# taz.de -- Montagsinterview Wirtschaftsprofessor Henrik Enderlein: "Wir brauch… | |
> Henrik Enderlein, Professor an der Hertie School of Governance gehört zu | |
> den profiliertesten Wirtschaftsexperten. Ein Gespräch über die Krise, | |
> Waldorfschulen und was es bedeutet, zu einer Elite-Hochschule zu gehören. | |
Bild: Mit 34 Professor und stellvertretender Dekan der Hertie School of Governa… | |
taz: Herzlichen Glückwunsch, Herr Enderlein! Sie gehören zu den wenigen | |
Gewinnern der Finanzkrise. | |
Henrik Enderlein: Wieso? | |
Seit die Börsenkurse verrückt spielen, sind Sie ein gefragter | |
Interviewpartner. Fernsehen, Radio, Zeitungen, alle wollen, dass Sie Ihnen | |
die Finanzwelt erklären. | |
Eigentlich läuft die Krise ja schon anderthalb Jahre. Aber erst im | |
September haben sich die Medien darauf gestürzt. Es stimmt: Hier klingelt | |
manchmal zehnmal am Tag das Telefon. Ich muss in der letzten Zeit auch | |
ständig Krawatten tragen, wegen der Fernsehauftritte. Das mag ich | |
eigentlich nicht so gerne. Aber als Gewinner der Krise würde ich mich | |
trotzdem nicht bezeichnen. | |
Sondern? | |
Man braucht jemanden, der den Leuten die Finanzkrise in einigermaßen | |
sinnvollen Sätzen nahebringen kann. Und da ich mich mit dem Thema seit drei | |
Jahren beschäftige - wir wussten ja alle, dass die Krise kommt -, bin ich | |
gut vorbereitet. Es ist mir auch ein Anliegen. Als Wissenschaftler freut | |
man sich doch, wenn man das, was man erforscht, vermitteln kann. | |
Ihrer Karriere schadet es sicher nicht, in der Öffentlichkeit zu stehen. | |
Wie man es nimmt. Für Professoren gibt es immer zwei Seiten: Auf der einen | |
das öffentliche Auftreten, auf der anderen das Forschungsprofil, das unter | |
den Kollegen sehr viel mehr wahrgenommen wird. Zum Forschen komme ich | |
momentan kaum noch. | |
Dann halten auch wir Sie noch ein bisschen davon ab. Was meinen Sie, haben | |
wir den schlimmsten Teil der Krise hinter uns? | |
Wir sind mit den Aktienkursen schon 40 Prozent unter den Höchstständen, es | |
wurde in den letzten Monaten enorm viel Kapital verbrannt. Ich glaube | |
nicht, dass da noch viel Luft nach unten ist. Aber die Märkte werden sich | |
auch nicht gleich erholen. Die Konsequenzen für die Realwirtschaft machen | |
sich jetzt erst bemerkbar. Jedes Licht am Ende des Tunnels hat sich in | |
dieser Krise noch als entgegenkommender Zug erwiesen. | |
Sie zeichnen ein ganz schön düsteres Bild von der Lage. | |
Persönlich bin ich eigentlich ein optimistischer Mensch. Aber es gibt | |
Momente, in denen es keinen Sinn hat, die Realität schönzureden. Hätten der | |
amerikanische Finanzminister und der US-Notenbankchef schon 2005 gesagt, | |
wie schlecht die Aussichten sind, wäre der Schaden kleiner gewesen. | |
Einerseits wollen Sie aufklären, andererseits dürfen Sie keine Panik | |
schüren, denn das würde den Finanzmärkten zusätzlich schaden. Sind Sie in | |
einer Zwickmühle? | |
Ich bin Experte, nicht Politiker. Ich sehe es als meine Aufgabe in dieser | |
Krise, Klartext zu reden. Ja, die Krise ist schlimmer als alle dachten. Und | |
sie ist auch schlimmer als die Politiker sagen. Das teile ich mit. | |
Hat sich mit der Finanzkrise Ihr Weltbild verändert? | |
Ich bin aufgewachsen mit der Idee, dass man deregulieren und den Märkten | |
mehr Aufgaben überlassen muss. Das war die vorherrschende Meinung. Ich bin | |
von Haus aus Politikwissenschaftler. Mich interessiert, wie und wo man | |
etwas politisch regulieren sollte. Im Kreis der Ökonomen bin ich da lange | |
gegen den Strom geschwommen. Jetzt merke ich: Der Strom hat sich verändert. | |
