| # taz.de -- Kolumne Das Schlagloch: Nietzsche für Anfänger | |
| > Lest Ayn Rand, die Schutzheilige der Tea-Party, und versteht das neue | |
| > Amerika. Oder ihr guckt Woody Allen. | |
| In Woody Allens neuem Film "Midnight in Paris" braucht Owen Wilson gerade | |
| einen Satz, genauer: einen Nebensatz, um die Tea-Party-Bewegung verbal zu | |
| vernichten. Mehr haben Allen/Owen zur geistigen Lage der Nation nicht zu | |
| sagen, und er wartet nun genussvoll auf den alten Renault, der ihn Nacht | |
| für Nacht mitnimmt in ein anderes Paris, zu ganz anderen Amerikanern auch: | |
| den Fitzgeralds, Hemingways, zu Gertrude Stein. | |
| "Midnight in Paris" ist ziemlich erfolgreich, sogar in Amerika. | |
| Normalerweise können die Amerikaner mit Allen nicht viel anfangen, oder | |
| sollten sie - auf dem plötzlich schwankenden Boden ihrer Selbstgewissheit - | |
| tatsächlich Melancholiker geworden sein? | |
| Nicht dass die Fitzgeralds und Hemingways und Steins wirklich wichtig | |
| gewesen wären. Auf die Umfrage der Library of Congress, welches Buch ihr | |
| Leben verändert hätte, nannten die meisten die Bibel, Platz zwei belegte | |
| "Atlas Shrugged" von Ayn Rand. - Atlas was? Und wer, um Himmels willen, ist | |
| Ayn Rand? | |
| Ihre Auflagen haben die 25 Millionen überschritten, aber bei uns hat von | |
| der Gewährsfrau des amerikanischen Selbstverständnisses kaum einer gehört. | |
| Das ist seltsam. Das ist leichtsinnig, denn man sollte die geistigen | |
| Grundlagen seiner Nachbarn kennen, erst recht, wenn es sich dabei | |
| gewissermaßen um die geistigen Grundlagen der modernen Welt handelt. Ayn | |
| Rand, die Schutzheilige der Tea-Party-Bewegung. Selbst Alan Greenspan ist | |
| bekennender Ayn Randler. | |
| ## Ignoranz durchbrochen | |
| Und wie aufopferungsvoll hat das Ayn Rand Institute gegen Obamas | |
| Gesundheitsreform gekämpft! Der Radiomann Jürgen Kuttner und sein | |
| Regiekollege Tom Kühnel haben die Ignoranz nun durchbrochen. An den | |
| Kammerspielen des Deutschen Theaters in Berlin. Premiere war genau am 11. | |
| September. Auf dem noch geschlossenen Vorhang: die Skyline von New York bei | |
| Nacht, es ist eine schöne alte Filmaufnahme voller bewegter Lichter. | |
| Und man dachte sofort an Heiner Müller, der Manhattan einen der größten | |
| Irrtümer der Menschheit nannte. Hier aber bekennt eine Frauenstimme, für | |
| einen Blick auf die Skyline von New York noch den schönsten Sonnenuntergang | |
| herzugeben. Denn auf dieser Insel sei ins Bild gebracht, was Menschen | |
| vermögen. Ungefähr so hatte einst der Futurist Marinetti dekretiert, ein | |
| Rennwagen sei viel schöner als die Nike von Samothrake. | |
| Man muss das verstehen, Marinetti kam aus einem mit Altertümern | |
| vollgerümpelten Land, in dem nichts weiter passierte, als dass Briten und | |
| Amerikaner an Statuen vorbeizogen, denen noch dazu oft Beine oder Arme | |
| fehlten, und abwechselnd Ahhh! oder Ohhh! sagten. - Ayn Rand, die | |
| Manhattan-Enthusiastin aus St. Petersburg, Kind deutschstämmiger Juden, | |
| eigentlich Alissa Sinowjewna Rosenbaum, hat dann noch etwas über Manhattan | |
| gesagt: Dass sie ihre Arme wie ein Schutzschild darüber breiten möchte, um | |
| es zu schützen, für den Fall eines Angriffs. Das muss Ende der Siebziger | |
| gewesen sein. | |
