# taz.de -- Pharaonische Obsession | |
> Wie das Al-Sisi-Regime das antike Erbe Ägyptens für politische Zwecke | |
> instrumentalisiert | |
Bild: Sphinx-Allee in Luxor | |
von Léa Polverini | |
Die El-Orouba-Autobahn, die das Stadtzentrum von Kairo mit dem Flughafen | |
verbindet, ist von riesigen Reklametafeln gesäumt. Geworben wird für | |
Coca-Cola und Immobilienmakler, aber auch für die Sphinx und die Mumien der | |
Pharaonen. Und für die Mächtigen von damals und heute, Tutanchamun | |
respektive Abdel Fattah al-Sisi: salbungsvoll lächelnd, im Hintergrund die | |
Pyramiden. | |
Der ägyptische Präsident macht höchstpersönlich Reklame für das antike | |
Erbe, das den Stolz des Landes ausmacht. Am 3. April 2021 eröffnete er die | |
spektakuläre „Goldene Parade der Pharaonen“,[1]bei der 22 Mumien in das | |
neue Nationalmuseum der ägyptischen Zivilisation überführt wurden. Das | |
Ereignis wurde von mehr als 400 ausländischen Fernsehsendern übertragen. Es | |
wurde inszeniert, um die Touristen nach Ägypten zurückzulocken. | |
Aber hinter den Werbetafeln ließ sich auch das alltägliche Elend vor den | |
Kameras verbergen, zum Beispiel die schäbigen Fassaden der sogenannten | |
informellen Siedlungen entlang der Prozessionsstraße. Das Spektakel war für | |
die Bildschirme bestimmt, nicht für die einheimische Bevölkerung. Den | |
Anwohnern wurde untersagt, auf die Straße zu gehen, um den Umzug nicht zu | |
stören. | |
Der Tourismus erbringt einen Anteil von mehr als 10 Prozent am ägyptischen | |
Bruttoinlandsprodukt, zudem ist er die größte Devisenquelle des Landes. Die | |
Revolution von 2011 und die Attentate in Touristenorten hatten die | |
Konjunktur stark gedämpft. Doch ohne die Coronapandemie, die die Ökonomie | |
erneut geschwächt hat, würde Ägypten wohl sehr viel besser dastehen: In den | |
Jahren 2018 und 2019 erzielte die Tourismusbranche mit 12,6 Milliarden | |
US-Dollar bereits wieder ebenso große Einnahmen wie vor der Revolution. | |
Um diese Erholung zu fördern, baut die Regierung überall: Das Kairoer | |
Stadtzentrum wird erneuert, Luxor umgestaltet, neue Städte werden angelegt | |
und riesige Museen gebaut. Und überall verkünden die Symbole des alten | |
Ägyptens die Botschaft, dass das Land bei aller Modernität das stolze Erbe | |
einer tausendjährigen Kultur verkörpert. Mit den Touristen will Ägypten | |
auch neue Investoren anlocken und das Image aufpolieren, das durch die | |
politischen Unruhen des letzten Jahrzehnts und besonders durch die von | |
Unterdrückung, willkürlichen Verhaftungen und Missachtung der | |
Menschenrechte geprägte Präsidentschaft al-Sisis erheblich gelitten hat.[2] | |
Wenn es eine Wissenschaft gibt, die sich als Instrument des autoritären | |
Systems anbietet, ist es die Ägyptologie. Sie schenkt der Gesellschaft den | |
Traum einer großen Vergangenheit; zudem ist sie ein erstklassiges | |
diplomatisches Werkzeug, um das Regime auf dem internationalen Parkett zu | |
rehabilitieren. Die Obelisken und Sarkophage sind für Ägypten das, was der | |
Rock ’n’ Roll für die USA und die Pandas für China sind: Kultobjekte, mit | |
denen Träume verkauft werden. | |
## Die lebenden Bewohner der Totenstadt | |
Dass die antike Vergangenheit für politische Ziele ausgenutzt wird, ist | |
