# taz.de -- Montagsinterview: Prime Lee alias Le Van Bo, Kommunikator: "Ich ste… | |
> Der Kommunikator Le Van Bo ist ein großer Optimist. Der einstige | |
> Hiphopper aus dem Wedding und heutige Architekt will die Welt verschönern | |
> und Mut machen. Deshalb hat er auch den Hartz IV-Sessel entworfen: Die | |
> Bauanleitung gibts kostenlos im Internet. | |
Bild: Prime Lee | |
taz: Herr Van Bo, Sie sagen, Sie wollen der Gesellschaft etwas zurückgeben. | |
Wofür? | |
Le Van Bo: Ich bin 1979 als Flüchtlingskind nach Deutschland gekommen. | |
Meine Eltern flohen in der Zeit, als Laos kommunistisch wurde. Für mich war | |
gar nichts selbstverständlich hier. Alles, was ich in Deutschland gelernt | |
habe - in der Schule, auf der Straße, ja sogar beim Zivildienst -, war | |
immer wie ein Geschenk. | |
Sind Ihre Eltern Intellektuelle und mussten deshalb aus Laos fliehen? | |
Meine Mutter ist Schneiderin, mein Vater Elektroinstallateur. Von ihm habe | |
ich, glaube ich, den Mut, neue Wege zu gehen. Er hat sich in seinem Pass | |
den Namen Sternschnuppe eintragen lassen. Hier weiß man ja nicht, dass seng | |
strahlen heißt und dao Stern. | |
Warum hat Ihr Vater das gemacht? | |
Er war immer auf der Suche nach Identität. Er wurde von Chinesen ausgesetzt | |
und in Laos von Laoten großgezogen. Er behauptet, er sei Chinese. Ich denke | |
aber, er ist Laote mit chinesischem Migrationshintergrund. Er hatte ein | |
Elektrogeschäft. Das hat er Sternschnuppenelektronik genannt. Und als er | |
dann nach Deutschland kam, sagte er: "Ich heiße Sternschnuppe." Er hat sich | |
immer wieder eine neue Identität gegeben. Für mich ist es bis heute nicht | |
anders. Deshalb interessiert mich auch, was diese Stadt zu bieten hat - | |
weil sie mir Antworten gibt auf meine Fragen, wer ich bin und was ich hier | |
soll. | |
Wie schafft es Berlin, Ihnen Antworten zu geben? | |
Schauen Sie sich nur die Architekturgeschichte an oder die Innovationen, | |
die es hier gab. Ganz viele sind aus Deutschland und Berlin. Sogar die | |
politischen Systeme - von Sozialismus, Kommunismus, Marxismus bis hin zum | |
Faschismus, das ist ja fast alles: made in Germany. Auf die Spuren von all | |
dem begebe ich mich. Und ich merke, es gibt hier offensichtlich etwas wie | |
ein historisches Wissensgut, und es ist kostenlos. Jeder, der will, kann | |
dieses Erbe an Wissen, an Errungenschaften einatmen. | |
Können Sie das anschaulicher erklären? | |
Vor Kurzem war ich in der Amerika Gedenkbibliothek in Kreuzberg. Dort sind | |
mir die Stühle aufgefallen: Hey, die kommen dir bekannt vor. Ich habe mich | |
mit der Geschichte von Stühlen sehr intensiv beschäftigt, deshalb weiß ich, | |
dass diese Stühle von einem der wichtigsten Nachkriegsarchitekten entworfen | |
wurden, Egon Eiermann, der auch das Ensemble um die Gedächtniskirche | |
geplant hat. Er war einer der Ersten, die wieder an das Bauhaus angedockt | |
haben. An die Nüchternheit, an die Moderne, an das Konzept von "form | |
follows function". | |
Wie war das, als Sie diese Stühle in der Bibliothek entdeckten? | |
Ich fand das toll. Ich fragte, ob ich einen Stuhl kaufen kann. Da hat mich | |
die Bibliothekarin entgeistert angeguckt: "Was? Diese hässlichen Stühle? | |
Die würde ich nicht mal nehmen, wenn man sie mir nachwerfen würde", sagte | |
