# taz.de -- Kolumne Das Schlagloch: Wie das Volk zählt | |
> Die Deutschen werden immer weniger. Ist das nicht eine gute Nachricht, wo | |
> die Welt doch immer voller wird? | |
Bild: Ziemlich voll hier: 2100 werden über zehn Milliarden Menschen auf der We… | |
Was ist Fortschritt, was ist Menschenglück auf Erden? Das progressive 19. | |
Jahrhundert sagte: Es liegt in der größtmöglichen Wohlfahrt der | |
größtmöglichen Zahl. Und ist es, sozialdemokratisch gedacht, nicht sehr | |
schön, dass immer mehr Menschen sich etwa an einem Mai wie diesem freuen | |
können? Das größtmögliche Glück der größtmöglichen Zahl also. Aber wie | |
viele sind das genau? | |
Dieser Tage werden die Deutschen gezählt. Die Statistiker kennen das | |
Ergebnis schon vorher: Wir sind noch weniger, als wir bislang dachten. Die | |
Politiker zeigen sich besorgt. Aber ist es nicht eine gute Nachricht, wenn | |
die Masse im Massenzeitalter abnimmt? | |
Alles ist relativ, gewiss. Aber meist hält man schlicht das für normal, was | |
in der Kindheit normal war. Menschen sind so. Im Falle eines DDR-Geborenen | |
gehört dazu, dass das Professorenkind mit den Nachkommen der Küchenhilfe | |
befreundet ist, nicht wegen der vorsätzlichen sozialen Gleichmacherei, | |
sondern weil es keine Indikatoren dagegen gab. Alles andere wäre nicht | |
normal gewesen. | |
Normal war für die um 1960 Geborenen weiterhin, dass die Menschheit 4 | |
Milliarden Mitglieder hat. So haben wir es in der Schule gelernt und | |
eigentlich nur behalten, weil das so ungeheuer viele waren. Und nun sind | |
wir, die Massen der Erde, zwangsvereinigt auf diesem Planeten, bald 7 | |
Milliarden. Das ist nicht normal. Und im Jahre 2100 werden wir mehr als 10 | |
Milliarden sein. Die Weltgesundheitsorganisation hat ihre Prognose soeben | |
korrigiert, nach oben. | |
10.100.000.000 Menschen. Es gibt nicht viele Vorteile, nicht mehr am Leben | |
zu sein, aber einer wurde mir bei dieser Nachricht klar: Glücklich, wer | |
nicht mehr dabei sein muss. | |
## Angewidert vor der Masse | |
Die großen Egoisten des 19. Jahrhunderts sahen das schon genauso. Sie | |
fürchteten sich vor uns. Zur Goethezeit, um 1800, zählten die Deutschen | |
noch 25 Millionen, um 1900 würden es 68 Millionen sein; Tendenz offen. | |
Die Menschheit ist der Aussatz der Erde, befand der große Skeptiker Arthur | |
Schopenhauer, angewidert von der eigenen Spezies. Und Friedrich Nietzsche | |
schloss aus dem Anwachsen der größtmöglichen Zahl, deren größtmögliches | |
Glück er nicht wünschte, dass der Sinn der Geschichte unmöglich an deren | |
Ende, sondern in ihren höchsten Exemplaren liegen müsse. | |
Bemerkenswert ist, dass der Theoretiker der Bevölkerungsexplosion Thomas | |
Robert Malthus seine hellsichtigen, lebenskalten Thesen bereits 1798 | |
aufstellte, als es, wie gesagt, erst 25 Millionen Deutsche gab. Auch die | |
Bevölkerung seiner prosperierenden Heimatinsel wuchs noch durchaus | |
verhalten, doch der Zukunftsfühlige war alarmiert. Sie wuchs! Krankheiten, | |
Seuchen und Katastrophen schienen ihre im Schöpfungsplan vorgesehene Arbeit | |
einstellen zu wollen: Bevölkerungsregulierung. | |
## Wohlstand als Verhängnis | |
So war der wachsende Wohlstand Englands statt der Lösung Teil des Problems: | |
Zwar mied dieser Wohlstand - absolut gesehen - das Volk, so gut er konnte, | |
