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# taz.de -- Sergey Lagodinsky: Jetzt auch noch Mutter
> Sergey Lagodinsky kam als Flüchtling nach Deutschland, machte als Bester
> seines Jahrgangs Abitur und will nun für die Grünen ins Europaparlament.
Bild: Sergey Lagodinsky in der Heinrich Böll Stiftung
Berlin taz | Seit gestern bin ich Mutter“, hatte Sergey Lagodinsky Anfang
September auf seiner Facebook-Seite geschrieben. So reagierte der Jurist,
Publizist und Referatsleiter der Grünen-nahen Heinrich Böll Stiftung auf
die Äußerung von Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU), der die
Migration die „Mutter aller Probleme“ genannt hatte. „Eingewandert Novemb…
1993, Dr. Sergey Lagodinsky“, war das Posting unterschrieben.
Dabei ist der 42-Jährige eigentlich kein Mann, der bei jeder Gelegenheit
seinen Doktortitel herauskehrt. Aber dieser Anlass war es ihm wert.
Migranten sind auch Leistungsträger, sollte das aussagen.
Dass der gebürtige Russe 1993 nach Deutschland kommen durfte, verdankte er
einem Beschluss des runden Tischs in den letzten Monaten der DDR: Der hatte
sich angesichts des Antisemitismus in der Sowjetunion dafür stark gemacht,
dass Juden von dort zuerst in die DDR und danach ins vereinte Deutschland
einwandern durften. Zwei Wochen vor seinem 18. Geburtstag landete
Lagodinsky mit seinen Eltern als jüdischer Kontingentflüchtling in einem
Flüchtlingsheim in Schleswig-Holstein.
Der Öffentlichkeit wurde der Mann, der sich am 9. November auf dem
Bundesparteitag der Grünen um ein Mandat für das Europaparlament bewerben
möchte, erstmals 2011 bekannt. Da trat er aus Protest gegen Thilo Sarrazin
aus der SPD aus. Im selben Jahr bewarb er sich erstmals um den Vorsitz der
heillos zerstrittenen Jüdischen Gemeinde zu Berlin. Lagodinsky unterlag und
ist seitdem Oppositionsführer in der Repräsentantenversammlung der
Gemeinde.
Wenn er für die Heinrich Böll Stiftung mit politischen
Bildungsveranstaltungen durchs Land tourt oder in Talkshows spricht,
bedient er ein breites Themenspektrum. Das reicht von amerikanischer
Politik unter Donald Trump über die Abschottung der EU-Außengrenzen bis hin
zur Digitalisierung und ökologischen Problemen des Luftverkehrs.
## Zum Nichtsstun verdammt
Dabei war der heute so Umtriebige, als er 1993 nach Deutschland kam, erst
mal zum Nichtstun verdammt. Zwar hatte er ein – in Deutschland nicht
anerkanntes – russisches Abitur in der Tasche und ein Schuljahr in den USA
verlebt.
In Deutschland kam er aber wie viele Flüchtlinge über 16 Jahren, die nicht
mehr unter die Schulpflicht fallen, erst einmal aufs Abstellgleis. „Es
hieß, ich müsse acht bis neun Monate im Flüchtlingsheim auf einen
Deutschkurs warten. Welche Wege mir danach offen stehen würden, sagte mir
niemand. So eine lange Zeit Nichtstun erschien mir unvorstellbar“, erinnert
sich Lagodinsky heute.
Er brachte sich damals selbst seine ersten deutschen Wörter bei und
erklärte damit dem Direktor des nächstgelegenen Gymnasiums in gebrochenem
Deutsch, dass er an seiner Schule lernen wolle. „Der Schulleiter sah, dass
ich motiviert war, und sagte, ich soll es einfach versuchen. Dafür bin ich
ihm heute noch dankbar.“
In der Schule wurde Sergey Lagodinsky, wie er sagt, „ins kalte Wasser
geworfen“. Gleich zu Beginn musste er Fontanes „Effi Briest“ auf Deutsch
lesen. Für hoch gebildete Zuwanderer gab es damals genauso wenig wie heute
maßgeschneiderte Quereinstiegsangebote in Schulen. „Meine Mitbewohner im
Flüchtlingsheim, die noch schulpflichtig waren, landeten in der Hauptschule
und lernten dort Schulstoff, den sie in Russland schon vier Jahre zuvor
gelernt hatten“, sagt er. Für den Bewerber fürs Europaparlament steht darum
fest, dass es mehr Sozialarbeit in Flüchtlingsheimen geben muss, die
passende Angebote für die Neuankömmlinge finden.
