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# taz.de -- Verlust in digitalen Zeiten: Alles da, nur gerade nicht für dich
> Wer ein digitales Buch einbüßt, lädt es wieder herunter. Kann unter
> diesen Umständen überhaupt noch etwas abhandenkommen?
Bild: Manchmal sucht man seine Brille und wünscht sich dafür eine Suchmaske
Die Sache mit den „Satanischen Versen“ hatte ich fast vergessen, als der
ICE-Sitz auch mein Kindle schluckte. Es war um einen dieser Feiertage
herum, an denen man gewöhnlich seine Eltern besucht. Ich setzte mich in den
Zug nach Berlin, klappte mein Notebook auf und wunderte mich, warum mein
Sitznachbar die ganze Zeit herüberstarrte.
Es stellte sich heraus, dass wir vor zehn Jahren zusammen studiert hatten.
Und dass das auch der Grund war, warum er mich so überaus freundlich
anlächelte. Ich hatte zunächst eine Freundlichkeitsstörung befürchtet.
Als der Berliner Hauptbahnhof noch eine halbe Stunde entfernt war, rutschte
der ehemalige Kommilitone so angestrengt in seinem Sitz herum, dass mir
nichts anderes übrig blieb, als meinen Computer zusammenzuklappen und ihn
aufstehen zu lassen.
Erst draußen fiel mir auf, dass mein Kindle, in dem ich gelesen hatte,
weder in meiner Jackentasche noch in meiner Laptoptasche steckte. Nirgends.
## Ich stellte einen Nachforschungsantrag
Wie damals, als der ICE-Sitz die „Satanischen Verse“ schluckte. Ich war
nach einer Kanada-Reise auf der Rückfahrt vom Flughafen. Beim Verlassen
eines Zuges kontrolliere ich die Sitze jedes Mal sehr penibel. Ich hatte in
beiden Fällen eine vage Erinnerung, dass ich das Buch, all die digitalen
Bücher, in das Netz des Vordersitzes geschoben hatte. Womöglich.
Ich gab eine Verlustmeldung auf und stellte einen Nachforschungsantrag bei
der Deutschen Bahn. Beschreibung des Verlustgegenstands. Beschreibung des
Verlustereignisses. Ich bekam eine siebenstellige Verlustnummer.
Das Kindle war weg, alle Bücher sind noch da. Ich musste nur ein neues
Gerät kaufen und sämtliche Romane und Sachbücher vom Amazon-Server wieder
herunterladen. Es hat nur wenige Minuten gedauert. Die „Satanischen Verse“
hätte ich damals ganz neu bestellen müssen.
Gelobt sei die digitale Welt. Im Grunde kann uns nichts mehr verloren
gehen, dachte ich.
## Im Kopf ploppt eine Suchmaske auf
Wie tief der Glaube in mir sitzt, heute sei alles wiederauffindbar, merke
ich, wenn ich einen Schlüssel verlegt habe und in meinem Kopf eine
Suchmaske aufploppt, während ich durch die Wohnung renne. Meine Finger
wollen etwas hineintippen, ich spüre es.
Doch in Wirklichkeit verschwindet alles. Immer noch. Bücher etwa, ich will
sie lesen, speichere sie in den langen Listen meines Kindle, vergesse sie.
Ich sehe sie nicht im Regal und so sind sie zwar da, aber für mich
verloren. Ich sitze vor meiner iTunes-Bibliothek und will dieses eine Lied
hören, von dem mir der Name nicht einfällt. Nicht die Interpretin. Gar
nichts. Die Suchmaske wird zum leeren Schlitz, ein Spiegel der Leerstelle
im Hirn. Es ist da, nur nicht für dich, nicht jetzt. Aber wenigstens
theoretisch, dachte ich, findet sich alles wieder.
Einige Wochen später gab ich einer Kollegin einen USB-Stick mit Bildern und
Videos. Wichtig. Kurz darauf ein Anruf: Stick gelöscht. Wir wissen nicht,
warum.
Die Rekonstruktion dauerte zwei Tage. Was verschwunden ist, kann ich nicht
genau sagen.
Die Ostergeschichte ist einfach erzählt: Plötzlich war Jesus weg. Um dann
wieder aufzutauchen. In der [1][taz.am wochenende vom 4./5./6. April 2015]
erzählen wir deshalb zehn Geschichten vom Verschwinden und
Wiederauftauchen. Texte von Sibylle Berg, Andy Borg, Hermes Phettberg,
Elisabeth Rank, Annabelle Seubert, Waltraud Schwab, Steffi Unsleber, Martin
Reichert - und von einem Leser.
3 Apr 2015
## LINKS
[1] /Ausgabe-vom-4/5-April/!157512/
## AUTOREN
Johannes Gernert
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