| ## "Die meisten sind Nieten" | |
| Ein wahrhaft gespenstisch-prophetischer Auftakt. Und die Skyline von | |
| Manhattan führte mitten hinein ins Stück um einen Architekten und sein | |
| Werk. Kuttner und Kühnel haben Rands zweiten Roman "The Fountainhead" auf | |
| die Bühne gestellt. Rand hat hier ihr Ideal eines Menschen entworfen. Und | |
| das ist der Sich-selbst-Entwerfende, Howard Roark, Architekt, "Prime | |
| Mover". Die Gesellschaft zerfällt für Ayn Rand in die "Prime Mover" und die | |
| "Second Hander", in die Macher und die Schmarotzer. | |
| Nicht dass Ayn Rand leicht überführbar wäre. Ihre Sprache ist ihrem | |
| Plädoyer durchaus gewachsen: "Ich dachte, Sie würden in meinem Haus | |
| deplaziert wirken, aber es war anders, Sie sagen: das Haus wirkte | |
| deplaziert", gesteht eine Dame der Gesellschaft dem Architekten und | |
| Superman Roark. Und verhält es sich mit den Häusern nicht geradeso wie mit | |
| den Menschen: "Es gibt Häuser, die sind Angeber, andere sind Feiglinge, die | |
| meisten sind einfach nur Nieten." - Ein Blick in unsere Städte bestätigt | |
| diese Wahrnehmung ganz und gar. Und sollte dieses architektonische | |
| Second-Handertum nicht genau mit der stetigen Zunahme der von Ayn Rand | |
| benannten zweiten Hauptgruppe der Menschheit zu tun haben? | |
| ## Sie sagen: Mit mir nicht! | |
| Was diesen Theaterabend stark macht, ist die Selbstverständlichkeit, mit | |
| der er auf Wegen denkt, die wir normaltemperierten Denker der Humanität | |
| überhaupt zu betreten uns längst versagt haben. Nun muss bei Kuttner | |
| niemand Angst haben, in ein Oberseminar gesperrt zu werden, im Gegenteil! | |
| Die Bühne von Jo Schramm zeigt, wie man aus einem einzigen riesigen Dollar | |
| ein Haus machen kann, das sich bewohnen lässt. Welch futuristische | |
| Architektur! Und alle Mitwirkenden des Architektendramas scheinen | |
| geradewegs aus einem drittklassigen Hollywood-Film geborgt und beweisen, | |
| dass nichts so originell sein kann wie die Kolportage. All das trägt leicht | |
| fort, sodass eigentlich alle die Crux des Abends, seine falsche Suggestion | |
| übersehen haben. "Capitalista, Baby!" heißt das Stück bei Kuttner, und der | |
| Dollar ist seine Ikone. Aber genau das ist Unsinn. | |
| Es geht hier nicht um Kapitalisten und um den Kapitalismus. Es geht um | |
| einen Architekten, der sich der Verwertungslogik im Interesse seines Werks | |
| gerade verweigert. Es geht um einen Außenseiter, einen Mit-mir-nicht-Sager, | |
| nicht um die neoliberalen Herdenmenschen, wie sie vorzugsweise unter | |
| Manhattans Himmel wohnen. Es ist das Drama eines Künstlers. Bücher können | |
| die Welt verändern, sogar die Amerikaner? | |
| Was für ein Missverständnis. Ayn Rand hat Nietzsches Bild des großen | |
| Einzelnen und der Herdenmenschen aufgenommen, seinen Affront gegen das | |
| Mitleid, sein Pathos, seine Apologie des Künstlers. Und natürlich die | |
| Einsicht, dass sich die Menschheit, wenn überhaupt, so doch nur in ihren | |
| höchsten Exemplaren rechtfertige. | |
| Ayn Rand - das ist Nietzsche für Anfänger und Amerikaner. Woody Allen, wohl | |
| noch immer der größte Philosoph Manhattans, hat einen Blick für solche | |
| Dinge. | |
| 28 Sep 2011 | |
| ## AUTOREN | |
| Kerstin Decker | |
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