Inzwischen schwimmen auch andere Leute in meine Richtung. Die | |
Marktgläubigkeit nimmt ab. Die Rolle des Staates wird wieder wichtiger. | |
Endlich wird auch wieder über Wirtschaftspolitik gesprochen, und nicht nur | |
über Wirtschaft, für die die Politik ein störendes Element ist. Ich | |
empfinde schon eine gewisse Genugtuung. | |
Sind Ihnen auch grundsätzliche Zweifel am Kapitalismus gekommen? | |
Nein. Der Kapitalismus ist nicht perfekt, aber immer noch das Beste, was | |
wir haben. Man sollte nicht das System als solches an den Pranger stellen, | |
sondern Schranken einziehen. Das haben wir in den vergangenen Jahren | |
vernachlässigt, vor allem im internationalen Finanzverkehr. | |
Können Sie in diesen Tagen auch Marx etwas abgewinnen? | |
Marx ist einer der faszinierendsten Ökonomen, die es überhaupt gibt. Nur in | |
einem Punkt hat er sich fundamental geirrt: Die strukturellen Probleme, die | |
er im Kapitalismus erkannt hat, führen nicht automatisch zum Zusammenbruch | |
des Systems. | |
Wo würden Sie sich ordnungspolitisch einordnen? | |
Der alte Gegensatz Keynesianer versus Klassiker ist meiner Ansicht nach | |
vollkommen überholt. Ich würde sagen: Postkeynesianismus ist nun die | |
dominierende Doktrin. Wir brauchen eine aktive Finanzpolitik, die auch mit | |
einem Konjunkturprogramm interveniert, wenn das notwendig ist. Ich selbst | |
verorte mich linksliberal. Wenn es nicht so ein ausgelutschtes Wort wäre, | |
würde ich die soziale Marktwirtschaft als einen wunderschönen Begriff nach | |
vorne ziehen. | |
Wie legt ein linksliberaler Ökonom sein Geld an? | |
Ich bin in einer ganz komfortablen Situation. Ich habe mir mit meiner Frau | |
ein Haus gekauft und bin komplett verschuldet. Es gibt nichts anzulegen. | |
Herr Enderlein, Sie waren an der Sciences Po in Paris, der Columbia | |
University New York und zwischendrin bei der Europäischen Zentralbank. Mit | |
34 Jahren schon Professor - sind Sie ein Streber? | |
Süße Frage. Hm. Kein Mensch sieht sich gern als Streber. | |
Ihr Abi: 1,0. | |
Das liegt daran, dass ich vor der zwölften Klasse mit meiner Familie von | |
Tübingen nach Berlin gezogen bin. Das Bildungsgefälle zwischen | |
Baden-Württemberg und Berlin war schon sehr groß. | |
Sowohl in Tübingen als auch in Berlin waren Sie auf einer Waldorfschule. | |
Wie kommt man von der Anthroposophie zur Analyse der Finanzmärkte? | |
Waldorfschüler sind häufig die größten Kritiker der Anthroposophie. Auch | |
ich habe mich daran gerieben. Aber ich muss sagen: Ich habe auch enorm | |
profitiert von diesem Schulsystem. Die Freiheit, die Offenheit und die | |
Förderung der Kreativität - die Waldorfschule ist gut darin, die eigene | |
Neugier zu wecken. Vielleicht kommt daher auch meine Begeisterung fürs | |
Sprechen und Vortragen. In der Waldorfpädagogik ist nicht das passive | |
Lesen, sondern das Vermitteln zentral. Erst wenn ich in der Lage bin, | |
komplexe Themen frei darzustellen, habe ich sie auch wirklich gut | |
verstanden. Das lässt sich natürlich schön auf die Finanzkrise übertragen. | |
Hat die Waldorfschule auch Ihr wirtschaftspolitisches Interesse geweckt? | |
Wenn ich damals gefragt wurde, was mich begeistert, habe ich über | |
Geschichte und Politik gesprochen. Irgendwann ist mir klar geworden: | |
Politik ist ab einem bestimmten Punkt immer mit den materiellen Grundlagen | |
verbunden. Ich erinnere mich, dass ich bei meinen Eltern aus dem Schrank | |
ein Buch geholt habe mit dem Titel "Börsenkurse verstehen". Ich wollte das | |
unbedingt begreifen. | |
Haben Ihre Eltern Ihr Interesse gefördert? | |
Mein Vater saß für die FDP im baden-württembergischen Landtag, später wurde | |
