# taz.de -- Die eingehegte Stadt | |
> Unter dem Al-Sisi-Regime verschwindet in Kairo immer mehr öffentlicher | |
> Raum | |
von Sophie Pommier | |
Früher traf man sich an der Corniche, um einfach mal frische Luft zu | |
schnappen. Doch damit ist es vorbei, seit die Uferstraße am Nil vor vier | |
Jahren umgestaltet wurde – ausgerechnet unter dem Slogan „Mamshaa Ahl Misr�… | |
(Promenade für die Menschen Ägyptens). | |
Seitdem gibt es zwei Bereiche: Der eine ist der für alle zugängliche | |
Bürgersteig neben der im Dauerstau vor sich hin stinkenden Autoschlange, | |
vom Volksmund zahma genannt. Der andere Bereich liegt direkt am Wasser: | |
eine hölzerne Promenade mit Restaurants und Cafés, an der Privatjachten und | |
Wassertaxis anlegen können. | |
Aber die Promenade ist nicht frei zugänglich. Der Zutritt kostet 20 | |
ägyptische Pfund (60 Eurocent) pro Person – in einem Land, in dem der | |
monatliche Mindestlohn im öffentlichen Dienst bei 3500 Pfund (106 Euro) und | |
im Privatsektor bei 2700 Pfund (82 Euro) liegt. Alle 100 Meter steht ein | |
Ticketkiosk, und alle 20 Meter eine Überwachungskamera. Sobald man vom | |
Bürgersteig auch nur an das Geländer herantritt, das die Welt der Reichen | |
und Schönen vom gemeinen Volk trennt, wird man von einem Wachmann höflich, | |
aber bestimmt auf Abstand verwiesen. | |
Vorbei sind die Abende, da man mit Freunden auf Plastikstühlen am Nil saß | |
und den Feluken hinterhersah, die das Ufer mit ihren dröhnenden Musikboxen | |
beschallten. Auch die hölzernen Partyboote sind fast ganz verschwunden, | |
abgelöst durch einen gediegeneren – und exklusiveren – Bootsservice. | |
„Wegen der Neubauviertel, der Hochhäuser und jetzt auch noch der neuen | |
Uferpromenade sieht man den Fluss überhaupt nicht mehr“, klagt Selim[1], | |
der seine Stadt über alles liebt. Dabei sei der Nil ein Teil der | |
ägyptischen Identität, abgesehen davon, dass er den ganzen Großraum Kairo | |
strukturiere. | |
Mit dem Eintrittsgeld zur Promenade erwirbt man noch nicht das Recht, eines | |
von den Happy Fewfrequentierten Restaurants zu betreten oder in einem Lokal | |
ein Glas zu trinken. Auch an der Tür wird streng gesiebt. Selbst wer zur | |
ägyptischen Mittelklasse gehört, wurde in bestimmten Lokalen schon | |
abgewiesen. „Sie wollten mein Facebook-Konto sehen, um mein soziales Umfeld | |
einzuschätzen“, ärgert sich Mona. Die junge Frau berichtet, dass sie um ein | |
Haar nicht reingelassen worden wäre. Mona trägt einen eleganten Hidschab, | |
damit wäre sie in einigen exklusiven Resorts an der Mittelmeerküste | |
unerwünscht, in denen Bikinis und Alkoholkonsum die Norm und Kopftücher | |
verboten sind. | |
Auch die von den Briten übernommene Klubtradition trägt dazu bei, dass die | |
Segregation weiterlebt. In den zahlreichen Offiziersclubs der ägyptischen | |
Armee gibt es seit Langem exklusive Zirkel wie den Klub der Grenzschützer, | |
den Klub der Offiziere der Streitkräfte, den Klub der Sicherheitsoffiziere, | |
den Klub der Polizeioffiziere. | |
Die hohen Zäune um die Armenviertel sind ebenfalls nichts Neues: Schon zu | |
Mubaraks Zeiten sollte durch Mauern um die informellen Siedlungen das Elend | |
versteckt werden. Seitdem hat die soziale Polarisierung noch zugenommen. | |
Ägyptens Wirtschaft liegt am Boden, das Land braucht dringend Geld. Den | |
Konsum stützen nur noch die Reichen, für die – nach dem Vorbild der | |
Golfstaaten – immer mehr öffentliche Räume reserviert werden. So entstehen | |
