# taz.de -- Das Herz von Kairo | |
> Tahrir-Platz – vom Ort des Aufbruchs und der Hoffnung zum Freilichtmuseum | |
Bild: Der ganze Platz eine Baustelle, März 2020 | |
von Martin Roux | |
Jedes Mal, wenn Nader Fahmi[1]den Tahrir-Platz im Zentrum Kairos überquert, | |
beginnt sein Herz schneller zu schlagen. Nicht die Erinnerung an die | |
Revolution von 2011 und die mit ihr verbundene Hoffnung und Leidenschaft | |
sind der Grund dafür, sondern die Angst. „Wenn mich die Polizei anhält und | |
verlangt, dass ich mein Handy entsperre, besteht die Gefahr, dass ich | |
verhaftet werde“, sagt der Menschenrechtsaktivist. 2011, als | |
Zwanzigjähriger, war er an dem Aufstand beteiligt, der am 25. Januar begann | |
und am 11. Februar zum Rücktritt von Präsident Husni Mubarak führte. | |
Er erinnert sich an die dicht gedrängten Demonstranten, die in | |
Endlosschleife skandierten Slogans „As-shaab yurid isqat al-nizam“ (Das | |
Volk will den Sturz des Regimes) oder „Irhal!“ (Hau ab!) und an die | |
Diskussionen, die sich überall auf dem Platz spontan entwickelten. Heute | |
weiß er, dass er sich beim geringsten Verdacht gegen ihn zu den 60 000 bis | |
100 000 politischen Gefangenen gesellen wird, die nach Angaben von | |
Menschenrechtsorganisationen derzeit in ägyptischen Gefängnissen sitzen.[2] | |
In der Umgebung des Tahrir-Platzes sind willkürliche Polizeikontrollen an | |
der Tagesordnung, nachdem im September 2019 wieder Menschen im Zentrum | |
Kairos und an anderen Orten gegen das Regime Präsident al-Sisis auf die | |
Straße gingen. Der seit 2014 amtierende General al-Sisi kam durch einen | |
Putsch gegen seinen islamistischen Vorgänger Mohammed Mursi an die Macht | |
und duldet keinen Protest. In den zwei Wochen nach den Demonstrationen | |
wurden 4400 Menschen verhaftet, etwa 900 davon in Kairo.[3]Der Tahrir-Platz | |
gleiche inzwischen einer streng bewachten Militärgarnison, sagt Nader | |
Fahmi. „Es gibt hier mehr Zivilpolizisten als Passanten. Man erkennt sie | |
sofort an ihren Schnurrbärten und ihren blank geputzten Schuhen. Es ist | |
eine permanente Einschüchterung.“ | |
Die allgegenwärtige Kontrolle, die mit dem „Kampf gegen den Terrorismus“ | |
und der „Sicherung der Stabilität“ begründet wird, betrifft auch das äu�… | |
Erscheinungsbild des Tahrir-Platzes. Im Oktober 2019 wurde mit seiner | |
Umgestaltung begonnen. Der symbolträchtige 7,5 Hektar große Straßenstern | |
wurde nach den Wünschen der Regierung in ein Freilichtmuseum für das | |
Ägypten der Pharaonen verwandelt, 8 Millionen Euro hat das Al-Sisi-Regime | |
dafür investiert. | |
Ein 17 Meter hoher Obelisk aus der Zeit von Ramses II. thront nun im | |
Zentrum des von Autoverkehr umtosten Platzes. Umrahmt wird er von vier | |
Widdersphinxen, die aus dem Karnaktempel in Luxor nach Kairo gebracht | |
wurden. Eine Tafel am Fuß der Säule erzählt die moderne Geschichte Ägyptens | |
anhand von vier Revolutionen: der von 1919, die von Saad Zaghlul angeführt | |
wurde und zur Unabhängigkeit des Landes führte; dem Putsch der Freien | |
Offiziere 1952, durch den Ägypten zur Republik wurde; der Revolution von | |
2011, die das Ende der Mubarak-Herrschaft besiegelte; und schließlich der | |
vom 30. Juni 2013, als die Armee Mohammed Mursi, den ersten zivilen und | |
demokratisch gewählten Präsidenten Ägyptens, absetzte. Dieses letzte | |
Ereignis mache, so ist zu lesen, den Tahrir-Platz zu einem „Symbol für die | |
Freiheit der Ägypter“. | |
Für Passanten ist es unmöglich, die Inschrift auf dem Sockel des Obelisken | |
zu fotografieren oder sich ihr nur zu nähern, und sie können sich auch | |
