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# taz.de -- Tag gegen Gewalt gegen Frauen: Eine eigene Stimme
> In der Türkei wurden dieses Jahr 302 Frauen getötet. Männer können es
> nicht ertragen, dass Frauen selbst über ihr Leben bestimmen. Ein Essay
> zum 25. November.
Bild: Virginia Woolfs „A Room of One's Own“ wird derzeit am Tiyatro Boyalı…
Judith Shakespeare war mindestens so schlau und talentiert wie William.
Doch alle Möglichkeiten, die sich William eröffneten, wurden ihr
vorenthalten. Männer lachten sie aus, weil sie forderte, das Gleiche tun zu
können wie ihr Bruder. Sie wurde vom Theater abgewiesen, zwangsverheiratet
und nahm sich aus Verzweiflung das Leben. Judith, die aus der Feder der
Schriftstellerin Virginia Woolf stammt, „liegt nun an einer Wegkreuzung
begraben, wo jetzt die Omnibusse halten, außerhalb von Elephant und
Castle“.
Im Mısır Apartmanı, einem vom armenischen Architekten Hovsep Aznavur
entworfenen Jugendstil-Gebäude auf dem İstiklal-Boulevard, wird derzeit
Virgina Woolfs legendäres Stück „A Room of One's Own“ aufgeführt. Die
feministische Theatergruppe Tiyatro Boyalı Kuş hat zu ihrem 20-jährigen
Bestehen Woolfs Text von 1929 adaptiert. In dem Saal mit hohen Decken und
Backsteinwänden im zweiten Stock des Gebäudes sind Stühle in U-Form
aufgestellt. Fast alle Zuschauer*innen an diesem Abend Mitte November sind
Frauen.
Die Inszenierung nutzt geschickt den Raum für sich. Anders als in
traditionell dunklen Theatersälen wird hier auch das Publikum beleuchtet.
Durch diese Inszenierung können die Schauspieler*innen mit den
Zuschauer*innen interagieren. Das lässt eine unmittelbare Nähe entstehen.
Das Publikum wird gemeinsam mit der Schauspielerin Gül Şener wütend auf die
Äußerung des britischen Historikers Oscar Browning, demzufolge „selbst die
beste Frau unter dem schlechtesten Mann steht, was die Intelligenz angeht“.
Mit der Schauspielerin Aslıhan Kılıç, die Judith Shakespeare spielt,
begehren die Zuschauer*innen gegen deren Zwangsverheiratung auf. Und sie
finden mit Aslıhan Aydoğan Büyükakgül, die im Stück Mary Carmicheal
verkörpert, ihre eigene Stimme.
Um über Männergewalt in der Türkei nachzudenken, muss man nicht eine Woche
vor dem 25. November, dem Internationalen Tag zur Beseitigung von Gewalt
gegen Frauen, dieses Stück gesehen haben. Virginia Woolfs Worte, die
während des Theaterstücks in unseren Ohren nachhallen, sind im kollektiven
Gedächtnis aller Frauen in der Türkei – und überall auf der Welt –
eingebrannt. Einschränkende Glaubenssätze wie „Das kannst du nicht“, „du
bist nicht genug“, „das ist nichts für dich“ bekommt jede Frau von klein
auf zu hören.
## 302 Frauen in 324 Tagen
Diejenigen, die sich weigern, auf diese Sätze zu hören, sind häufig
körperlicher und psychischer Gewalt ausgesetzt und werden in
wirtschaftlicher Abhängigkeit gehalten. Männergewalt wird zwar heute
stärker thematisiert als früher, jedoch nur in Bezug auf die letzte
Eskalationsstufe dieses Geflechts von Gewalt, die Frauenmorde.
Laut einer Statistik der unabhängigen Onlineplattform Bianet zu
Männergewalt wurden bis zum 20. November 2019 in der Türkei 302 Frauen
getötet. 64 Prozent dieser Frauen wurden von Männern aus ihrem nächsten
Umfeld umgebracht, das heißt von ihrem Partner oder Expartner. Die meisten
dieser Frauenmorde geschahen in den Wohnungen der Frauen, also in den vier
Wänden, in denen sie sich am sichersten fühlen.
Über Frauen wie Emine Bulut, die vor den Augen ihres Kindes von ihrem
Ehemann umgebracht wurde, oder Şule Çet, deren Körper mit Spuren sexueller
Gewalt aus dem 20. Stock eines Gebäudes gestoßen wurde, wird erst nach
ihrem Tod berichtet.