ständig neue Restaurants und Boutiquen und Bankfilialen, für die der | |
Staat, oft in Gestalt der Armee, Mietzahlungen und Gewerbesteuer kassiert. | |
Die neuen Bars und Restaurants setzen auf einen pseudokosmopolitischen | |
Look. Vor dem London-Café stehen vier Wachen wie vor dem Buckingham-Palast, | |
mit den bekannten roten Uniformen und den schwarzen Bärenfellmützen. Mit | |
solchen Lokalitäten verliert Ägypten immer mehr von seinem einheimischen | |
Kolorit, was langfristig sogar Einnahmen aus dem Tourismus kosten könnte. | |
Doch bisher scheint sich das vom Golf übernommene Konsumkonzept noch zu | |
rechnen. | |
Vor allem die Armee hat ein vitales Interesse an der neuen urbanen | |
Entwicklung. Ihr gehören nicht nur die Baufirmen, die die Projekte | |
umsetzen. Sie organisiert auch die Bewirtschaftung, was ihr satte Gewinne | |
einbringt.[2]In Kairo ist es ein offenes Geheimnis, dass das berühmte | |
Restaurant Séquoia im Zamalek-Viertel an der Nordspitze der Gezira-Nilinsel | |
geschlossen wurde, weil sich die Besitzer nicht mehr vom Militär erpressen | |
lassen wollten. Die Lokalitäten, die an seiner Stelle aufmachten, führt die | |
Armee. | |
## Triumph des Autos über den Flaneur | |
Der Kairoer Zoo und der angrenzende Botanische Garten wurden dem Militär | |
ebenfalls zur Sanierung überantwortet, inklusive des Nutzungsrechts mit | |
einer Laufzeit von 25 Jahren. Die meisten ärmeren Familien, die hier am | |
Wochenende auf den Wiesen picknicken, werden sich die Eintrittspreise nach | |
der Wiedereröffnung bestimmt nicht mehr leisten können. | |
Dasselbe gilt für den mehr oder weniger erschwinglichen Teil des größten | |
ägyptischen Freizeitparks: Der Gezira Sporting Club entstand 1882 auf dem | |
Gelände eines Botanischen Gartens auf der Gezira-Insel. Vor allem an den | |
Wochenenden wurden die Eintrittspreise drastisch angehoben. | |
Und selbst die archäologischen Stätten wurden teilweise privatisiert. Der | |
koptische Medien- und Mobilfunk-Mogul Naguib Sawiris, einer der reichsten | |
Männer Ägyptens, hat im Oktober 2020 ein Restaurant mit Blick auf die | |
Pyramiden eröffnet. | |
Auch die Bewohner des eleganten Stadtteils Heliopolis, benannt nach der | |
nahegelegenen altägyptischen Stadt im Nordosten Kairos, sind verunsichert | |
und fürchten um ihr Viertel. Die Gartenstadt wurde Anfang des 20. | |
Jahrhunderts auf Initiative des belgischen Eisenbahnunternehmers Édouard | |
Empain auf 24 Quadratkilometern mitten in der Wüste angelegt, mit breiten | |
Boulevards und modernster Infrastruktur. | |
Gegen den Bau einer Straße, die Heliopolis mit der zukünftigen ägyptischen | |
Hauptstadt verbinden soll, die Präsident al-Sisi als Leuchtturmprojekt rund | |
50 Kilometer östlich von Kairo hochziehen lässt, haben hier viele | |
protestiert. Zahlreiche alte Bäume wurden für die neue Trasse schon | |
gefällt; an einigen Stellen wurde die Straße durch die Bauarbeiten völlig | |
blockiert.[3] | |
„Meine Mutter ist schon ein bisschen älter, sie traut sich gar nicht mehr | |
aus dem Haus“, erzählt Mahmud, ein Stadtentwicklungsexperte. „Die neue | |
Schnellstraße verläuft direkt vor ihrer Haustür, und sie haben die | |
Bürgersteige einfach entfernt.“ Die neuen Verkehrsachsen zementieren den | |
Triumph des Autos über den Flaneur.[4] | |
Bei dieser urbanen „Entwicklung“ geht es aber auch um die | |
sicherheitspolitische Kontrolle des öffentlichen Raums. Bereits nach dem | |