sie. Da wurde mir klar: Wenn man sich nicht mit den Dingen | |
auseinandersetzt, kann man sie auch sehr hässlich finden. | |
Sie haben rausgekriegt, dass es offensichtlich nicht um den Stuhl, sondern | |
um das Wissen um den Stuhl geht. Aber wie kriegen Sie jetzt wieder den | |
Bogen zur Stadt, die Ihnen Antworten bei Ihrer Identitätssuche gibt? | |
Den Stuhl kann sich nicht jeder leisten. Aber das Wissen um den Stuhl, das | |
bekommt jeder. Das ist kostenlos. Alles ist also nur eine Frage der | |
Perspektive. Wenn man sich das Wissen aneignet, entwickelt man eine andere | |
Beziehung zu den Dingen, und dann fängst du auf einmal an, diese Dinge zu | |
lieben. Auch banale Dinge. Einen Stuhl eben, der zigfach in irgendwelchen | |
Konferenzsälen und auch in der Amerika Gedenkbibliothek steht. | |
Wer sich in Beziehung setzt zu den Dingen, dockt leichter in einer | |
Gesellschaft an - ist das die These? | |
Ja. Auf jeden Fall entdecke ich in Berlin überall etwas. Zum Beispiel auch | |
Straßenzüge, Stadtarchitektur. Ich habe vor Kurzem entdeckt, dass ein Teil | |
von Rom in Berlin steckt. Eine ganz wichtige Stadterweiterung aus dem 18. | |
Jahrhundert - der Mehringplatz mit dem Rondell und den Straßen, die | |
sternförmig davon abgehen - ist fast eins zu eins der Piazza del Popolo in | |
Rom nachempfunden. Das heißt doch, ein bisschen Rom steckt auch in unserer | |
Stadt. Man muss gar nicht nach Rom, um dort Urlaub zu machen. So was | |
schenkt einem die Stadt, wenn man sich auf sie einlässt. | |
Reden Sie sich die Dinge nicht schön? | |
Und wenn schon?! | |
Stühle sind für Sie sehr wichtig. Auf Ihrer Website kann man sich den | |
Bauplan für einen Stuhl - den 24-Euro-Sessel - herunterladen. Was steckt | |
dahinter? | |
Eigentlich war das auch so ein Glücksfall. Ich wollte etwas tischlern - | |
also richtig tischlern mit Holzverbindungen und nicht einfach nur | |
zusammennageln. Da habe ich ein einfaches Design entworfen. Form follows | |
function. Das Holz lässt man sich aus einem Standardbrett zuschneiden. Dann | |
braucht man noch ein paar Teppichgurte und zwei Kissen. Das Ganze kostet | |
ungefähr 24 Euro und ist in 24 Stunden fertig. So entstand der | |
Hartz-IV-Sessel - ein hochwertiges Designmöbelstück mit einem Mehrwert. | |
Welchem? | |
Wenn man etwas selbst gemacht hat und es gelungen ist, fühlt man sich gut. | |
Außerdem fördert es die Kommunikation, weil sich der, der keine | |
Holzverbindungen kann, Hilfe beim Tischler holen muss. Und wenn man zwei | |
von den Sesseln baut, kann man jemanden einladen und sich unterhalten. Ich | |
versuche mit dem, was ich kann, die Leute zu ermutigen, ein bisschen mehr | |
zu machen aus dem, was da ist. | |
Ist Mutmachen Ihre Art, der Gesellschaft etwas zurückzugeben? | |
Ich weiß nicht, ob es Ihnen aufgefallen ist, aber es gibt so ein latentes | |
Unglücklichkeitsgefühl. Viele Menschen - nicht nur Hartz-IV-Empfänger - | |
wissen nicht so recht, wohin mit sich. Und ich glaube, was dahintersteckt, | |
ist die Suche nach einer Aufgabe oder nach Identität. Ich will den Leuten | |
Möglichkeiten zeigen, wie man sich besser fühlen kann. | |
Woher kommt denn dieser Wunsch? | |
Ich habe selbst immer Vorbilder gehabt, die mich gefördert haben. Die haben | |
