# taz.de -- Der Islam-Gelehrte Fethulla Gülen: Ein Prediger, der weint | |
> Islamischer Reformer oder verkappter Fundamentalist? Der türkische | |
> Starprediger Fethulla Gülen ist schwer zu fassen. Aber für emotionale | |
> Aufwallungen ist er immer gut. | |
Bild: Wenn er auf den Koran kommt, bricht Gülen manchmal in Tränen aus. | |
Es gibt Zufälle, die sind keine. Kürzlich wurde das überraschende Ergebnis | |
einer Umfrage bekannt, welche die britische Zeitschrift Prospect und das | |
US-amerikanische Magazin Foreign Policy im Internet angestrengt hatten. Auf | |
die Frage nach den wichtigsten Intellektuellen unserer Zeit wurde dort der | |
- außerhalb der Türkei weithin unbekannte - islamische Prediger Fethullah | |
Gülen auf den ersten Platz gewählt. In der gleichen Woche startete vor dem | |
Verfassungsgericht in Ankara das Verfahren gegen die AKP, die Partei des | |
türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan. Diese stellt in der | |
Türkei seit sechs Jahren die Regierung, nun aber droht ihr ein Verbot wegen | |
"islamistischer Umtriebe". Als einer der Vordenker dieser Partei gilt | |
ausgerechnet Gülen. | |
Wer ist dieser Mann? Selbst in der Türkei findet man darauf keine | |
eindeutige Antwort, denn den inzwischen in den USA lebenden Islam-Gelehrten | |
umgibt eine Aura des Geheimnisvollen. Geboren wurde er 1941 in einem Dorf | |
nahe Erzurum, einer stockkonservativen Stadt im äußersten Nordosten der | |
Türkei, an der Grenze zu Iran und Armenien gelegen. Seine Karriere begann | |
er als Moscheeprediger in staatlichen Diensten, und als solcher reiste er | |
von den Fünfzigerjahren bis zum Militärputsch von 1980 durch die Türkei, wo | |
er eine wachsende Anhängerschaft auf sich vereinigen konnte. Landesweites | |
Aufsehen erregte er nach seiner Pensionierung in den späten 80ern durch | |
seine guten Beziehungen zum damaligen Präsidenten Turgut Özal, auch dieser | |
wie er ein Aufsteiger aus der ostanatolischen Provinz. | |
Mittlerweile sind weit über 60 Bücher mit seinen Vorträgen erschienen, sie | |
sind als Audio- und Videodokumente erhältlich oder kursieren als Kurzclips | |
im Internet. Berühmt ist Fethullah Gülen für seine blumige, von | |
altmodischen osmanischen Vokabeln durchsetzte Rhetorik und dafür, dass er | |
am Ende seiner Ausführungen, wenn er etwa auf den Koran kommt, zuweilen vor | |
Ergriffenheit in Tränen ausbricht. Sein Publikum vermag er damit zu | |
emotionalen Aufwallungen zu provozieren, die der Hysterie bei einem | |
Popkonzert durchaus nahe kommen. | |
Mindestens ebenso eindrucksvoll sind die handfesten Erfolge seiner | |
Bewegung. Seine Anhänger betreiben nicht nur ein kleines Medienimperium, zu | |
dem Zeitungen und ein Fernsehsender gehören, sondern auch eine wachsende | |
Zahl von Schulen und anderen Bildungseinrichtungen in der Türkei wie im | |
Ausland. Seine Bewegung muss man sich als Netzwerk vorstellen, das aus | |
einem inneren Kreis von engen Getreuen besteht, aber weltweit bis zu fünf | |
Millionen Anhänger zählen soll. Wirkt er auf den ersten Blick wie ein | |
entrückter Großvater, so zeigt sich Gülen damit ganz als Mann des | |
Medienzeitalters, vergleichbar mit evangelikalen TV-Predigern in den USA. | |
In seinem Heimatland ist er eine umstrittene Figur. Den einen gilt er als | |
islamischer Reformer, der traditionelle Frömmigkeit mit der Moderne zu | |
versöhnen weiß. Die anderen sehen in ihm einen verkappten Fundamentalisten, | |
der die Gesellschaft unterwandern möchte. Denn einerseits predigt Fethullah | |
Gülen die Vereinbarkeit von Islam und liberaler Demokratie, die für ihn | |
