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# taz.de -- Nachruf Eduardo Galeano: Schlüssellöcher ins Universum
> Der uruguayische Schriftsteller Eduardo Galeano fand polemische und
> poetische Worte für Ausbeutung und Ausgrenzung. Er wurde 74 Jahre alt.
Bild: Eduardo Galeano im April 2012.
Uruguay trauert. Am gestrigen Dienstag haben Tausende von Eduardo Galeano
Abschied genommen, der im Parlamentsgebäude von Montevideo aufgebahrt war.
Am Montag war der Wortkünstler 74-jährig einem Lungenkrebs erlegen, der
zuerst 2007 diagnostiziert worden war.
Galeano pflegte seine Interviewer im Café Brasilero zu empfangen, einem der
wenigen traditionellen Lokale, die in Montevideos Altstadt übrig geblieben
sind. „Diese Cafés waren meine Universität“, erinnerte er sich, „sechs
Jahre bin ich zur Grundschule gegangen, ein Jahr zur Oberschule. Den Rest
lernte ich an den Kaffeehaustischen, indem ich die Ohren aufsperrte und den
großen anonymen Erzählern lauschte.“
Expräsident José Mujica, der ihn jüngst noch besucht hatte, bezeichnete den
linken Kultautor als „Autodidakten, der an sich feilte, ein unermüdlicher
Forscher, der den unglaublichsten Menschen unseres Kontinents lauschte – er
war ein Auserwählter, der uns Lateinamerikanern in den letzten 30, 40
Jahren Würde gegeben hat.“
Doch nicht nur Uruguay trauert, sondern Millionen in ganz Lateinamerika und
in aller Welt – Altlinke, AktivistInnen, Studierende, Fußballfans. 1971
gelang dem gerade 31-jährigen Journalisten mit dem Essay „Die offenen Adern
Lateinamerikas“ ein Bravourstück, das bald zu dem Klassiker linker
Imperialismuskritik avancierte. Polemisch, parteiisch und bisweilen
poetisch schilderte er die Ausbeutung des Subkontinents durch europäische
Kolonisatoren, nordamerikanische Multis und ihre einheimischen
Helfershelfer sowie den Widerstand der Eroberten. Die Militärdiktaturen
Uruguays, Chiles und Argentiniens setzten es auf den Index.
## Launige Selbstkritik
2009 war das Werk wieder in aller Munde, als Venezuelas Präsident Hugo
Chávez seinem US-Kollegen Barack Obama ein Exemplar davon überreichte.
Anschließend schnellte es in der Amazon-Bestsellerliste nach oben, im
Peter-Hammer-Verlag erschien es wenig später in neuer Übersetzung.
Einiges Aufsehen erregte Galeano vor einem Jahr, als er auf der Buchmesse
von Brasília auf eine Frage nach den „Offenen Adern“ mit einer launigen
Selbstkritik regierte: „Nach so vielen Jahren fühle ich mich diesem Buch
nicht mehr so verbunden wie damals, als ich es schrieb. Ich habe andere
Sachen ausprobiert. Es sollte ein Buch politischer Ökonomie werden, bloß
hatte ich dafür noch nicht die nötige Ausbildung. Ich bereue nicht, dass
ich es geschrieben habe, aber das ist eine überwundene Etappe. Ich wäre
nicht mehr fähig, es wieder zu lesen, da würde ich in Ohnmacht fallen. Für
mich ist diese traditionelle linke Prosa todlangweilig.“
Eine inhaltliche Distanzierung war dies keineswegs, Galeano skizzierte
lediglich seine stilistische Wandlung hin zum Literaten, dessen
unverwechselbare Schreibweise sich zunehmend herkömmlichen Kriterien
entzog. Bereits in den 1980ern hatte er sich der kurzen historischen Prosa
zugewandt. Die Lateinamerika-Trilogie „Erinnerung an das Feuer“ war das
erste Werk dieses Genres. In Hunderten chronologisch geordneten kleinen
Geschichten schlug er einen Bogen von indigenen Schöpfungsmythen bis zur
Gegenwart, penible Quellenangaben eingeschlossen.
Seine rege publizistische Tätigkeit, die er bereits als Jugendlicher
aufgenommen hatte, setzte er bis in die letzten Jahre fort. So gehörte er
1985, nach der Rückkehr aus dem Exil, zu den Gründern der linken
Wochenzeitung Brecha. In seinen Büchern („Das Buch der Umarmungen“, 1991,
oder „Wandelnde Worte“, 1999) verfeinerte er das Genre der Kurzprosa: „F�…
die kurzen Texte brauche ich am längsten“, bekannte er in einem Interview
Ende 2004, „mir gefällt der kleine Raum, die Konzentration. Es sind
Gedichte, die so tun, als wären sie Prosa.“ „Zeit die spricht“ hieß die
damals erschienene Sammlung von 333 kurzen Geschichten.