mich dazu gebracht, positiv zu denken. Ich sag halt: Yes you can, du kannst | |
es schaffen. Aber die, die mit meinem Optimismus nichts anfangen können | |
sagen: No, nicht jeder can. Du hast halt Glück gehabt, Le Van Bo. Aber ich | |
weiß nicht, ob das alles nur Glück ist. Ich habe auch viel dafür getan. | |
Heute sind Sie Architekt. Hätte Ihr Leben auch anders verlaufen können? | |
Ja klar. Ich war ja in der HipHop-szene in Berlin aktiv. Da sind auch | |
einige gestorben, weil sie zu viel Drogen genommen haben. Oder beim | |
S-Bahn-Surfen damals sind manche gegen einen Mast geknallt. Ich lag auch | |
schon mal unter der S-Bahn bei irgendeiner Aktion. Das hätte danebengehen | |
können. | |
Es gab also eine wilde Phase? | |
In der Pubertät bin ich nachts losgezogen, und es war immer das Gleiche: | |
Ich wollte jemand sein. Ich wollte bekannt und berühmt sein. Beim HipHop | |
ist das Grundmotiv Fame: berühmt werden, der King sein auf der Straße. Man | |
schreibt nicht umsonst nur seinen Namen an die Wand und keine Botschaften. | |
Ihr Name als Sprüher war Prime? | |
Ja, Prime, der Erste. Von Optimus Prime, dem Transformer, dem | |
Spielzeugroboter, dem guten Helden. Ich habe auch immer an das Gute | |
geglaubt. Es gibt viele böse Sprüher, die andere übersprühen und Battle - | |
Wettkämpfe - anzetteln. Das war nicht mein Ding. Ich war kein | |
Scheibenritzer. Von Drogen habe ich auch die Finger gelassen. Ich wusste | |
immer, wo meine Grenzen sind. Ich wollte die Welt verschönern. Gut, die | |
Farben - früher habe ich wie ein Schlot geklaut. Diese ganzen Sprühdosen, | |
die konnte ich nicht bezahlen. Die meisten habe ich geklaut. Ich wurde zum | |
Glück nie erwischt. Aber beim Sprühen wurde ich oft erwischt. Da habe ich | |
meine erste Erfahrung mit Gewalt gemacht. Ich wurde einmal schwer vermöbelt | |
von Polizisten. Da war ich richtig erschüttert. | |
Sie sind im Wedding groß geworden. | |
In meinem Umfeld gab es auch sehr viele traurige Geschichten. Da war einer, | |
der fand Nazisprüche und Hitler plötzlich gut. Wir haben uns eigentlich gut | |
verstanden auf dem Hof. Alle. Da waren auch ziemlich viele Türken darunter. | |
Es gab halt so ein Fasziniertsein von verbotenen Dingen. Einige wurden | |
Neonazis, einige wurden Rocker, einige wurden Alkoholiker oder | |
Heroinabhängige, einige kamen in psychiatrische Behandlung. Ein Mädchen | |
wurde von seinem Freund umgebracht. | |
Das sind Ihre Jugendgeschichten? | |
So bin ich aufgewachsen in der Hochstraße am Humboldthain. Aber was wieder | |
schön war, das war der Schlagzeugunterricht an der Humboldt-Grundschule. | |
Kostenlos - das war wieder so ein Geschenk. Ich hab da ein Rhythmusgefühl | |
gelernt. Und Architektur hat sehr viel mit Rhythmus zu tun. | |
Noch mal zurück zum Mutmachen. Wird Ihre Mission verstanden? | |
Warum nicht? Warum soll man das Schöne nicht verstehen? Ich stelle mir | |
Berlin wie eine Spielwiese vor und versuche, mich da auszutoben. Wenn ich | |
einen Baum mit Früchten sehe, sage ich allen Leuten, geht doch zu dem Baum | |
mit den Früchten und lasst euch zu essen geben, weil die Äpfel wahnsinnig | |
lecker schmecken. | |
Was heißt das im übertragenen Sinn? | |
Ich versuche den Weg, den ich selber gegangen bin, anderen zugänglich zu | |