nicht neu. Das war schon während der Herrschaft von Muhammad Ali Pascha | |
(1805–1848) so, der das Land modernisierte. Als osmanischer Gouverneur bot | |
er seinen ausländischen Partnern antike Schätze als Entgelt für erwiesene | |
Dienste an. So gelangte zum Beispiel 1836 der Obelisk aus dem Tempel von | |
Luxor auf die Place de la Concorde in Paris. Damals wurden die Ausgrabungen | |
überwiegend von den europäischen Kolonialmächten geleitet, die Verbindung | |
zwischen antikem Erbe und nationaler Identität war noch nicht hergestellt; | |
sie entstand erst allmählich im Zuge der Unabhängigkeitsbestrebungen ab | |
Ende des 19. Jahrhunderts. | |
„Seit Nasser dient die ägyptische Antike als Instrument, um diskrete | |
diplomatische Kontakte mit westlichen Mächten zu knüpfen, auch wenn man | |
nach außen eine panarabische und antiwestliche Ideologie vertritt“, | |
erläutert die Politikwissenschaftlerin Sandrine Gamblin, die über das | |
kulturelle Erbe und den internationalen Tourismus in Ägypten arbeitet. Als | |
Beispiel nennt sie die französisch-ägyptische Zusammenarbeit bei der | |
Rettung der Monumente in Nubien, die nach der Suezkrise 1956 zur | |
Verbesserungen der bilateralen Beziehungen beitrug und die Tourismuspolitik | |
der Regierung stärkte. Der Nasserismus setzte zwar auf umfassende | |
Verstaatlichungen, aber der Tourismus blieb in privaten Händen und | |
prosperierte dank der Partnerschaft zwischen Ägypten und ausländischem | |
Kapital. | |
Dieser Umgang mit dem ägyptischen Erbe hatte jedoch einen Preis, den häufig | |
die lokale Bevölkerung zahlte. Auch die aktuelle Politik der | |
Stadterneuerung führt zur Zerstörung großer Stadtviertel und zur | |
Vertreibung ihrer Bewohner. „Hinter jeder Sphinx und jedem Obelisken“, sagt | |
der Geograf Roman Stadnicki, „verbergen sich in Ägypten irgendwelche | |
Sanierungsstrategien oder eine autoritäre Stadtplanung.“ | |
Hinter der „Sphinx-Allee“ etwa, die den Luxor- mit dem Karnak-Tempel | |
verbindet und jüngst eröffnet wurde, verbirgt sich ein städtebauliches und | |
menschliches Desaster. Um freies Feld für das Projekt zu schaffen, wurden | |
mehrere Siedlungen abgerissen und historische Gebäude wie der 1897 gebaute | |
Palast von Tawfik Pascha Andraos zerstört. Um das antike Theben zu | |
rekonstruieren, war ursprünglich vorgesehen, das gesamte urbane Gefüge | |
Luxors zu zerstören. Stattdessen sollte als Touristenattraktion das ideale | |
„Freilichtmuseum“ entstehen – malerisch, aber ohne eine lebende Seele. | |
Der Spatenstich erfolgte unter der Präsidentschaft von Husni Mubarak. | |
Gefördert vom UN-Entwicklungsprogramm (UNDP) begann 1996 die Umsetzung des | |
„Comprehensive plan of Luxor city project“. Unter Leitung des | |
US-Entwicklungsdienstleisters Abt Associates sollte das Projekt die Armut | |
bekämpfen helfen und Arbeitsplätze schaffen. 2006 rollten die Bulldozer der | |
Armee an. Die Unesco protestierte nachdrücklich, als sie von dem | |
umstrittenen Plan erfuhr, am Nil eine Landungsbrücke aus Beton zu bauen, | |
die einen Panoramablick auf die antike Stätte bieten sollte. | |
Nach einem längeren Tauziehen mit dem früheren Minister für ägyptische | |
