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# taz.de -- großraumdisco: Silvester in der guten Stube der Avantgarde
> Die Friese gilt als Bremens exklusivste Adresse für Untergrundkonzerte –
> für manche war das dortige Silvesterkonzert eine reine
> Familienangelegenheit
Silvester hat ja ein ziemliches Nervpotenzial. Natürlich wegen der Böller,
aber auch nicht nur. Das Amüsiergebot, der kalendarisch oktroyierte Termin,
der für einen Neubeginn stehen soll, der in der schäbigen Realität – wenn
überhaupt – höchstens ein steuerrechtlicher ist, solche Dinge eben. Und
natürlich auch die allgegenwärtige Frage: „Und? Was machst du an
Silvester?“
Die konnte ich in diesem Jahr zu meiner Zufriedenheit beantworten: Konzert
in der Friese. In direkter Nachbarschaft zur früher an Silvester schon
traditionell krawallumtosten [1][Bremer Sielwallkreuzung], zur
Bordellstraße und diversen mehr oder weniger räudigen Kneipen, ist [2][die
Friese] eine Oase der nichtkommerziellen Kultur. Der Ort wirkt von außen
eher unscheinbar, aber er ist eine enorm wichtige Einrichtung auch für
Menschen, die davon noch nie gehört haben mögen.
Hier proben [3][Bands wie Mörser], die weltweit in der Hardcoreszene einen
guten Ruf genießen. Hier traten die Sleaford Mods bei ihrer ersten
Deutschlandtour auf, die Drone-Metal-Ikonen Sunn O))) brachten die
Nachbarschaft zum Beben, Idris Ackamoors Pyramids waren hier, bevor ihr
Comeback sie in größere Hallen und auf illustre Festivals brachte.
Aber auch als Ort für marginalisierte Szenen ist das selbstverwaltete
Freizeitheim kaum wegzudenken aus der Stadt. Regelmäßig gibt es hier
Konzerte internationaler Harcorepunkbands, die gegen Kapitalismus, Nazis,
Sexismus und multinationale Konzerne pöbeln. Das Bier kostet ein paar
Euro, Ohrstöpsel sind gratis.
Dass solche Orte nicht nur immer wieder durch staatliche Sparprogramme
gefährdet sind, sondern auch durch politische Gegner, erwies sich vor knapp
vier Jahren: In der Nacht vom 15. auf den 16. Februar 2020 hatte es während
eines Konzerts einen [4][Brandanschlag auf das Freizeitheim] gegeben, die
Täter kommen allem Anschein nach aus der rechtsradikalen Szene. Noch
ermittelt die Polizei, es entstand ein Sachschaden von 200.000 Euro,
mehrere Personen erlitten Rauchvergiftungen. Danach war erst mal Schluss
mit Veranstaltungen, die Coronapandemie verlängerte die Konzertpause.
Nach der Zwangspause gehen die Dinge in der Friese nun schon seit einer
Weile einigermaßen ihren gewohnten Gang. Silvester gehörte allerdings
normalerweise nicht zu den Terminen im Kalender. Aus Gründen: Im
Steintorviertel ist erst recht zum Jahreswechsel ein Publikum unterwegs,
das sich nicht so sehr um Untergrundmusik schert. Deswegen fehlt an diesem
Abend auch der Aufsteller, der normalerweise vor der Tür auf
Veranstaltungen hinweist.
Und das Publikum besteht im Wesentlichen aus Eingeweihten. Freunden und
Freundinnen der Familie sozusagen. Und so passten alle auf den Balkon im
ersten Stock, wo um Mitternacht Crémant ausgeschenkt wurde.
Vorher hatten Sisto Rossi und Christoph Heemann musiziert. Heemann war
zwischen 1983 und 1993 eine Hälfte der Band Hirsche nicht aufs Sofa (HNAS),
arbeitete später mit Größen wie Merzbow, Jim O’Rourke, Tony Conrad und
Nurse With Wound zusammen. Der Wahlhamburger Rossi gehört zur Wahlfamilie
der Neokrautrockband Datashock und veröffentlicht seine vielschichtigen
Noise-Exerzitien mit Vorliebe auf Kassette.
Die Böller draußen fügen sich derweil fein in die faszinierenden
Klangmassive ein, die Rossi und Heemann in ihren jeweils etwa 30-minütigen
Sets aufbauen. Und weil das nun wirklich keine Musik ist, die zum Tanz
einlädt, ist der Saal gleich bestuhlt. Geraucht und gequatscht wird auf dem
Hof; Künstler, Publikum, Veranstaltende – das spielt beinahe keine Rolle.
In den Pausen legen Aktive der Chinesischen Wäscherei auf, aber auch eine
Gesandtschaft [5][des Kulturbunkers] ein paar Straßen weiter.
Die Musik schillert in den schönsten Farben, Afrika ist auf jeden Fall mit
drin, Südostasien vermutlich. Ab und zu kommen Erinnerungen hoch an jene
Februarnacht vor vier Jahren. Gut, dass es wieder weitergeht. Und schön,
dass es diesen Ort manchmal auch an Silvester gibt. Andreas Schnell
6 Jan 2024
## LINKS
[1] /!5977523&SuchRahmen=Print
[2] http://www.diefriese.de/de/
[3] /!5242630&SuchRahmen=Print
[4] /!5815819&SuchRahmen=Print
[5] https://www.kultur-im-bunker.de/
## AUTOREN
Andreas Schnell
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