# taz.de -- Nicht nur zur Weihnachtszeit: Zähmung eines Anarchisten | |
> Das Staatstheater Oldenburg gibt sich mit Johnathan Doves Pinocchio | |
> Vertonung die volle Dröhnung Familien-Oper. | |
Bild: Im Bauch des Wals verdaut die Oper ein Stil-Buffet von Puccini bis Minima… | |
OLDENBURG taz | Geheimniszaubervoll illuminiert strahlt die picobello | |
aufgeräumte Bühne. Herein schlendert taumelig ein alter Zausel, potz Blitz, | |
ein steiler Akkord schreckt alle Sinne in Habtachtstellung und ein eben | |
noch einsam vor sich hin stehender Baum beginnt zu wackeln. „Mach mich“, | |
ruft er – als Mann des Holzes gibt sich das Männlein im Walde prompt zu | |
erkennen, nimmt die Motorsäge in die Hände und befreit die Figur aus dem | |
Baumstamm: Pinocchio. | |
Von der Walt-Disney-Niedlichkeit 1940 über japanische | |
TV-Serien-Springlebendigkeit in den 1970er-Jahren hin zu | |
Roberto-Benigni-Kasperliaden im Jahr 2002 hat sich die naseweise | |
Gliederpuppe bisher entwickelt. In Oldenburg tobt sie in Gestalt der | |
israelischen Mezzosopranistin Hagar Sharvit herzig pumucklig durch ihre | |
Geschichte. | |
Ja, ist denn schon wieder Weihnachten? Denn vor allem dann kramen unsere | |
Stadt und Staatstheater die guten alten Märchenstoffe mit dem pädagogischen | |
Mehrwert heraus, um die erwachsenen Feinde des sogenannten Regietheaters | |
und die kindlichen Freunde prallen Erzähltheaters mit der Spielplanoption | |
Familienstück zu erfreuen. Den Darstellern häufig ein Graus, den | |
kaufmännischen Direktoren ein Wohlgefallen – wegen der hohen Besucherzahlen | |
dank blind buchender Schulklassen und in Patchworkfamilienstärke | |
anreisender Gäste. | |
Regisseure aber bewegen sich auf unsicherem Terrain: Theateraffektmäßig die | |
Überwältigungstaktik anwenden – oder anspielungsreich offen inszenieren, | |
damit jeder Zuschauer seine eigne Vorstellungskraft ins Spiel einbringen | |
kann? In Oldenburg wird eine Sowohl-als-auch-Variante praktiziert. Die | |
Schneiderei scheint Extraschichten eingelegt zu haben für die Kostümpracht | |
des putzigen Getiers und all der Gesellschaftssatire-Figuren. Getoppt wird | |
das von irrwitzigen Perücken in der Design-Optik: frisch geschnitzt. | |
Die Bühne allerdings ist ein relativ offener Fantasieraum. Mit vollem | |
komödiantischen Ernst inszeniert dort Jens Kerbel große Oper. Nicht nur | |
1b-Sänger wurden abkommandiert, sondern auch auf kunsthandwerklich vokaler | |
Ebene auf beste Ensemble-Qualität geachtet. | |
Der Abend ist Ausdruck des Oldenburger Erfolgskonzeptes, die | |
Auslastungszahlen weiter zu steigern. Intendant Christian Firmbach | |
übererfüllt derzeit alle Erwartungen beispielsweise mit Operettenleichtsinn | |
wie „Der Vetter aus Dingsda“, Musicalschwachsinn à la „Evita“ und bewe… | |
Schönsinn, dem Wandel der Tanztheater zur Ballettsparte. Da auch das | |
Sprechtheater-Familienstück zu Weihnachten immer ausverkauft war und nicht | |
nur im November und Dezember der theaterlustige Freizeitgestaltungswille | |
bei Eltern existiert, müsste in dem Segment doch auch noch mehr gehen. Zum | |
Beispiel die Familienoper zu Ostern. | |
„Pinocchios Abenteuer“, 2007 uraufgeführt, präsentiert den Klassiker | |