Antike, Zahi Hawass, fiel das Projekt ins Wasser. Aber Luxor blieb damit | |
nicht vollkommen verschont. „Menschen wurden umgesiedelt und der Raum unter | |
ausschließlich touristischen Aspekten so umgestaltet, dass der Zugang zu | |
den Sehenswürdigkeiten erleichtert wurde“, erläutert Sandrine Gamblin, „d… | |
Touristen sollten so wenig wie möglich in Kontakt mit der Bevölkerung | |
kommen.“ | |
Tatsächlich ist die Umgestaltung der Stadt Luxor ein klassischer Fall von | |
kapitalistisch und monopolistisch organisiertem Tourismus. Die Einnahmen | |
gehen an Public-private-Partnerships (PPP). Eine nationale Klausel | |
verbietet es ausländischen Reiseunternehmen, ohne ägyptischen Partner im | |
Land tätig zu sein. Nur die historische Stätte selbst bekommt einen Teil | |
des finanziellen Segens ab. Die Aufwertung des archäologischen Erbes geht | |
mit einer städtebaulichen Sterilisierung einher, die vor allem eine | |
reibungslose Anfahrt der Touristenbusse ermöglichen soll und sehr gut zu | |
den Sicherheitsvorkehrungen passt, die seit den Attentaten in den 1990er | |
Jahren gelten. | |
Bis 2016 war es für Ausländer unmöglich, bestimmte Sehenswürdigkeiten im | |
Süden des Landes, wie Abu Simbel, ohne Militäreskorte zu besuchen. | |
Inzwischen wurden die Regeln aufgeweicht, aber an den Straßen gibt es immer | |
noch unzählige Checkpoints. | |
Die Obsession des Regimes für große Verkehrsachsen zeigt sich auch in dem | |
Zehnjahresplan al-Sisis, der Ägypten zu einem der wichtigsten globalen | |
Knotenpunkte für Transport und Logistik machen soll. Er liefert die | |
Legitimation für noch das umstrittenste Bauvorhaben, das die Regierung | |
bevorzugt durch Bauunternehmen der Armee ausführen lässt.[3] | |
Einige Autobahnen haben immerhin den Vorteil, dass sie über | |
Bewässerungskanälen verlaufen, die an anderer Stelle längst zu Mülldeponien | |
geworden sind. Damit tragen sie immerhin zur Reinhaltung des Wassers und | |
zum Kampf gegen die Wasserknappheit bei. Oft geht der Autobahnbau jedoch | |
auf Kosten landwirtschaftlicher Flächen – oder zerstört sogar Wohngebiete, | |
die der Staat im Kampf gegen die informellen Siedlungen ohnehin im Visier | |
hat. | |
Teile des kulturellen Erbes, die wenig profitabel erschienen, wurden in | |
großem Stil zerstört. Im Osten der Hauptstadt erstreckt sich die 1000 | |
Hektar große Stadt der Toten, die größte Nekropole des Nahen Ostens, deren | |
Anfänge ins 7. Jahrhundert zurückgehen. Sie ist von der Unesco als | |
Weltkulturerbe anerkannt, wobei ihr Kennzeichen ein architektonischer | |
Synkretismus ist. | |
Im Juli 2020 rollten die Bulldozer der Armee über die ungepflasterten Wege | |
des Friedhofs, auf dem Tote und Lebende zusammen wohnen. Das Terrain sollte | |
geräumt werden, um einen Autobahnzubringer zu bauen, der Kairo mit der | |
neuen Verwaltungshauptstadt verbinden soll. Die Grabsteine wurden von | |
Baggern zerstört, noch bevor die Leichen verlegt werden konnten. | |
Menschen mussten zusehen, wie Mausoleen, die sie als Wohnraum nutzten, ohne | |
Vorwarnung und Entschädigung plattgewalzt wurden. Nationale sowie | |
internationale Gesetze über das kulturelle Erbe wurden missachtet; doch der | |