## Feingliedrige Vignetten
„Meine Weltsicht geht aus vom Respekt für alles, was verachtet wird, für
die kleinen, scheinbar unbedeutenden Dinge und von meinem tiefen Misstrauen
gegenüber allem Großkotzigen, Spektakulären, Mächtigen“, sagte Galeano.
„Bei dieser extrem konzentrierten Literatur fühle ich, dass Hand und
Handschuh zusammenpassen, denn es ist eine Hommage an die ganz kleinen
Dinge.“ Ergänzt hat er die Texte durch kleine Vignetten aus der
peruanischen Region Cajamarca, in einer „Übereinstimmung zwischen Bild und
Wort, die wiederum der Korrespondenz zwischen Form und Inhalt entspricht“.
Solche feingliedrigen Vignetten waren längst zu einem Markenzeichen seiner
Werke geworden. 2008 folgte „Fast eine Weltgeschichte: Spiegelungen“,
gleich 600 solcher Miniaturen. Wieder gab Galeano den „Unsichtbaren“ eine
Stimme, vor allem „den Frauen, den Schwarzen, den Indígenas, den Menschen
des Südens“. „Manchmal schreibe ich mir etwas auf, damit ich es nicht
vergesse, dann bearbeite ich es, ausgehend von einer Skizze, einem
Gekritzel“, beschrieb er seine Arbeitsweise, „oft fängt es mit den winzigen
Notizbüchern an, die ich immer in der Hosentasche habe.“
2011 erschien „Kinder der Tage“, 365 Miniaturen wie Kalenderblätter, für
die ebenfalls gilt: „Schlüssellöcher, durch die man das Universum sehen
kann: vom Kleinen aus das Große, vom Besonderen das Universelle, von dem,
was winzig erscheint, das, worauf es wirklich ankommt“. Dieses Buch
überarbeitete er „elf Mal von A bis Z, in meinem permanenten Krieg gegen
die Inflation der Wörter“.
## Verwandt mit der Natur
Auch wenn Galeano seinen politischen Grundüberzeugungen treu geblieben ist
und die linken Regierungen Südamerikas mit kritischer Sympathie begleitete:
Sein literarisches Werk steht in deutlichem Kontrast zur überbordenden, oft
sinnentleerten Rhetorik bis hin zur Geschwätzigkeit, die die politische
Kultur Lateinamerikas bisweilen auszeichnet. Chávez oder Evo Morales
verteidigte er stets und zeigte Verständnis für die engen Spielräume der
progressiven Staatschefs. Bei der Amtseinführung des bolivianischen
Indígena-Präsidenten 2006, der ihn noch Anfang März besuchte, war er ebenso
dabei wie zweieinhalb Jahre später, als der Befreiungstheologe Fernando
Lugo in Paraguay die Präsidentenbinde umgehängt bekam.
Damals setzte er sich für seinen nicaraguanischen Freund Ernesto Cardenal
ein und sorgte hinter den Kulissen mit dafür, dass der Autokrat Daniel
Ortega nicht nach Asunción kam. In Uruguay engagierte er sich gegen die
Eukalyptus-Monokulturen und wurde deshalb jahrelang von alten Freunden der
gemäßigten Linksregierung geschnitten. Der seit Kurzem erneut amtierende
Staatschef Tabaré Vázquez trug es ihm bis zuletzt nach.
„Die Indígenas lehren uns, dass wir Teil der Natur sind, Verwandte aller,
die Beine, Pfoten, Flügel oder Wurzeln haben“, schrieb er 2010 in seinem
Grußwort zum alternativen Klimagipfel im bolivianischen Cochabamba, „die
Menschenrechte und die Rechte der Natur sind zwei Namen für dieselbe
Würde.“ Darauf, dass die linken PräsidentInnen Südamerikas, ob
sozialdemokratisch oder „boliviarianisch“, weiterhin auf Wachstum um jeden
Preis setzen, reagierte er mit leiser, aber bestimmter Kritik, ebenso, wie
er sich stets für Pressefreiheit und Pluralismus in Kuba einsetzte.
Jenseits politischer und intellektueller Vorlieben vergrößerte sich
Galeanos Fangemeinde schlagartig, als 1995 sein Bestseller „Der Ball ist
rund“ erschien. „Fußball ist ein Zauberreich, in dem alles passieren kann�…
pflegte er den kolumbianischen Trainer Francisco Maturana zu zitieren. Und
in Brasília erzählte er schmunzelnd, wie seine Begegnungen mit dem
legendären, 2011 verstorbenen Mittelfeldregisseur Sócrates verliefen: „Ich
wollte nur über Fußball reden, und er nur über Politik.“
14 Apr 2015
## AUTOREN
Gerhard Dilger
## TAGS
Lateinamerika
Bolivien
Uruguay
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