Eineinhalb Jahre nach seiner Einschulung legte der 19-Jährige das Abitur
als Bester seines Jahrgangs ab. „Damit gehörte ich zu der Zielgruppe, die
die Schule für ein Stipendium für die Studienstiftung des deutschen Volkes
vorschlagen konnte. Meine Schule schlug andere Mitschüler vor, aber bei mir
kam niemand von allein auf die Idee. Ich musste erst nachhaken.“
## Jura in Harvard
Die Studienstiftung, bei der er schließlich angenommen wurde, ermöglichte
dem Studenten Zugang zu Netzwerken, die für seine spätere Karriere wichtig
waren. Einen Teil seiner Ausbildung konnte er in Harvard absolvieren. Gegen
den Willen seiner Eltern entschied sich Lagodinsky zum Jurastudium. „Als
Flüchtling habe ich erlebt, wie wichtig es ist, seine Rechte zu kennen, und
sie sich zu erkämpfen. Darum wollte ich Anwalt werden.“ Sein zweites
juristisches Staatsexamen brachte ihn 2003 nach Berlin, wo er erkannte,
dass Politik und Publizistik ihn noch mehr anziehen als eine
Anwaltskanzlei.
Europapolitik habe viel mit der Arbeit zu tun, die er bei der Heinrich Böll
Stiftung macht, sagt Lagodinsky. Was wäre, wenn Ungarn nicht nur die
Soros-Stiftung, sondern auch die parteinahen Stiftungen aus anderen
EU-Staaten aus dem Land drängt, die dort die Zivilgesellschaft
unterstützen? „Das können wir nur politisch ausschließen. Und wir müssen
Strukturen schaffen, die das von vornherein unmöglich machen. Wir haben in
Europa zwar eine Währungs- und eine Verteidigungsunion“, sagt er. „Aber wir
brauchen eine Rechtsstaatsunion.“
Da sehe er auch in Deutschland Defizite: „Wir kritisieren zu Recht, wie das
in Polen mit der Wahl der Richter gelaufen ist. Aber auch bei uns werden
bestimmte Richter immer noch durchs Parlament gewählt. Da haben wir ein
strukturelles Problem.“ Rechtsstaatspolitik solle sein Thema in Brüssel
werden, sagt Lagodinsky.
Anders als in anderen Bundesländern haben die Grünen in Berlin keine
Empfehlung für einen einzelnen Kandidaten für die Liste zum Europaparlament
ausgesprochen. Neben Lagodinsky wollen sich Anna Cavazzini von der
Bundesarbeitsgemeinschaft Europa, der Flüchtlingspolitiker Erik Marquardt
und die Entwicklungspolitikerin Hannah Neumann um einen Platz auf der
Bundesliste bewerben.
Berlins bisheriger grüner Europaabgeordneter, der Verkehrsexperte Michael
Cramer, tritt mit 68 Jahren nicht erneut an. Gut möglich, dass die
Hauptstadtgrünen mehrere Kandidaten auf sichere Listenplätze bekommen. Mit
Ausnahme der Abgeordneten aus den baltischen Staaten wäre Sergey Lagodinsky
der erste europäische Parlamentarier mit Wurzeln in den GUS-Staaten. „Und
wahrscheinlich bin ich dann auch der Erste, der durch ein Flüchtlingsheim
gegangen ist.“
6 Nov 2018
## AUTOREN
Marina Mai
## TAGS
Schwerpunkt Rassismus
Schwerpunkt Europawahl
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