Minister für Antike behauptete, die zerstörten Strukturen stammten | |
ausschließlich aus dem 20. Jahrhundert. Eine Petition von Architekten bei | |
der Unesco konnte die Zerstörungswut für kurze Zeit stoppen, aber Ende 2021 | |
waren die Baufahrzeuge zurück und die Proteste waren verstummt.[4] | |
„Die Architekten haben Angst, das Thema anzusprechen“, klagt Galila El | |
Kadi, Co-Autorin eines Buches über die Stadt der Toten.[5]„Sie arbeiten für | |
das Antike-Ministerium an der Restaurierung antiker Stätten oder für den | |
Staat, und die Armee vergibt alle Aufträge. Wenn sie den Mund aufmachen, | |
könnten sie ihren Job verlieren. 20 Beamte des Ministeriums wurden bereits | |
entlassen, weil sie gegen die Herabstufung von Monumenten protestiert | |
hatten.“ | |
Inzwischen sind 2700 Gräber zur Zerstörung freigegeben, darunter das von | |
Königin Farida, der ersten Ehefrau von König Faruk (dem letzten Herrscher | |
Ägyptens), aber auch die von Politikern und Dichtern, die architektonisch | |
wie symbolisch wertvoll sind. Die lebenden Bewohner der Totenstadt werden – | |
wenn überhaupt – nur durch vage Ankündigungen und widersprüchliche | |
Warnbriefe des Gouverneurs informiert. | |
Was die Zahl der Betroffenen angeht, so sind die Angaben – wie häufig in | |
Ägypten – sehr willkürlich. Offiziell hat die Stadt der Toten mehr als 1,5 | |
Millionen Einwohner. „Tatsächlich sind es höchstens 175 000. Und davon | |
leben weniger als 15 000 in den Grabgebäuden selbst“, versichert Galila El | |
Kadi. Warum sollte man die Zahl so aufblähen? „Um zu sagen, dass das | |
Problem nicht lösbar ist. Und was macht man mit einem unlösbaren Problem? | |
Man macht es platt.“ | |
Im Schatten des strahlenden Pharaonen-Erbes pflegt die Regierung also eine | |
sehr selektive Behandlung von Kulturdenkmälern. Islamische, koptische oder | |
einfach historische Bauten werden gleichermaßen geopfert, wenn damit Grund | |
und Boden frei wird, den man Investoren anbieten kann. In Ägypten ist der | |
Boden teuer und die Baufirmen fungieren als Käufer. | |
Gegen die Dekrete des Präsidenten richten die schüchternen Proteste der | |
Unesco nichts aus. Die Nachsicht der UN-Institution gegenüber Ägypten | |
erklärt El Kadi damit, dass man dem Land offenbar eine wichtige | |
stabilisierende Rolle in der Region zuschreibt: „Deswegen darf man die | |
Staatsmacht nicht verärgern; das zählt mehr als das kulturelle Erbe und die | |
Menschenrechte.“ | |
Offiziell begründet wird die Zerstörung von Armenvierteln wie Sayeda Zeinab | |
oder Maspero mit Einsturzgefahr, etwa bei Erdbeben. Tatsächlich handelt es | |
sich um Kollateralschäden einer „Haussmannisierung“ Kairos. Das ganze | |
Großprojekt ist als PPP organisiert. Wobei der private Partner das | |
Unternehmen Orascom Construction ist, das Nassef Sawiris, einem der | |
reichsten Männer des Landes, gehört. | |
Die soziale Bilanz des Eingriffs macht Roman Stadnicki auf: „Das Ägypten | |
des Volkes, das seit den 1950er Jahren große Gebiete in Eigenregie bebaut | |
hat, wird ohne Vorwarnung zerstört. Die Staatsmacht betrachtet das | |
überhaupt nicht als Teil des historischen Erbes; doch die ägyptische | |
Geschichte ist eine Abfolge kultureller Epochen, die ganz unterschiedlich | |