italienischer Nationalliteratur lässig gereimt, narrativ eher episodenhaft | |
gereiht denn stringent entwickelt, musikalisch aber als durchkomponiertes | |
Werk für großes Orchester. Nicht nur Stolpern und Niesen hat der Brite | |
Jonathan Dove vertont, sondern eine volle Dröhnung hundertjähriger | |
Opernhistorie. Jedenfalls halten sich viele Kinder immer mal wieder die | |
Ohren zu, wenn das Staatsorchester knackig laut mit Verve losschmettert, | |
tuttiliert und klangfarbenprächtig den plakativen Eklektizismus klassisch | |
gewordener Moderne feiert. Von melodisch puccinesker Eleganz über | |
weihevolle Spätromantikfolgen bis hin zur Klangflächenmalerei der Minimal | |
Music ist vieles dabei. Geradezu ein Kompendium dessen, was auch Kinder als | |
Filmmusik aus hollywoodösen Superhelden-Epen kennen. Auch Dirigent Carlos | |
Vázquez setzt vor allem auf kernig schmetternde Strahlkraft, die aber nicht | |
nur rockt, als hochdramatisches Power-auf-Dauer-Bombardement auch nervt. | |
Wer aber ist Pinocchio? Mit der Einblendung von technischen | |
Konstruktionszeichnungen, von Zahnradbildern und der Betonung der | |
maschinellen Motorik beim Musizieren könnte gemeint sein: Pinocchio ist | |
eine Art Monster des Dr. Frankenstein, der hier Geppetto heißt. | |
Zu erleben ist auf der Bühne eher das, wozu wir Eltern vor der Bühne die | |
quirligen Kinder anhalten: Einübung in gesellschaftskonformes Verhalten. | |
Geradezu ein Idealbeispiel bürgerlichen Repräsentationstheaters. Der | |
Schelmen und Entwicklungsroman als Struwwelpeter-Variante: Feinschliffdrama | |
am Rohschliffjungen. | |
Geboren wird Pinocchio als Anarchist, zügellos, eigenwillig, gutgläubig, | |
nach dem Lustprinzip durchs Leben tobend, daher ständig neu abgelenkt. Zum | |
unvermeidlichen Erwachsenwerden gehört nun, zu erkennen, dass von der Norm | |
abweichendes Verhalten immer von der normativen Kraft der Erwachsenen | |
bestraft oder von Hallodris wie dem Gangsterpärchen Katze und Fuchs | |
ausgenutzt wird. So kann aus dem faul herumchillenden, selbstberauscht | |
lügenden, die Schule verweigernden und ungehorsamen Lausbub ein | |
hilfsbereiter, ehrlicher, artiger fleißiger Musterknabe werden. Als Lohn | |
wird die Holzpuppe zum jungen Menschen aus Fleisch und Blut gewandelt. Die | |
Inszenierung hinterfragt die Metamorphose des Stücks Natur zum | |
zivilisierten Menschenkind eher nicht. | |
Es gelingt aber das, was wohl gelingen sollte: „Schenken sie ihrem Kind, | |
Enkelkind, Partner, ihren Eltern oder Großeltern einen (ersten?) Schritt in | |
die wunderbare Welt der Oper“, wirbt Dramaturgin Annabella Köhler für den | |
Besuch. Die klassischen Tugenden dieses Genres werden daher auf | |
werbewirksam hohem Niveau dargeboten. Endlich ist es mal wieder reizvoll zu | |
erleben, wovon sich zeitgenössisches Musiktheater heutzutage absetzt. Und | |
fuhr jemals eine Lügendetektornase live auf der Bühne so gekonnt | |
ferngesteuert aus und wieder ein wie in Oldenburg? | |
## Nächste Aufführungen: 28. März, 6. und 12. April, Oldenburgisches | |
Staatstheater | |
23 Mar 2015 | |
## AUTOREN | |
Jens Fischer | |
## TAGS | |
Henrik Ibsen | |
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