschränke
In Kassel soll Ullrich das Institut Mensch und Umwelttechnik übernehmen.
Doch der SPD-Landesregierung ist seine Technikkritik zu anstößig. Der Bau
seines Naturholzhauses im Berliner Tegeler Fließ – ohne Handwerker – ist
sein neues Projekt. Ullrich ist nicht nur intellektueller Vordenker, er ist
auch Praktiker und lebt die ökologische Maxime mit Frau Karin in aller
Konsequenz.
Kein Auto, keine Fernreisen, kein Fleisch – dafür selbst gezimmerte Möbel
und die riesige Bibliothek als einziger Luxus. Manche Mitstreiter tun sich
schwer: „Otto, wenn du den Begriff kapitalistisch vielleicht nur noch in
jedem fünften Satz gebrauchst, hören dir die Leute ganz anders zu“, rät ein
Freund. Doch Ullrich geißelt weiter die „Tyrannei der Werbung“ oder die
„kapitalistische Raubökonomie“.
„Wenn er mich besuchte“, erinnert sich Wolfgang Sachs, früher Leiter des
Berliner Büros des Wuppertal-Instituts, „kam er mit Aktentaschen voller
Bücher. ’Kennst du das schon? Das ist Schwachsinn! Aber das hier ist
interessant!‘ “ Sein Spektrum war breit wie der Nil. „Mich regt schon lan…
auf, dass …“, begann er gern. Dann folgten Analysen über überzüchtete
Truthahn-Brustmuskeln, das Grünen-Parteiprogramm – oder XXL-Kühlschränke.
11 Jan 2015
## AUTOREN
Manfred Kriener
## TAGS
Tempolimit
Kapitalismuskritik
Umweltbundesamt
Bürgerinitiative
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