sind.“ | |
Mit der Zerstörung von Maspero verschwindet auch ein Teil des Erbes der | |
Revolution. Die informelle Siedlung liegt nah am Tahrir-Platz, auf dem 2011 | |
die großen Demonstrationen stattfanden. Schon damals ging es auch um die | |
Erhaltung solcher Wohnviertel. Die 2019 begonnene Umgestaltung des | |
Tahrir-Platzes unterliegt einer ähnlichen Dynamik, die auf die | |
Rückeroberung des Platzes durch die Staatsmacht zielt. Die manifestiert | |
sich in den baulichen Sicherheitsstrukturen: Betonpoller überall, breite, | |
kahle Alleen, Polizeiposten an jeder Ecke.[6] | |
Und selbst noch im Zentrum des Tahrir-Platzes – mit seinem | |
dreitausendjähriger Obelisken aus Tanis im Nildelta, umgeben von vier | |
Sphinxen aus dem Tempel von Karnak – lauern überall und rund um die Uhr die | |
Wachleute von ASSC Security und machen Jagd auf die Fotoapparate von | |
Neugierigen. | |
„Die Machthaber tun so, als würden die Männer die antiken Schätze bewachen, | |
was ja legitim wäre“, sagt Stadnicki. Aber hier geht es nicht um den Schutz | |
des Pharaonen-Erbes. Im Gegenteil: Die Wissenschaftler sind empört, dass | |
die erosionsanfälligen Sphinx-Figuren überhaupt auf diesen Platz versetzt | |
wurden, über den jeden Tag tausende Autos fahren. | |
Für Sandrine Gamblin geht es weniger darum, die Spuren der Revolution von | |
2011 auszulöschen, als „vor allem die Symbole der Macht, die auf das alte | |
Ägypten verweisen, zur Schau zu stellen. Der pharaonische Stil ist in der | |
zeitgenössischen Architektur des Regimes allgegenwärtig.“ | |
Gamblin nennt ein weiteres Beispiel der Ausbeutung des „Pharaonismus“ für | |
politische Ziele, nämlich der Beilegung von Konflikten: Nach dem Tod von | |
Saad Zaghlul, der sich für die Unabhängigkeit Ägyptens eingesetzt hatte, | |
stritt man 1927 über eine islamische Architektur für sein Grabmal. Am Ende | |
einigten sich alle auf ein Mausoleum im Pharaonenstil. | |
## Polizeipostenam Tahrir-Platz | |
Das historische Erbe ist also immer dabei – je nach den aktuellen | |
politischen Interessen. Darin liegt auch ein ganz pragmatischer Aspekt: In | |
einem Land, wo man sich nur einmal bücken muss, um ein Stück Antike in der | |
Hand zu halten, weiß man nicht immer, wohin damit. | |
Gamblin verweist auch auf einen ökonomischen Aspekt: „Seit den nuller | |
Jahren hat man in der Tourismuspolitik fast nur auf den Strandurlaub | |
gesetzt; der archeologische Kultur-Tourismus spielte kaum eine Rolle. Jetzt | |
kommt man darauf zurück, und das Pendel schwenkt zurück.“ Allerdings kommen | |
die Touristen, die Meer, Strand und ein Tauchparadies suchen, Jahr für Jahr | |
wieder, während sie die Pyramiden nur einmal besuchen. | |
Das andere Motiv für den Kampf gegen die informellen Siedlungen sind die | |
gewaltigen Investitionen in neue Städte, vor allem in die neue ägyptische | |
Hauptstadt, die Sisi-City, wie sie die Gegner des Präsidenten nennen. „Das | |
sind Projekte zur Eroberung der Wüste, um Kairo zu entlasten“, erläutert | |
Stadnicki. „Es sind genormte, überwachte, gesicherte Entwicklungsprojekte, | |
und damit in jeder Hinsicht das Gegenteil der Agglomeration Kairo mit ihren | |
Armenvierteln und informellen Siedlungen“. Der Geograf spricht von | |