nicht auf die kürzlich aufgestellten Bänke setzen. Im vergangenen Mai | |
betrauten die Behörden die Sicherheitsgesellschaft Falcon mit dem Schutz | |
der Gedenkstätte. Die dem militärischen Geheimdienst angeschlossene | |
Firma[4]hatte 2014 auch den Auftrag ausgeführt, mehrere staatliche | |
Universitäten zu „sichern“, in denen damals Proteste gegen das Regime | |
aufgeflammt waren. | |
„Der Tahrir ist wie eine Festung in einem Krieg. Wer ihn einnimmt und unter | |
seiner Kontrolle behält, der hat gewonnen“, erklärt Galila El Kadi. Die | |
Architektin und Stadtplanerin sieht in der Umgestaltung des Platzes vor | |
allem eines: den Ausdruck der Angst seitens der Machthaber, die Ägypter | |
könnten sich hier erneut zu einer Revolution versammeln. | |
Die politische Bedeutung des Platzes reicht weit bis in die erste Hälfte | |
des 20. Jahrhunderts zurück. Damals hieß er noch Ismailia-Platz. Unter dem | |
Einfluss der Unabhängigkeitspartei Wafd entwickelte er sich ab 1930 zur | |
wichtigsten „Stätte des Zorns, der Freiheit und der Veränderung“.[5] | |
Seit 1952 jedoch, als der Platz seinen aktuellen Namen „Tahrir“ (Platz der | |
Befreiung), erhielt, wurde er nur für die vom Regime inszenierten | |
Aufmärsche genutzt. Die einzigen Ausnahmen waren die | |
Studentendemonstrationen von 1972 und die „Brotunruhen“ von 1977. Die | |
Bewegung „Kifaja“ (Es reicht!) beispielsweise, die sich in den Jahren vor | |
der Revolution von 2011 für eine Demokratisierung des Landes einsetzte, | |
demonstrierte auf anderen Plätzen der Stadt. „Die Revolution hat den | |
Tahrir-Platz befreit“, sagt Elham Aidaros, eine politische Aktivistin, die | |
im Vorfeld des 25. Januar an der Bildung der Sozialistischen Volksallianz | |
beteiligt war. | |
Die Ägypter haben die Intensität und Leidenschaft dieser Zeit nicht | |
vergessen. Die in den sozialen Medien verbreiteten Szenen vom Mut der | |
Demonstranten vor der Brutalität der Sicherheitskräfte während der achtzehn | |
Tage auf dem Tahrir trugen erheblich dazu bei, dass der Mythos von der | |
Allmacht der Polizei[6]unhaltbar wurde. Es gab Szenen, in denen ein | |
unbewaffneter Mann ein Panzerfahrzeug nur mit der Kraft seiner Arme | |
aufzuhalten versuchte, und solche, in denen die demonstrierenden jungen | |
Leute den massiven Angriffen der vom Regime herbeigerufenen baltagiyas | |
(Schläger) standhielten und nicht zurückwichen. | |
Danach, als die Militärmacht beim politischen Übergang die Führung übernahm | |
und sich mit den Muslimbrüdern auf einen Wahlprozess einließ, wurde der | |
Platz für die revolutionären Kräfte ein wichtiger Ort, um die Mobilisierung | |
aufrechtzuerhalten.[7]„Es war ein politischer Raum, um gegen die | |
Herrschenden zu protestieren, erst gegen den Obersten Rat der Streitkräfte | |
und später gegen Mohammed Mursi“, erklärt Elham Aidaros. | |
Doch die zivilgesellschaftliche Aneignung des Tahrir, an dem sich die | |
großen Verkehrsadern Kairos treffen, war nicht von Dauer. Die Architektin | |
Galila El Kadi träumt davon, durch eine Umgestaltung des Platzes die | |
Erfahrung der Revolution an diesem öffentlichen Ort zu bewahren. Sie würde | |
den Tahrir gern zu einer Fußgängerzone machen und die Autos an den Rand | |
verbannen. Stattdessen aber wurde unter al-Sisi der Bau einer Tiefgarage, | |
der durch die Revolution unterbrochen worden war, nun fertiggestellt. Auf | |
fast der Hälfte der Fläche verunstalten nun große Lüftungshauben den Platz. | |
El Kadi war nach der Revolution bis 2017 Beraterin des Gouverneurs von | |