Militärputsch im September 2013 hatte die Stadtverwaltung von Kairo | |
angekündigt, die wichtigsten Plätze im Stadtzentrum umzugestalten. Damit | |
sollte verhindert werden, dass die Versammlungsorte zu Stätten des Protests | |
werden wie der Tahrir-Platz 2011, im Jahr des Arabischen Frühlings.[5] | |
Die Reichen haben sich ohnehin längst in ihre privaten Gated Communities am | |
Stadtrand zurückgezogen, wo man sich nur mit dem Auto fortbewegen kann. Und | |
die Armen sollen möglichst in die noch weiter entfernten Vorstädte ziehen, | |
damit man im Stadtzentrum die alten oder ungenehmigt errichteten Häuser | |
abreißen kann. | |
In den neuen Vierteln, die sich endlos in eine wüstenähnliche Weite | |
ausdehnen, stehen die Betonklötze reihenweise in der prallen Sonne. An der | |
Hauptstraße gibt es ein paar Cafés, Supermärkte und Einkaufszentren – als | |
Treffpunkt alles andere als attraktiv. Und so sitzen die meisten Leute in | |
ihrer Freizeit zu Hause vor dem Fernseher mit seinem weitgehend staatlich | |
kontrollierten Programm, oder sie chatten in den sozialen Netzwerken, in | |
denen das Regime kaum weniger Einfluss hat. | |
Der gesamte Lebensstil hat sich verändert. In Ägypten hielten sich die | |
Menschen früher, sobald es die Temperaturen zuließen, vorwiegend auf der | |
Straße auf, vor allem während der Abende im Ramadan. In den neuen fernen | |
Stadtvierteln sind die Moscheen mittlerweile fast der einzige Ort, an dem | |
man sich noch versammeln kann. Aber auch sie unterliegen einer strengen | |
Kontrolle, was man daran merkt, dass alle Predigten gleich klingen. | |
## Ein Volkspark für die besseren Kreise | |
In letzter Zeit hat das Regime den Bau von Gotteshäusern gefördert, | |
einschließlich Kirchen. Im Dezember 2022 gab das Ministerium für religiöse | |
Stiftungen (awqaf)bekannt, dass seit der Machtübernahme von Präsident | |
al-Sisi vor zehn Jahren rund 9600 Moscheen gebaut oder renoviert wurden. | |
Der große Al-Azhar-Park östlich des Stadtzentrums gegenüber der „Stadt der | |
Toten“ – Kairos größtem Friedhof – wurde vor allem von der | |
Aga-Khan-Stiftung finanziert, einer der weltweit größten privaten | |
Entwicklungshilfeorganisationen. Der Park gilt als gelungenes Beispiel | |
für die Sanierung einer vernachlässigten Fläche. Er wurde auf einer Brache | |
angelegt, auf der sich früher die von den zabaleen (Müllmenschen) | |
zusammengetragenen Berge von Unrat türmten. | |
Aus Sicht der Behörden hat das Gebiet den Vorteil, dass es von allen Seiten | |
leicht eingehegt werden kann. Nach Westen grenzt der Park an das etwas | |
tiefer gelegene Viertel Darb al-Ahmar, das noch ein Labyrinth von Gässchen | |
ist. Auf der anderen Seite verläuft eine Schnellstraße, hinter der die | |
„Stadt der Toten“ liegt. Die Sicherheitskräfte können also schnell hier | |
sein, zudem sind die nahe gelegene Zitadelle und der Muqattam-Berg | |
militärische Zone. Diese logistischen Gegebenheiten dürften auch der Grund | |
sein, warum hier Großveranstaltungen und Konzerte toleriert werden. | |
Die Art und Weise, wie sich das Projekt von seinen ursprünglichen Zielen | |
entfernt hat, ist ebenfalls ein gutes Beispiel für die fortschreitende | |
Spaltung der ägyptischen Gesellschaft. Anfangs hieß es noch, von dem Park | |
sollten vor allem die armen Leute aus dem überbevölkerten Darb al-Ahmar | |
profitieren. Für sie gilt auch ein ermäßigter Eintrittspreis. Doch dann | |
wurde der Park schnell von den gehobenen Schichten in Beschlag genommen, | |