„Exurbanisierung“ als einer Methode, „eine Stadt ihrer Zentren zu | |
berauben“. | |
Dass die neue Version des modernen Kairo dem Ehrgeiz ihrer Planer gerecht | |
wird, kann man sich angesichts der großen Verzögerungen im Zeitplan und der | |
ständig wechselnden Investoren kaum vorstellen. Die Bautätigkeit wurde 2015 | |
von Emaar Properties begonnen. Dem Rückzug des Dubaier Bauriesen folgte die | |
Übernahme durch die China State Construction Engineering Corporation und | |
schließlich durch das ägyptische Konsortium 5+ UDC. | |
Neben den Abbildungen auf den Hochglanzbautafeln, die an Dubai und Abu | |
Dhabi erinnern, nimmt sich die Wirklichkeit mit halbfertigen Straßen und | |
leeren Häusern trostlos aus. Sisi-City ist auf 6,5 bis 15 Millionen | |
Bewohner ausgelegt, aber es ist keineswegs sicher, dass selbst die | |
wohlhabenden Kairoer zum Umzug bereit wären. Und die Zwangsumsiedlung der | |
enteigneten Bevölkerung in andere neue Städte, die überhaupt nicht auf die | |
Bedürfnisse der einfachen Schichten eingerichtet sind, war bislang wenig | |
erfolgreich. | |
Das wirklich Neue bei diesen ehrgeizigen Plänen liegt in der kulturellen | |
Dimension, die diesen urbanen Konglomeraten in der Wüste aufgepfropft | |
werden soll. Das Regime berauscht sich an dem gigantischen Museum, das zu | |
Füßen der Pyramiden entstehen soll. Und in der neuen Hauptstadt wurde | |
bereits der Kongress- und Kulturpalast eingeweiht. Stadnicki sieht darin | |
„eine Überinvestition in kulturelle Projekte“, für die er zwei Gründe | |
sieht. Das ist zum einen der Einfluss der Golfmonarchien, die schon lange | |
verstanden haben, dass die Kultur für das internationale Image einer | |
„destination“ von entscheidender Bedeutung ist. Der zweite Grund ist | |
schlicht der, dass sich „über Museen oder Kulturpaläste leichter sprechen | |
lässt als über das, was weniger gut läuft, wie der Bau der neuen | |
Hauptstadt“. | |
Ägyptens Modernisierungsdrang findet offenbar die Unterstützung der | |
europäischen Staaten. Am 7. Dezember 2020 verlieh Präsident Emmanuel Macron | |
Marschall al-Sisi – wenn auch diskret – das Große Kreuz der | |
Ehrenlegion.[7]Am 8. November 2021 konnte der französische Alstom-Konzern | |
einen 876-Millionen-Euro-Auftrag für die Renovierung der Kairoer Metro | |
melden, finanziert über die staatliche Entwicklungshilfe, also die Agence | |
française de développement (AFD). Zwei Wochen später enthüllte die NGO | |
Disclose die Beihilfe Frankreichs bei der Tötung von Zivilisten durch das | |
ägyptische Militär.[8] | |
Offenbar kann sich Ägypten noch immer auf die Faszination verlassen, die | |
sein kulturelles Erbe im Ausland ausübt. Etwa in Frankreich, wo die | |
Wanderausstellung „Tutanchamun, der Schatz des Pharaos“ mit 1,42 Millionen | |
verkauften Eintrittskarten 2019 alle Besucherrekorde brach. Bis dahin war | |
die bestbesuchte Ausstellung eine ebenfalls dem jungen Pharao gewidmete | |
Schau im Jahr 1967 gewesen. | |
Ägypten ist zwar bereit, seine Objekte auf Reisen zu schicken, strebt aber | |
zugleich die Rückführung der antiken Schätze an, etwa des Rosettasteins aus | |
dem British Museum in London, der Büste der Nofretete aus dem Berliner | |