Kairo und musste mitansehen, wie die Entscheidungen über den Umbau des | |
Platzes an der Stadtverwaltung vorbei getroffen wurden. Die höchste | |
Regierungsebene riss die Zügel an sich, die Gestaltung des Tahrir wurde zur | |
Chefsache erklärt. Wenige Tage vor dem Sturz Mursis hatte sich die Armee | |
den Platz ausgesucht, um ihre Pläne im Vorfeld zu legitimieren. Zwischen | |
Panzern strömten am 30. Juni 2013 hunderttausende Menschen zum | |
Tahrir-Platz, um gegen die Präsidentschaft Mursis zu demonstrieren.[8] | |
Diese Vereinnahmung setzte sich weiterhin fort: Im Oktober 2013 fanden auf | |
dem Tahrir die offiziellen Feierlichkeiten zum „Sieg“ Ägyptens über Israel | |
im Jom-Kippur-Krieg 1973 statt. „Das war wie ein Copy-and-Paste der | |
Veranstaltungen aus der Mubarak-Zeit“, erinnert sich Elham Aidaros. „Da | |
brachte sich eine neue Diktatur in Stellung, angeführt von al-Sisi und | |
General Mohammed Tantawi, dem Vorsitzenden des Obersten Militärrats. Die | |
Macht nahm den Tahrir in Besitz und demonstrierte so, dass sie den ganzen | |
öffentlichen Raum unter Kontrolle hatte.“ | |
Einen Monat später wurden nichtoffizielle Demonstrationen verboten. Im | |
November 2013 weihte eine Handvoll Amtsträger auf einer abgeriegelten | |
Stelle des Platzes das in nur wenigen Tagen errichtete Denkmal „für die | |
Märtyrer der beiden Revolutionen“ ein. Ein paar Kilometer weiter östlich, | |
am Rabaa-al-Adawiya-Platz, wo am 14. August 2013 (laut Human Rights Watch) | |
fast tausend Anhänger Mursis der brutalen Gewalt der Sicherheitskräfte zum | |
Opfer fielen, gibt es dagegen keine Tafel zu deren Gedenken. | |
Für Ammar Abu Bakr ist das Denkmal auf dem Tahrir Ausdruck von Heuchelei. | |
Der Künstler ist einer der Urheber der berühmten Graffiti in der | |
Mohamed-Mahmoud-Straße in der Nähe des Platzes. Er hat den Alltag der | |
Revolution und die Gesichter ihrer Toten gemalt, jener Hunderten von | |
ermordeten Demonstranten, denen immer noch keine Gerechtigkeit widerfahren | |
ist. Um dagegen zu protestieren, dass sich das Regime die Erinnerung an die | |
Revolution aneignet, hat er die „Märtyrerwand“ mit einer Farbschicht | |
bedeckt, die an die Tarnkleidung des Militärs erinnert. | |
Dass die Revolutionäre die Macht über die Symbolik des Tahrir verloren | |
hatten, wurde am dritten Jahrestag der Revolution deutlich. Am 25. Januar | |
2014 feierte eine handverlesene, vom Militär flankierte Menge dort sowohl | |
den Jahrestag der Revolution als auch das Fest der Polizei.[9]Im | |
darauffolgenden Jahr war es nur noch ein kleines Häuflein Aktivisten der | |
Sozialistischen Volksallianz, die versuchten, der Revolution am Ort des | |
Geschehens zu gedenken. Während des friedlichen Demonstrationszugs tötete | |
ein Polizist die Künstlerin Shaima Sabbagh mit einem Schrotgewehr. „Sie kam | |
noch nicht mal bis zum Tahrir“, erzählt Elham Aidaros. „Die Botschaft des | |
Regimes war sehr klar: Niemand sollte sich dem Platz nähern und auch nicht | |
versuchen zu demonstrieren. Es ist aus damit.“ | |
Einen Monat nach diesem Mord wurde ein hoher Mast mit der ägyptischen | |
Flagge in der Mitte des Platzes aufgestellt. Die Ehemaligen vom Tahrir | |
nannten ihn sofort spöttisch den „Pfahl der Revolution“. Im September riss | |
die benachbarte Amerikanische Universität von Kairo eine ihrer | |
Umgebungsmauern ab und zerstörte damit fast alle Graffiti von Ammar-Abu | |
Bakr in der Mohamed-Mahmoud-Straße. So werden nach und nach die sichtbaren | |
Spuren der Revolution getilgt. | |
Die Erinnerung an die Revolution schwindet auch, weil der Sitz wichtiger | |