schon "aus dem Koran hervor" gehe. Er setzt sich für Toleranz gegenüber | |
Andersdenkenden und den interreligiösen Dialog ein und hat sich in der | |
Vergangenheit schon mit Papst Johannes Paul II. sowie führenden Rabbinern | |
getroffen, während Bin Laden für ihn schlicht ein "Monster" ist. | |
Andererseits ist seine Weltsicht extrem traditionell, und auch wenn er das | |
Kopftuch als eher nebensächlich betrachtet, so ist sein Frauenbild doch | |
erzkonservativ, und seine theologischen Auslegungen des Korans sind | |
konventionell. Darwins Evolutionstheorie lehnt er ab, Atheismus ist ihm ein | |
Graus, der Mangel an Gottesglauben ein Zeichen des moralischen Niedergangs. | |
Sich selbst würde er nie als "islamischen Reformer" bezeichnen, denn das | |
würde ja bedeuten, dass der Islam deformiert sei und der Reparatur bedürfe. | |
Dass manche in ihm trotzdem einen Reformer sehen, liegt an der praktischen | |
Wendung, die er seinen religiösen Überzeugungen gibt. Statt Gottergebenheit | |
predigt er Aktivismus, statt Weltabgewandtheit die Versöhnung von | |
islamischen Glaubenssätzen mit technisch-naturwissenschaftlichem | |
Fortschritt. Die säkulare Ordnung der Türkei und die Universalität der | |
Menschenrechte stellt der 67-Jährige nicht in Frage, im Gegenteil: Staaten | |
wie den Iran oder Saudi-Arabien, die das "islamische Recht" der Scharia | |
anwenden, lehnt er ab. Ihnen setzt er seine Idee eines "anatolischen Islam" | |
entgegen, der sich durch Toleranz und Religionspluralismus auszeichne - | |
unschwer lässt sich da eine türkisch-nationalistische Note herauslesen, die | |
seine Botschaft für die meisten arabischen Muslime eher unattraktiv macht. | |
Selbst dem politischen Islam eines Necmettin Erbakan, der mit seiner | |
"Refah"-Partei in den Neunzigerjahren in der Türkei Erfolge feierte, kann | |
er nichts abgewinnen. Gegen dessen "Islam von oben", der vom Staat | |
erwartet, eine konservativ-islamische Moral durchzusetzen, propagiert Gülen | |
einen "Islam von unten". Allein durch persönliche Frömmigkeit und gelebte | |
Tugend solle dieser anderen zum Vorbild gereichen. Die Gebote des Islam | |
sind für Gülen etwas, das Muslime aus innerem Antrieb befolgen sollten, | |
statt sie anderen Menschen aufzuzwingen. | |
Ein Islam für den anatolischen Mittelstand | |
In seiner Überzeugung, dass man den Koran nicht allein mit dem Verstand, | |
sondern nur mit dem Herzen richtig verstehen könne, und dass Gott, Mensch | |
und Natur in einer Art kosmische Einheit miteinander verbunden seien, zeigt | |
sich Gülen vom Geist türkischer Sufi-Bruderschaften beeinflusst. Diesen | |
kombiniert er mit einer protestantisch anmutenden Ethik, indem er Werte wie | |
Pragmatismus, Flexibilität und Pietismus feiert. "Arbeit" ist für ihn eine | |
Form des Gottesdienstes, Ineffizienz geradezu unmoralisch. "Für Ausdauer | |
und Geduld werden wir mit Erfolg belohnt; die Strafe für Trägheit ist | |
Mittellosigkeit", schreibt er in seinem Werk "Grundlagen des islamischen | |
Glaubens" seinen Lesern ins Stammbuch. Neben solchen Spruchweisheiten | |
finden sich seitenlange Elaborate über "die Erscheinungsformen von Engeln | |
und Dschinn in der sichtbaren Welt" oder die "Einflüsterungen Satans", | |
wobei es sich dabei um so etwas wie die islamische Variante der "sieben | |
Todsünden" handelt. | |
Anhänger findet seine Populärphilosophie unter der aufstrebenden | |
Mittelschicht, vor allem in den konservativen Städten der Zentraltürkei und | |
unter Akademikern, Ärzten und Ingenieuren. Mit seiner Betonung von Arbeit, | |
Selbstdisziplin und Sparsamkeit spricht er Kleinunternehmer in der | |