Ägyptischen Museum oder des Tierkreises von Dendera aus dem Pariser Louvre. | |
So fordert der Ägyptologe Zahi Hawass, der als Vertrauter Mubaraks während | |
der Revolution in Ungnade gefallen war, dann aber von al-Sisi rehabilitiert | |
wurde: „Wir müssen den Imperialismus der Museen stoppen.“ Durch Diebstahl | |
und Aufkauf von Artefakten sei Afrika ausgeraubt worden: „Ich begehre nicht | |
alles, was sich im Louvre befindet, wohl aber die gestohlenen Objekte, die | |
der Louvre gekauft hat.“ | |
2009 hatte Hawass die europäischen Museen um eine Leihgabe dieser Objekte | |
gebeten. Die Bitte blieb unbeantwortet. Damals zweifelte das British Museum | |
an, ob die ägyptischen Museen die Sicherheit der Objekte gewährleisten | |
könnten. In London wurde uns ein Interview verweigert. | |
Von Friederike Seyfried, Direktorin des Ägyptischen Museums in Berlin, kam | |
die Auskunft, dass „im Moment keine Restitutionsforderungen auf dem Tisch | |
liegen“. Für sie wäre aber auch eine Leihgabe eine politische Entscheidung: | |
„Ich selbst muss auf den kuratorischen Aspekt achten. In meiner Sammlung | |
gibt es zahlreiche Objekte, die auf einer roten Liste stehen und an | |
niemanden ausgeliehen werden dürfen, auch nicht an den Louvre, weil sie | |
sehr zerbrechlich sind.“ | |
Für Seyfried gehört die ägyptische Sammlung des Berliner Museums „zum | |
Weltkulturerbe in Deutschland“. Sie meint, im 21. Jahrhunderts soll die | |
Vorstellung gelten, „dass wir alle Teil einer Gemeinschaft sind und dass es | |
eine fantastische Chance ist, verschiedene Kulturen und ihre Artefakte an | |
vielen Orten überall in der Welt teilen zu können.“ Zur Frage des Handels | |
mit gestohlenen Objekten erklärt die Berliner Direktorin: „Was wir als | |
Ägyptisches Museum tun können, ist, der Polizei und dem Zoll helfen, | |
illegalen Handel aufzudecken und alles nach Ägypten zurückzubringen, was | |
illegal auf dem Markt ist.“ | |
Hawass tröstet sich: „Es ist mir zwar nicht gelungen, alle Stücke | |
heimzuholen, aber ich habe 6000 Artefakte zurück nach Ägypten gebracht.“ In | |
seinem Büro in Mohandessin im Norden von Gizeh befindet er darüber, was mit | |
den Ausgrabungsstätten des Landes geschieht. Der offenbar unkündbare, | |
obgleich in Fachkreisen umstrittene Ägyptologe beharrt darauf, zu seinen | |
Aufgaben gehöre auch Marketing: „Ich habe überall auf der Welt in hunderten | |
Fernsehshows gesessen, und das hat uns sehr geholfen, die Touristen nach | |
Ägypten zu holen. Ohne Touristen gibt es keine Erhaltung der antiken | |
Monumente und keine Ausgrabungen.“ | |
Tatsächlich finanziert der Tourismus einen Teil der archäologischen | |
Ausgrabungen. Viele große Grabungsstätten werden allerdings von | |
europäischen oder US-amerikanischen Institutionen gefördert. Die Agence | |
française de développement ist ein großer Geldgeber und hat zwischen 2009 | |
und 2015 eine halbe Million Euro für die Gestaltung der Nekropole Sakkara | |
beigesteuert. Und USAID gewährte in 30 Jahren mehr als 100 Millionen | |
US-Dollar für Projekte zur Erhaltung des Erbes der Pharaonen und der | |
Osmanischen Epoche. | |
Darüber hinaus gibt es private Mäzene. Eine der jüngsten von Hawass | |