Regierungsinstitutionen aus dem Stadtzentrum an die Peripherie verlegt | |
wird. 2016 wurde das gefürchtete Innenministerium vom Tahrir-Platz in die | |
neue Hauptstadt verlegt, das Vorzeigeprojekt von Präsident al-Sisi, das | |
gerade im Osten Kairos entsteht. 2021 sollen weitere Behörden umziehen. | |
Gegenüber des zukünftigen Präsidentenpalasts lässt die Regierung einen | |
neuen Platz anlegen – ohne jede revolutionäre Symbolik. „Auf dem ‚Platz … | |
Volkes‘ werden Trauerfeiern mit militärischen Ehren stattfinden“, verkünd… | |
Hicham Naguib, der Pressesprecher des neuen Hauptstadtprojekts. Ohne seine | |
Regierungsgebäude werde das historische Stadtzentrum bedeutungslos, meint | |
Galila El Kadi. Denn die haben, ebenso wie die Universität von Kairo am | |
gegenüberliegenden Ufer des Nils, dem Tahrir-Platz erst Bedeutung als | |
zentralem Protestort verliehen. | |
Ammar Abu Bakr bedauert nicht, dass seine Graffiti verschwunden sind. „Sie | |
waren Teil einer Bewegung. Wenn die zu Ende ist, gibt es auch keinen Grund | |
mehr, dass sie erhalten bleiben.“ Andere Aktivisten wollen das Andenken an | |
den Ort trotzdem bewahren. Über 800 Stunden Filmmaterial hat das Kollektiv | |
Mosireen zwischen 2011 und 2014 gedreht und als „Archiv des | |
Widerstands“[10]ins Netz gestellt. „Dabei geht es um mehr als Erinnerung, | |
es geht auch um Verfügbarkeit. Es ist nicht nur ein Archiv, sondern auch | |
ein Arsenal“, sagt ein Mitglied von Mosireen. | |
Obwohl der Tahrir-Platz mehr und mehr seines politischen und | |
revolutionären Gedächtnisses beraubt wird, ist er noch immer der Ort | |
für vereinzelte symbolische Aktionen. So wie im November 2020, als ein Mann | |
sich aus Protest gegen die Korruption der Regierung selbst verbrannte. Auch | |
wenn das Regime verbissen versucht, die Geschichte des Tahrir auszulöschen | |
– er wird weiterhin als Platz des Protests gelten. | |
1↑ Name geändert. | |
2↑ Karine G. Barzegar, [1][„‚Jamais l’Égypte n’a connu de période p… | |
noire pour les droits humains‘“], TV5 Monde, 8. Dezember 2020. | |
3↑ Siehe den [2][Bericht auf der Internetseite der Ägyptischen Kommission | |
für Rechte und Freiheiten] (auf Arabisch). | |
4↑ Siehe Yezid Sayigh, [3][„Owners of the Republic: An anatomy of Egypt’s | |
military economy“], Carnegie Middle East Center, Beirut, 18. November 2019. | |
5↑ Galila El Kadi, „Die Plätze des Zorns und der Veränderung“ (auf | |
Arabisch), Amkenah,Nr. 11, Alexandria, Oktober 2014. | |
6↑ „Défier l’autorité. L’homme face au blindé“, in: Leyla Dakhli (… | |
„L’Esprit de la révolte. Archives et actualité des révolutions arabes“, | |
Paris (Seuil) 2020. | |
7↑ Mona Abaza, „Post January Revolution Cairo: Urban wars and the reshaping | |
of public space“, Theory, Culture and Society,Bd. 31, Nr. 7–8, London, 30. | |
September 2014. | |
8↑ Siehe Alain Gresh, [4][„An der Hand der Armee“], LMd, August 2013. | |
9↑ Siehe Céline Lebrun, „La révolution égyptienne au prisme de ses | |
commémorations (2011–2016)“, hg. von Assia Boutaleb und Choukri Hmed, | |
Université Paris 1 Panthéon-Sorbonne, Juni 2017. | |
10↑ Zugänglich unter [5][858.ma]. | |
Aus dem Französischen von Uta Rüenauver | |
Martin Roux ist Journalist. | |
11 Feb 2021 | |
## LINKS | |
[1] https://information.tv5monde.com/afrique/jamais-l-egypte-n-connu-de-periode… | |
[2] http://www.ec-rf.net/ | |
[3] https://carnegie-mec.org/2019/11/18/owners-of-republic-anatomy-of-egypt-s-m… | |
[4] https://monde-diplomatique.de/artikel/!461435 | |
[5] https://858.ma/ | |
## AUTOREN | |
Martin Roux | |
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