und doch wurden - relativ gesehen - immer mehr Menschen satt, was nach | |
Malthus nur eins bewirken kann: den Untergang. Denn das Volk vermehrt sich | |
blindwütig, ja mathematisch gesehen exponentiell. | |
Aufs Weltganze gesehen, scheint der weltweit erste Professor für Politische | |
Ökonomie recht behalten zu wollen. Dies ist keine Behauptung, sondern die | |
Formulierung eines Anscheins. In einem intellektuell genügsamen | |
Gemeinwesen, in dem Wortgruppen wie Fakten! Fakten! Fakten! schon als | |
Wahrheitsbegriff durchgehen, scheint diese Betonung sinnvoll. | |
Nichts kann mehr täuschen als die vermeintlichen Fakten. Das Bild beginnt | |
zu oszillieren, zwischen gestern und heute und morgen. Und führt die | |
US-amerikanische Gegenwart nicht gerade Selbstverständigungsdiskussionen | |
auf Malthus-Art? Was soll mit einem Menschen geschehen, den seine Familie | |
nicht ernähren kann oder dessen Arbeit die Gesellschaft nicht nötig hat? | |
Malthus: "Dieser Mensch hat nicht das mindeste Recht, irgend einen Teil von | |
Nahrung zu verlangen, und er ist wirklich zu viel auf der Erde. Bei dem | |
großen Gastmahle der Natur ist durchaus kein Gedecke für ihn gelegt. Die | |
Natur gebietet ihm abzutreten, und sie säumt nicht, diesen Befehl zur | |
Ausführung zu bringen." | |
Aber die Wissenschaft war keineswegs bereit, alles der Natur zu überlassen. | |
Sie schuf eine neue Disziplin, die "Bevölkerungsökonomie". Ihr Vokabular | |
klingt vertraut, ganz wie die noch uns gebräuchliche Sprache der | |
wirtschaftlichen Optimierung und Effizienz, nur dass es hier um das | |
"Bevölkerungsoptimum" und die "Bevölkerungseffizienz" ging. Man musste | |
nicht Anhänger Adolf Hitlers sein, um so denken, nur ganz Kind seiner Zeit. | |
## Fehlprognosen der Dichter | |
Die Dichter dagegen sprachen, was in der Luft lag, diese neue Härte, die | |
entzogene Gotteskindschaft mehr von innen her aus - Arthur Schopenhauer, | |
der das Mitleid zur philosophischen Kategorie erhob, und Friedrich | |
Nietzsche, der vielleicht als Erster die Kindheit fürs Denken entdeckte, | |
ausdrücklich eingeschlossen. Die Dichter erkannten zuerst, was nun künftig | |
wohl jeder ist: "überzähliges Dasein", wie Rilke sagt. "Mein Leben ist | |
Zögern vor der Geburt", bekennt Kafka. | |
Nur eines hielten sie alle für unveränderlich. Nietzsche: "Das Weib hat zu | |
gebären, und ist deshalb zum besten Berufe des Menschen da, als Pflanze zu | |
leben." Weiter, da waren sie alle einig, würde es dieses Geschlecht nicht | |
bringen. Die Schwangerschaft als Kardinalzustand habe seinen Charakter über | |
die Jahrhunderte festgestellt. | |
Das war vielleicht die größte, die stillste, übersehenste Revolution des | |
letzten Jahrhunderts: der lautlos erbrachte Nachweis, das alles am Weibe | |
nicht nur eine Lösung hat, die Schwangerschaft (Nietzsche). Und warum | |
sollte das nicht weltweit gelten? | |
Wirklichkeit - das Wort sagt es -, ist nicht das Gegebene, sie ist gewirkt. | |
Viele sich überkreuzende Fäden führen in die Zukunft. Die Frage ist nur, | |
welcher an der entscheidenden Schwelle stark genug sein wird. Und der | |
Wohlstand fürs Volk, vor dem sich Malthus so fürchtete, ist Bedingung der | |
Zukunft statt ihre Verhinderung. | |
11 May 2011 | |
## AUTOREN | |
Kerstin Decker | |
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