er Wissenschaftsminister in Brandenburg. Ich habe schon mit fünf Jahren | |
Wahlkampf gemacht. Das Politische war beim Abendessen immer präsent. Später | |
bin ich selbst in die SPD eingetreten. | |
In Abgrenzung zu Ihrem Vater? | |
Nein. Ich glaube, mein Vater und ich, wir würden uns beide als linksliberal | |
bezeichnen. Die FDP stand früher schließlich für eine sozialere Politik. | |
Die Freiburger Thesen hätte auch ich mittragen können. | |
Sie sind Sozialdemokrat, gehören aber zur Elite des Landes. Passt das | |
zusammen? | |
Die Frage ist, wie man Elite definiert. Soziologen würden sicherlich sagen, | |
ich bin ein Teil der Elite, weil ich einen gewissen Bildungsstand und als | |
Hochschullehrer einen Sozialstatus habe. Aber ich fühle mich nicht so, als | |
würde ich zu einem exklusiven Club gehören, der irgendwelche Fäden in der | |
Hand hält. Das war auch nie mein Ziel. | |
Die Hertie School of Governance, an der Sie lehren, bildet besonders | |
talentierte Studenten zu hochrangigen Politikberatern aus - auch Sie formen | |
eine Elite. | |
Ziel unserer Schule ist es, diejenigen, die Führungsaufgaben in Ministerien | |
oder Firmen übernehmen können, so gut auszubilden wie möglich. Ich wünsche | |
mir, dass sie die Komplexität der Welt, in der wir leben, begreifen. Dazu | |
will ich beitragen. | |
Besonders durch das Verhalten der Investmentbanker ist zumindest die | |
Wirtschaftselite in letzter Zeit ganz schön in Verruf geraten. Was ist da | |
aus Ihrer Sicht moralisch schief gelaufen? | |
Gehen Sie mal nach London in einen Tradingraum einer Investmentbank. Da | |
sitzen 26-Jährige, die morgens die Boulevardzeitung Sun lesen und an den | |
großen gesellschaftlichen und wirtschaftspolitischen Zusammenhängen kaum | |
Interesse haben. Die setzen sich vor den Computer und handeln mit | |
Millionenbeträgen. Ist das eine Elite? Für mich nicht. | |
Mit diesen Investmentbankern lässt sich also nicht über Moral und Ethik | |
reden? | |
Ich würde einem Banker nie vorwerfen, dass er grundsätzlich unmoralisch | |
denkt. Banker agieren in ihrem Handlungskontext und tun das, was man von | |
ihnen erwartet. Natürlich muss man fragen, ob Persönlichkeiten wie die | |
Manager der Banken nicht irgendwann die Exzesse hätten erkennen und | |
eingreifen müssen. Aber ich finde es auch nicht richtig, daraus eine große | |
Moraldiskussion abzuleiten. Ich glaube nicht an das fundamental Gute im | |
Menschen. Wir müssen damit leben, dass die Mehrheit der Menschen | |
nutzenmaximierend und rational vorgeht. Wenn das System falsch ist, müssen | |
wir eben über das System reden und Anreize schaffen, dass es besser | |
funktioniert. | |
Wie sollte eine neue und auch gerechtere Wirtschaftsordnung Ihrer Meinung | |
nach aussehen? | |
Vor allen Dingen müssen wir anfangen, nicht nur Wirtschaft, sondern auch | |
Politik global zu denken. Ich glaube, wenn die Menschen in hundert Jahren | |
zurückschauen, werden sie das nationalstaatliche Denken als eine der | |
größten Dummheiten unserer Zeit charakterisieren. Die Problemstellungen | |
sind global, beim Klimawandel, bei den Finanzen und in vielen anderen | |
Bereichen. Eine Weltregierung wird es sicherlich so schnell nicht geben. | |
Aber dass wir uns irgendwann in diese Richtung bewegen müssen, ist für mich | |
unstrittig. | |
17 Nov 2008 | |
## AUTOREN | |
Antje Lang-Lendorff | |
Felix Lee | |
## TAGS | |
Nachruf | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Ökonom Henrik Enderlein ist tot: Europäer aus Leidenschaft | |
Wie kaum ein anderer Ökonom hat er sich für einen wirtschaftlich und | |
finanzpolitisch geeinten Kontinent eingesetzt. |