# taz.de -- Bahn-Chaos nach dem Sturm: Sehnsucht nach der Diesellok | |
> Für viereinhalb Stunden stoppte am Samstag ein Baum kurz vor Rotenburg | |
> die Fahrt des IC 2229 ins Ruhrgebiet. Ohne Heizung, mit knapper | |
> Verpflegung und zum Teil ohne Licht mussten die Fahrgäste ausharren. | |
Bild: Nichts zu machen: Bei Sturmschäden sitzen Passagiere oft stundenlang in … | |
ROTENBURG taz | Die Schläge kommen unvermittelt. Dreimal knallt es oberhalb | |
des Zugabteils, als habe jemand mit einem überdimensionierten | |
Vorschlaghammer auf das Dach des IC 2229 eingeschlagen. Kaffee wird | |
verschüttet, angstvolle Blicke wandern Richtung Decke. Als sich die | |
Passagiere vom ersten Schock erholt haben, wird der Zug langsamer und | |
stoppt schließlich auf freier Stecke. Links und rechts Felder, ein kleiner | |
Weg parallel zu den Schienen, ansonsten auf der anderen Seite der | |
Panorama-Fenster nur Sturm und Regen. | |
Es ist Samstag, 14.20 Uhr, und Fahrgäste, die bislang kaum Notiz | |
voneinander genommen haben, schauen sich fragend an. Sie kommen von Hamburg | |
und sind unterwegs über Bremen und Osnabrück Richtung Ruhrgebiet. Doch nun | |
stehen sie hier, im niedersächsischen Ödland, und warten auf eine | |
Lautsprecher-Durchsage, die nicht kommt. | |
Zehn Minuten später sorgt die von Abteil zu Abteil eilende Zugbegleiterin | |
für erste Aufklärung: Ein Baum sei in den Triebwagen geknallt, habe beide | |
Frontscheiben durchschlagen, den Zugchauffeur verletzt und zudem die | |
Stromabnehmer abgeräumt. Die Lautsprecheransage sei ebenso ausgefallen. | |
„Ich informiere sie, sobald wir neue Informationen haben“, verkündet die | |
Bahnangestellte, dann ist sie auch schon im nächsten Abteil. | |
Die Smartphone-Ortung ergibt, dass wir irgendwo zehn Kilometer vor | |
Rotenburg liegen geblieben sind. Wie lange wir hier ausharren müssen, | |
darüber gibt es keine Informationen. Inzwischen lotsen die ersten Freunde | |
oder Taxifahrer zur Unfallstelle – organisieren ihren Abtransport – gegen | |
die Empfehlung des Bahnpersonals und auf eigene Verantwortung. Denn ein | |
Graben trennt Schienen und den befahrbaren Parallelweg. Stolpergefahr und | |
damit programmierter Versicherungszwist. | |
## Die Bahn zahlt das Bier | |
Nach einer Stunde Stillstand hat ein reger Austausch im Abteil eingesetzt, | |
der immer wieder die Frage ventiliert, was nun zu tun sei, warum das nicht | |
geschehe und wie lange das Ganze noch dauern könne. Von einer Mitreisenden | |
– Frau A. – erfahre ich, dass sie heute Geburtstag hat, noch zu ihrer | |
Familie in Richtung der holländischen Grenze will. Eine ältere Dame – Frau | |
B. – will im niedersächsischen Vechta noch auf eine Feier, die um 18 Uhr | |
beginnt. | |
Im Bord-Bistro, so erfahren wir nach anderthalb Stunden von der | |
Zugbegleiterin, gibt es nun Getränke und Snacks umsonst – eine Information, | |
die ruppiges Gedränge auslöst. Wer flink ist, hat hier die besten Karten, | |
ältere und bewegungseingeschränkte Fahrgäste gehen leider leer aus. Mit | |
Glück erwische ich noch ein lauwarmes Bier und ein Stück Schokokuchen – | |
eiserne Reserve für die weitere Wartezeit. Draußen setzt inzwischen die | |
Dämmerung ein, im Bistro wird das Licht abgeschaltet, um das Notaggregat zu | |
schonen, und in den Abteilen wird lebhaft darüber diskutiert, warum nicht | |
längst eine Taxiflotte vor Ort ist, um uns hier rauszuholen. | |
Ab 17 Uhr werden Tagespläne korrigiert. Frau A. glaubt nicht mehr an ihren | |
familiären Geburtstagsausklang im deutsch-niederländischen Grenzort und | |
auch Frau B. ahnt, dass sie ihre Feier erst erreichen wird, wenn die | |
Lichter ausgehen. Die Taxiflotte ist noch immer nicht auf dem Weg, dafür | |
aber eine Diesellok, die uns „in Kürze“ abschleppen soll. Jede Ansage der | |
gestressten Zugbegleiterin ist mit diesem Zusatz versehen, weil auch sie | |
nicht weiß, was wann passieren soll. Das Gerücht macht die Runde, dass der | |
Zugfahrer Schnittverletzungen erlitten habe. Ob er schon abtransportiert | |
wurde, weiß niemand. | |
## Nur noch Kräuterbonbons | |
Um 18 Uhr sitze ich mit Frau A. und B. und einer weiteren Frau am | |
Vierertisch zusammen und wir spielen unter uns die norddeutsche | |
Meisterschaft im Galgenhumor zur Themenvorgabe Krisenmanagement der | |
Deutschen Bahn aus. Zu uns hat sich die Zugverkäuferin mit ihrem Bauchladen | |
begeben, der längst leer gehamstert ist – nur Kräuterbonbons sind noch im | |
Angebot. | |
Während sich unserer Vierertisch mit sarkastischen Bemerkungen erheitert, | |
nähert sich im Nebenabteil das Stimmungsbarometer der rapide fallenden | |
Temperatur in dem seit Stunden unbeheizten Zug. Nerven liegen blank und | |
mehrere raubeinige Kerle sind gefühlt nur noch kurz von einer ersten | |
Prügelei entfernt. Eine Rentnerin erzählt ihrer Tochter am Handy, wie | |
entsetzlich sie friere, die Zugbegleiterin verkündet, die Diesellok sei | |
jetzt vor Ort, müsse aber noch umfangreiche Brems-Tests durchführen, und | |
ihre Kollegin bittet darum, dass nur in der hinteren Hälfte des | |
stockdusteren Bistros geraucht wird. Hier haben die Süchtigen die Fenster | |
aufgerissen, um ihren Qualm entweichen zu lassen, was die Gradzahl weiter | |
fallen lässt. | |
18.53 Uhr: Der Zug setzt sich langsam in Bewegung, nach mehr als | |
viereinhalb Stunden Stillstand. In Rotenburg werde ein ICE uns weiter in | |
Richtung Ruhrgebiet bringen, heißt es. Wann welche Verbindungen noch | |
erreicht werden, darüber gibt es keine Informationen. Frau A. ahnt, dass | |
sie ihren Geburtstag allein in einem Hotel ausklingen lassen wird. Und Frau | |
B. wird nach der Feier, die sie verpasst hat, beim Abwasch helfen. | |
12 Jan 2015 | |
## AUTOREN | |
Marco Carini | |
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