Männergewalt wird in türkischen Zeitungen häufig mit „Ehre“, „Bestiali…
oder „psychischen Problemen“ erklärt. Doch eigentlich richtet sich diese
Gewalt nur gegen eins: den Willen der Frau. Sie richtet sich gegen den
Entschluss der Frau, nicht die Person zu sein, die ihr Vater, ihr Ehemann
oder die Gesellschaft für sie vorsehen, sondern die sie selbst ist oder
sein will. Und gegen ihre Forderung, das Recht auf Bildung oder Arbeit zu
haben, oder schlicht, sich mitten in der Nacht sicher auf der Straße
bewegen zu können, auch wenn sie high ist. Die Gewalt richtet sich dagegen,
dass die Frau zu allen, vor allem auch zu Männern, Nein sagt und sagen
kann.
## Frauen wird nicht zugestanden, ihr Leben zu leben
Frauen werden zur Zielscheibe von Männern, weil sie das einfordern, was
ihnen zusteht. Und weil sie darauf bestehen, selbst über ihr Leben
entscheiden zu können. Um das zu verhindern, sperren Männer Frauen ein,
lassen sie nicht studieren, entzweien sie von ihrer Familie, zerstören ihre
Verbindungen zur Gesellschaft und ihre finanzielle Unabhängigkeit – und
wenn die Frau immer noch aufbegehrt, töten sie sie.
Den Frauen wird nicht zugestanden, sich weiterzubilden, zu arbeiten, sich
scheiden zu lassen. Von ihnen wird erwartet, dass sie „das Haus, das sie
mit dem Brautkleid betreten haben, im Leichentuch verlassen“. Wie viele
dieser Gewalttaten hätte es gegeben, wenn diese Frauen nach ihren Ideen,
Wünschen und Entscheidungen gefragt worden wären – und wenn ihre Antworten
so respektiert worden wären wie die von Männern?
Würde die 35-jährige Özlem Aykutluğ, die auf den Beschluss des
„Familienrats“ hin getötet wurde, weil sie sich angeblich mit Männern
getroffen hatte, noch leben, wenn ihr das Recht zugestanden worden wäre, so
zu leben, wie sie will? Wäre Nilüfer Türkoğlu noch am Leben, wenn die
Familienältesten respektiert hätten, dass sie sich von ihrem Ehemann
trennen wollte, den sie bereits vier Mal angezeigt hatte, statt sie mit dem
Mann auszusöhnen, der sie später umbringen sollte?
Wir müssen den Frauen zuhören, ihre Stimmen müssen gehört werden, die
Gründe ihres Schweigens müssen hinterfragt werden. Es ist beispielsweise
notwendig zu fragen und zu hinterfragen, warum der Regisseur des Films im
Kino, der Podiumgast im Fernsehen, der Abgeordnete Parlament keine Frau
ist, warum die Geschichten von Frauen von Männern erzählt werden und die
Stimme von Frauen unterdrückt wird. Und es muss endlich diesen Stimmen
Gehör verschafft werden, sie müssen vervielfacht werden – mit Büchern,
Filmen, Politik, Fernsehen, Sport oder mit Theater.
## Ein Symbol für Millionen von Frauen
Vor allem aber müssen Frauen ihre Stimme finden. Wo wir die Stimme der
Frauen finden können? Wenn es nach Virginia Woolf geht, finden wir sie bei
den Schriftstellerinnen, die vor der literarischen Moderne keinen Platz in
den Bücherregalen gefunden haben, bei Künstlerinnen wie Margaret Keane,
deren Werke von ihrem Mann geraubt und als seine eigenen ausgegeben wurden,
bei Marathonläuferinnen wie Kathrine Switzer, die Männer von der Strecke
drängen wollten, bei Journalistinnen wie Jane Swisshelm oder Sabiha Sertel,
die keine Essenskolumne schreiben, sondern über Politik berichten wollten.
Vor allem aber finden wir sie in den Geschichts-, Wissenschafts-, Politik-
und Kulturregalen, die gefüllt sind mit den Gedanken und der Sprache der
Männer. Die von Woolf erzählte und vom Theater Boyalı Kuş inszenierte
Judith Shakespeare lässt sich in diesen Regalen finden. Wir werden nie
wissen, ob sie eine Stimme hatte oder nicht, und deshalb werden wir auch
nie erfahren, ob sie existiert hat. Aber sie symbolisiert Millionen Frauen,
die gelebt und gefühlt haben, die vielleicht geschrieben und gesprochen
haben, ohne dass wir davon wissen.
Wie Jale Karabekir, die Regisseurin von Tiyatro Boyalı Kuş, sagt: „Wenn wir
all das heute tun können, verdanken wir das ebenso sehr den Frauen, die
nichts geschaffen haben, wie denen, die etwas hervorgebracht haben.“
Aus dem Türkischen von Elisabeth Kimmerle
25 Nov 2019
## AUTOREN
Elif Akgül
## TAGS
taz.gazete
Türkei
Internationaler Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen
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