sodass sich die Bevölkerung der ärmeren Quartiere nicht mehr zu Hause | |
fühlte. Und so wurde er mit der Zeit von seiner unmittelbaren Umgebung | |
abgeschottet. | |
Schwerpunkt dieser Kontroll- und Segregationspolitik ist zwar die | |
Hauptstadt Kairo. Aber sie macht sich auch in anderen Provinzen und Städten | |
bemerkbar. So wurde etwa in Alexandria der berühmte Montazah-Park, die | |
grüne Lunge der Stadt, in einen Hotspot für den internationalen Tourismus | |
verwandelt, mit Jachthafen und kostenpflichtigen Privatstränden. | |
Dass beliebte Freizeitstätten wie die typisch ägyptischen Theater und Kinos | |
mit ihren grellen Werbeplakaten fast verschwunden sind, ist aber nicht nur | |
eine Folge des globalen Tourismus. Auch die Coronapandemie hat dazu | |
beigetragen. Sie sorgte für einen Boom der ägyptischen TV-Serien, für die | |
in den Straßen auf Großplakaten geworben wird, die sich mit dem Porträt des | |
Staatschefs abwechseln. | |
Vielleicht gehen die Leute auch mal ins alte Lichtspieltheater, um einen | |
Hollywoodfilm zu sehen, falls der nicht der Zensur mit ihren teils absurden | |
Kriterien zum Opfer gefallen ist. Kinos gibt es allerdings fast nur noch in | |
den Malls. Oder die Leute verbringen ihre Freizeit, wenn sie es sich noch | |
leisten können, in einem Sportklub; die jungen Männer vorzugsweise im | |
Fitnessstudio, damit sie ihre Muskelpakete anschließend im privaten Kreis | |
oder in den sozialen Netzwerken präsentieren können. In den ärmeren | |
Vierteln und in der Provinz fehlen Grünflächen und Sportanlagen entweder | |
ganz, oder sie werden nicht gepflegt. | |
Auch der Fußball, der populärste Sport im Land, wurde unter Kontrolle | |
gebracht. 2011 gehörten die Ultras der Kairoer Klubs zu den Vorkämpfern der | |
Revolution. Heute sind die Fans im Stadion handverlesen: Der Ticketverkauf | |
läuft über das Portal My Ticket. Wer auf die Tribüne will, muss sich auf | |
der Webseite registrieren und seine persönlichen Daten samt Ausweisnummer | |
angeben. Im Station gibt es strenge Sicherheitsvorkehrungen und die | |
Fußballcafés werden regelmäßig von der Polizei kontrolliert – und erpress… | |
Ein bei den Jugendlichen beliebter Rückzugsort sind die | |
Inlineskating-Pisten, weil sich hier Jungen und Mädchen ungehindert | |
begegnen können. Manchmal kann man da auch verschleierte Frauen sehen, die | |
in ihrer Abaja über den Asphalt gleiten und vielleicht für einen kurzen | |
Moment die Sorgen und Nöte des Alltags vergessen haben. | |
1↑ Viele unserer Gesprächspartner baten darum, anonym bleiben zu dürfen. | |
2↑ Siehe Jamal Bukhari und Ariane Lavrilleux, [1][„Ägyptens unersättliche | |
Armee“], LMd,Juli 2020. | |
3↑ Zur politischen Stadtplanung unter dem autoritären Al-Sisi-Regime siehe | |
auch Léa Polverini, [2][„Pharaonische Obsessionen“], LMd, April 2022. | |
4↑ Siehe „Wem gehört die Straße? In Ägypten verschwindet der öffentliche | |
Raum“, Al-Safir al-Arabi, www.assafirarabi.com, 11. Februar 2023 (auf | |
Arabisch). | |
5↑ Siehe Martin Roux, [3][„Das Herz von Kairo“], LMd,Februar 2021. | |
Aus dem Französischen von Jakob Farah | |
Sophie Pommier ist Beraterin des französischen Außenministeriums. | |
8 Jun 2023 | |
## LINKS | |
[1] https://monde-diplomatique.de/artikel/!5697366 | |
[2] https://monde-diplomatique.de/artikel/!5844463 | |
[3] https://monde-diplomatique.de/artikel/!5747987 | |
## AUTOREN | |
Sophie Pommier | |
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