betreuten Ausgrabungen in Sakkara, die 2018 in der Hoffnung begonnen wurde, | |
das Grab von Imhotep zu finden, wird mit 15 000 US-Dollar monatlich von | |
Clovis Rossillon, dem Präsidenten der Filmproduktionsfirma Orichalcum | |
pictures, über den Fonds français pour l’archéologie et la recherche (FFAR) | |
finanziert. | |
Um große Grabungen durchzuführen, fehlt es dem ägyptischen Staat an Geld | |
und den entsprechenden Kompetenzen. Deshalb versucht er die Zahl der | |
ausländischen Sponsoren zu vergrößern, ohne jedoch die strenge Kontrolle | |
über die Genehmigungen aufzugeben. Was die archäologischen Stätten | |
betrifft, so spielen hier noch immer die Rivalitäten zwischen den einstigen | |
Kolonialmächten mit. | |
Hawass nimmt für sich in Anspruch, die Ägyptologie den Ägyptern | |
zurückgegeben zu haben, indem er einheimische Wissenschaftler gezielt | |
gefördert hat: „Ich engagiere ständig ägyptische Teams. Zum ersten Mal | |
arbeitet beispielsweise ein Ägypter im Königstal, vorher gab es dort nur | |
Ausländer. Wir müssen ebenbürtig werden, dazu müssen wir wettbewerbsfähig | |
und besser ausgebildet sein.“ Werden die Ausgrabungen von ausländischen | |
Gruppen geleitet, werde das erlangte Wissen noch zu selten an einheimische | |
Wissenschaftler weitergegeben, meint Hawass. | |
Neben den ökonomischen und diplomatischen Zielen soll die Absicherung des | |
archäologischen Terrains durch die ägyptischen Behörden auch erreichen, die | |
alte koloniale Abhängigkeit zu überwinden; also selbst über das eigene | |
kulturelle Erbe zu verfügen, nachdem es von den imperialistischen Mächten | |
lange in alle Himmelsrichtungen verstreut wurde. Wie sagte doch die | |
Politikwissenschaftlerin Sandrine Gamblin: „Die Ägyptologie ist eine | |
koloniale Wissenschaft par excellence.“ | |
1↑[1][ „Goldene Parade der Pharaonen“], ägyptisches Ministerium für | |
Tourismus- und Antike. | |
2↑ Siehe Pierre Daum, [2][„Mehr Armut, weniger Hilfe“], LMd,März 2018. | |
3↑ Siehe Jamal Bukhari und Ariane Lavrilleux, [3][„Ägyptens unersättliche | |
Armee“], LMd,Juli 2020. | |
4↑ Dalia Chams, [4][„La Cité des morts du Caire craint de partir en | |
poussière“], Orient XXI,14. Februar 2022. | |
5↑ Galila El Kadi und Alain Bonnamy, „La Cité des morts: Le Caire“, | |
Institut de recherche pour le développement, Paris/Sprimont (Mardaga) 2001. | |
6↑ Siehe Martin Roux, [5][„Das Herz von Kairo“], LMd,Februar 2021. | |
7↑ [6][„Une légion d’honneur au maréchal Sissi en catimini … qui fini… | |
faire du bruit“], France 24, 15. Dezember 2020. | |
8↑ Siehe: „[7][Egypt Papers“], Disclose, 21. November 2021. | |
Aus dem Französischen von Claudia Steinitz | |
Léa Polverini ist Journalistin. | |
7 Apr 2022 | |
## LINKS | |
[1] https://egymonuments.gov.eg/en/events/pharaohs-golden-parade | |
[2] https://monde-diplomatique.de/artikel/!5488214 | |
[3] https://monde-diplomatique.de/artikel/!5697366 | |
[4] https://orientxxi.info/lu-vu-entendu/la-cite-des-morts-du-caire-craint-de-p… | |
[5] https://monde-diplomatique.de/artikel/!5747987 | |
[6] https://www.france24.com/fr/france/20201215-une-l%C3%A9gion-d-honneur-au-ma… | |
[7] https://egypt-papers.disclose.ngo | |
## AUTOREN | |
Léa Polverini | |
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