anatolischen Provinz an - jenen Mittelstand, der seinen beruflichen | |
Aufstieg mit einem pragmatischen Glauben in Einklang bringen will. Diese | |
anatolischen Aufsteiger gelten als Gewinner der wirtschaftlichen | |
Liberalisierung in der Türkei seit den Neunzigerjahren, weil sie großen | |
Anteil am Export-Boom hatten, und wurden in einer berühmten Studie schon | |
einmal als "muslimische Calvinisten" bezeichnet. Sie bilden auch die | |
Stammwählerschaft und das wirtschaftliche Rückgrat der | |
konservativ-islamischen AKP. | |
Protestantische Ethik für Muslime | |
Einem protestantischen Bildungsideal verpflichtet zeigen sich auch die über | |
500 Privatschulen, Internate, Nachhilfeeinrichtungen und | |
Studentenwohnheime, die, weltweit mit Spendengeldern und von wohltätigen | |
Stiftungen finanziert, von Gülens Anhängern gegründet wurden. Seine Gegner | |
fürchten, Fethullah Gülen wolle damit eine fromme Elite heranzüchten, um so | |
eines Tages die Macht im Staate zu übernehmen. Aus diesem Grund wurde vor | |
neun Jahren gegen ihn in der Türkei ein Prozess eröffnet. Seither lebt der | |
greise und schwer kranke Prediger in den USA, von wo aus er auf sein | |
wachsendes Netzwerk von Medien und Bildungseinrichtungen blickt. | |
Vom Vorwurf, er habe seine Anhänger zur "Unterwanderung" des Staates | |
aufgefordert, wurde Gülen inzwischen freigesprochen. Ob seine Anhänger in | |
der AKP jetzt ähnlich glimpflich davonkommen, erscheint derzeit allerdings | |
unwahrscheinlich. Bleibt die Frage, wer sich beim Marsch seiner Anhänger | |
durch die Institutionen am Ende stärker verändern wird: die Institutionen - | |
oder sie selbst? | |
Für das ausgeprägte Sendungsbewusstsein der Gülen-Anhänger spricht, dass | |
sie ihm jüngst beim Online-Ranking von Prospect und Foreign Policy zu | |
seinem Überraschungserfolg verhalfen. Schnell wurde klar, dass dahinter | |
eine Kampagne der türkischen Zeitung Zaman stand, die als liberales | |
Intelligenzblatt und zugleich Zentralorgan der Fethullah-Fans gilt. Diese | |
hätten seine Umfrage gekidnappt und "lächerlich gemacht", zürnte der | |
Prospect-Chefredakteur David Goodhart, als die Ergebnisse vorlagen. | |
Das ist nicht ganz falsch. Trotz dieser offensichtlichen Verzerrung sollte | |
es aber zu denken geben, dass auf den ersten zehn Plätzen der Umfrage | |
ausschließlich islamische Reformdenker wie der Iraner Abdolkarim Sorusch | |
oder Tarik Ramadan sowie säkulare Intellektuelle aus islamischen Ländern | |
wie Orhan Pamuk, die iranische Friedensnobelpreisträgerin Schirin Ebadi | |
oder der pakistanische Anwaltsaktivist Atzan Ahsan landeten, während | |
westliche Geistesgrößen wie Jürgen Habermas oder Noam Chomsky, weit | |
abgeschlagen, hintere Rängen einnahmen. Es könnte einen Hinweis darauf | |
geben, in welcher Region derzeit die wichtigsten intellektuellen Debatten | |
toben. | |
10 Jul 2008 | |
## AUTOREN | |
Daniel Bax | |
## TAGS | |
Fethullah Gülen | |
Gülen | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Prediger Fethullah Gülen in den USA: Türkei drängt offiziell auf Auslieferung | |
Ankara bittet nun offiziell um die Auslieferung Gülens. Der Antrag stehe | |
aber nicht in Zusammenhang mit dem Putschversuch, sagt das State | |
Department. | |
Religiöse Bildung: Privatschule unter Beschuss | |
Das Gymnasium Alsterring hat Ärger mit der Stadt. Staatliche Vorgaben | |
sollen nicht eingehalten worden sein, Sorgen macht auch die Nähe zur | |
Gülen-Bewegung. | |
"Mudschahid" Erbakan: Ein türkischer Islamist | |
Der frühere islamistische türkische Regierungschef Necmettin Erbakan ist | |
tot. Der 84jährige galt auch als Mentor des Ministerpräsidenten Erdogan. |