machen. Ich weiß, dass viele das gar nicht wollen. Sie bleiben in ihrem | |
Gebüsch hocken und schmollen. Das ist auch ein Konzept. Meines dagegen ist: | |
Wenn man sich auf seine Umwelt einlässt, bekommt man ganz viel geschenkt. | |
Deshalb entwickeln Sie auch die Hartz-IV-Möbel und haben einen Verein | |
mitgegründet, der Kiez-Tank-Stelle heißt. Wie tanken Sie den Kiez auf? | |
Wir machen zum Beispiel die Schooltalks. Das ist eine Talkshow an einer | |
Weddinger Schule. Ich moderiere das als Talkmaster und lade | |
Persönlichkeiten ein, die ähnliche Hintergründe wie die Schüler und | |
Schülerinnen haben, damit sie sich mit ihnen identifizieren können. Das | |
sind alles Leute, die was Interessantes machen. Einen interessanten Job | |
haben, bekannt sind aus dem Fernsehen oder Kino oder von YouTube. Oder es | |
sind Leute aus dem Kiez, die was Mutiges gemacht haben, für das sie | |
Anerkennung verdienen. | |
Dieses Jahr waren etwa ein Theatermacher mit griechischen Wurzeln aus dem | |
Wedding, eine Moderatorin mit eriträischem Hintergrund und ein | |
polnischstämmiger Buchautor da - alles Leute, die etwas erreicht haben, von | |
dem die Jugendlichen nur träumen können. | |
Woher wissen Sie, dass sie das nicht auch erreichen werden? Nicht jeder | |
kann Bundeskanzlerin werden oder Moderator bei MTV. Aber jeder kann lernen, | |
sein Mundwerk zu benutzten. Jeder kann lernen, zu präsentieren oder sich so | |
durchzubeißen wie Angela Merkel. Ich glaube, das Glück in Deutschland wird | |
viel zu sehr an harten Faktoren gemessen. | |
Welchen? | |
Wie viel Geld verdienst du? Welchen Job hast du? Wie heißt dein Beruf | |
eigentlich? Aber um glücklich zu sein, muss man die Frage nach den | |
Lebensentwürfen stellen. Wie muss man leben, damit man glücklich wird? | |
Viele haben ja die Vorstellung, dass man nach einem bestimmten Muster leben | |
muss: Schule, Ausbildung, Familie und in die Rentenkasse einzahlen. Die | |
Gäste, die ich eingeladen habe, sind ganz oft aus diesem System | |
ausgeschert. Das kann ganz viel bewirken, wenn die Jugendlichen das sehen. | |
Bei den Schooltalks wurde auch deutlich, dass da Jugendliche sitzen, die | |
gar nicht begriffen haben, dass sie Teil einer Gesellschaft sind. | |
Sie begreifen ja noch nicht einmal, dass sie Teil einer Stadt sind. Man | |
kann so krasse Sachen erleben. Neulich hat ein Bekannter erzählt, dass | |
seine Nachbarin bei ihm Hilfe gesucht hat, weil sie eine Stromnachzahlung | |
hatte. Da stellte sich raus, sie wusste gar nicht, dass heißes Wasser Geld | |
kostet. Die Zusammenhänge sind den Leuten nicht klar. Viele denken auch, | |
ich kann meinen Müll einfach auf die Straße stellen. Es gibt ja jemanden, | |
der das aufhebt. Und es gibt tatsächlich jemanden, der es aufhebt. Aber das | |
kostet ja alles Geld. Die Leute verlieren immer mehr den großen Überblick | |
über die Dinge und über sich. | |
Da wollen Sie aufklären und der Gesellschaft auf diese Weise etwas | |
zurückgeben? | |
Man kann nur zurückgeben, wenn man das Gefühl hat, man hat etwas bekommen, | |
was großartig ist. Nur dann. Und ich finde Berlin großartig. Ich bin mir | |
sicher, wenn die Stadt eine Person wäre, würde sie mich lieben. | |
7 Jun 2010 | |
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