| # taz.de -- Katastrophe in China: Herr Chen erlebt ein Beben | |
| > Auf dem Weg in die Stadt sieht Chen Zhidong das zerstörte Dujiangyan - | |
| > und die Offenheit Chinas im Umgang mit Katastrophen. | |
| Bild: Anblick wie nach einem Luftangriff: Chinesische Stadt Mianyang nach dem E… | |
| Chen Zhidong ist Maler, klassischer chinesischer Tuschzeichner. Er wohnt in | |
| Chengdu, der Hauptstadt der westchinesischen Provinz Sichuan und arbeitet | |
| in Dujiangyan, der am schwersten vom Erdbeben betroffenen Großstadt mit | |
| 600.000 Einwohnern, 60 Kilometer nordwestlich von Chengdu. Gestern | |
| Nachmittag fährt Chen seinen kleinen dunkelgrünen Citroën in die | |
| Erdbebenstadt. Die neue Autobahn ist gesperrt - für eine unendliche | |
| Schlange von Krankenwagen, Hilfs-Lastern und Baggern. | |
| Chen nimmt die alte Landstraße. Um vier Uhr erreicht er die Stadt. Er ist | |
| überrascht, dass ihn keine Sperren erwarten - obwohl es von Soldaten, | |
| Polizisten und Feuerwehrleuten wimmelt. Niemand hält Chen auf dem Weg zu | |
| seinem Atelier auf. Er fährt durch Straßen voller Zelte, unter denen sich | |
| die Menschen vor dem Regen schützen. Schon seit Mitternacht regnet es in | |
| Strömen. Niemand wagt aus Angst vor Nachbeben, ein Haus zu betreten. Alle | |
| bleiben im Freien, auf Bürgersteigen, unter Bäumen, in den Parks. Die | |
| Wohlhabenden schlafen in ihrem Auto. Die meisten Neubauten am Standrand | |
| sind unversehrt. Doch je näher Chen der Stadtmitte kommt, desto größer | |
| werden die Verwüstungen. Die Holzbauten der Altbauviertel sind völlig | |
| zerstört. "Wie Trümmer nach einem Krieg", denkt Chen laut, "hier muss es | |
| viele Tote und Verletzte geben." Er hält seinen Wagen nicht an. Er umfährt | |
| den Stadtkern, der als einziger Teil der Stadt abgesperrt ist. Er sieht die | |
| Ruinen der Schule, in der 900 Kinder begraben wurden. Ein altes, bekanntes | |
| Krankenhaus gegenüber der Schule liegt ebenfalls in Trümmern. Hier sind die | |
| Bergungsarbeiten in vollem Gang. Anderswo haben die Rettungsarbeiten | |
| entweder noch gar nicht begonnen oder man hat schon aufgegeben. "Die | |
| Stimmung ist trotz der Katastrophe ruhig", wundert sich Chen. Trotz ihrer | |
| Not verhielten sich die Leute gelassen, den Rettungskräften gelänge es, | |
| inmitten des Chaos eine gewisse Ordnung zu verbreiten, beobachtet Chen. Er | |
| erreicht sein Atelier. Dem naheliegenden Konfuziustempel fehlen nur ein | |
| paar Dachziegel, seine elastische Holzkonstruktion hielt dem Beben stand. | |
| Chens Blick auf Chinas größtes Erdbeben seit über 30 Jahren zeigt nur einen | |
| kleinen Ausschnitt der Katastrophe. Aber er spricht für die Schnelligkeit | |
| und Professionalität, mit der Peking diesmal reagiert. Die Sars-Epidemie | |
| vor fünf Jahren wurde über Monate vertuscht, das wahre Desaster der großen | |
| Yangtse-Flut von 1998 über Wochen verschwiegen. Am Montag aber wusste Chen | |
| eine Stunde nach dem Beben über die Gefahr Bescheid, die Medien | |
| funktionierten. Zwei Stunden später saß Premierminister Wen Jiabao im | |
| Flugzeug nach Chengdu, noch am Abend war er in Dujiangyan. | |
| "Dabei haben wir das ganze Ausmaß der Katastrophe sicher noch nicht | |
| erkannt. Es ist bestimmt viel schlimmer, als wir denken", sagt Chen. In der | |
| Provinz Sichuan seien mehr als 12.000 Menschen getötet worden, berichtete | |
| die amtliche Nachrichtenagentur Xinhua. Allein in Mianyang im Südwesten des | |
| Landes werden noch mehr als 18.000 Verschüttete vermisst. Chen kennt die | |
| unwegsame Gegend um den Ort Wenchuan mit seinen 105.000 Einwohnern. Die | |
| Straßen seien auch zu normalen Zeiten gefährlich steil und oft durch | |
| Steinschläge blockiert. Nun gibt es erschreckende Bilder riesiger | |
| Felslawinen, die erklären, warum erst gestern Soldaten per Fußmarsch in das | |
| Krisengebiet vordrangen. Dort leben Chinesen, Tibeter und Qiang-Minderheit. | |
| Die Tibeter von Wenchuan seien durch den Anbau von Biogemüse wohlhabend | |
| geworden, berichtet Chen. Von dem Wohlstand aber mag ihnen nun nicht mehr | |
| viel geblieben sein. | |
| Fraglich ist, ob die technischen Mittel ausreichen, um den Opfern in den | |
| Bergen noch rechtzeitig zu helfen. "Ein paar Hubschrauber reichen nicht", | |
| schimpft Chen. Auch der Einsatz von 3.000 Fallschirmspringern kommt ihm | |
| eher symbolisch vor. Tatsächlich scheinen die Rettungsarbeiten in | |
| Dujiangyan zwar erfolgreich zu sein, aber auch nicht weit über die Stadt | |
| hinauszugehen. Immer wieder zeigt das Staatsfernsehen dramatische | |
| Rettungsaktionen im Schutt - verzweifelte, heroische Taten. Unverfälschtes | |
| Propagandamaterial für die Zukunft. Aber man wartet umsonst auf das | |
| Vordringen der Raupen und Bagger über die Bergstraßen. Stattdessen stauen | |
| sich die riesigen Fahrzeuge auf der Autobahn. | |
| Es fehlen noch Zelte, Medikamente, Decken, Trinkwasser und Lebensmittel im | |
| Krisengebiet, melden gestern die Behörden. Auf dem Rückweg sieht Chen viele | |
| Lastwagen voller Hilfsladungen. Die Behörden sagen auch, dass sie | |
| ausländische Hilfe annehmen. Aber wahrscheinlich tun sie nur so. Nichts | |
| soll nach dem Erdbeben in China so aussehen wie nach dem Sturm in Birma. | |
| Darauf hat das Politbüro in Peking am Montag gewettet. Noch ist die Wette | |
| nicht gewonnen. | |
| 14 May 2008 | |
| ## AUTOREN | |
| Georg Blume | |
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