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# taz.de -- Jugendarbeit: Salto trifft Szaltó
> Ein niedersächsischer Jugendzirkus schickt ein komplettes
> Zirkus-Equipment ins rumänische Siebenbürgern, um dort Waisenkinder zu
> unterstützen. Zwei wurden nun nach Hannover eingeladen
Bild: Training am Tuch: Tobias Beyer und die rumänischen Jugendlichen Nelli-Ho…
HANNOVER taz | Pauli sitzt still auf einem Stuhl im Café des Hauses der
Jugend in Hannover. Um ihn herum ist es laut, das „NaNas“ ist voll besetzt,
Geschirr klimpert, Stimmengewirr. Paulis Hände liegen in seinem Schoß,
seine dunklen Augen sind auf einen entfernten Punkt gerichtet. Der
16-Jährige wirkt schüchtern. Er sucht nach Worten. Versucht zu beschreiben,
wie es sich für ihn anfühlt, auf der Bühne zu stehen, wenn alle Blicke auf
ihn gerichtet sind und er zeigt, was er gelernt hat – auf dem Hochseil, am
Trapez oder bei seiner liebsten Disziplin, der Tuchakrobatik. Dann findet
er doch ein passendes Wort: „Frei“ murmelt er auf Ungarisch in Richtung
seiner Dolmetscherin. „Es fühlt sich für mich wie Freiheit an.“
Pauli heißt eigentlich Paul Dorelut Barson. Der 16-Jährige lebt in einem
Waisenhaus in der 10.000 Einwohnerstadt Cristuru Secuiesc im rumänischen
Siebenbürgen. Er gehört einer ungarisch-sprachigen Minderheit an und er ist
Roma. In Rumänien sind das keine vielversprechenden Zukunftsaussichten,
wäre da nicht Paulis außergewöhnliches Talent.
## 120 kleine Artisten
„So begabt ist ein Kind von tausend“, sagt Tobias Beyer, Leiter des
städtischen Kinder- und Jugendzirkus Salto in Hannover. „Er bringt alles
mit, um einmal auf eine Zirkusschule zu gehen.“ Pauli ist eher klein, sein
Körper drahtig, aber muskulös. „Er hat die richtige Statur für einen
Artisten“, sagt Beyer, dem seine Begeisterung für den Zirkus anzusehen ist.
Der 37-Jährige mit den strubblig gestylten blondierten Haaren ist selbst
Jongleur, hat ständig Bälle in den Händen und zeigt nebenbei einigen
Kindern neue Tricks. Salto hat als Projekt mit einer Jonglierkiste
begonnen, heute ist der Zirkus in einem großen rot-blauen Zelt auf der
Wiese neben dem Haus der Jugend beim Maschsee zu finden. Mehr als 120
Kinder und Jugendliche trainieren hier kostenfrei Jonglieren, Einradfahren
oder Akrobatik.
Kennengelernt haben sich Beyer und Pauli in einer ausgedienten Lagerhalle
in Cristuru Secuiescin. Die verwandelte Beyer im vergangenen Sommer in den
ersten Kinder- und Jugendzirkus des Landes. Denn: „Außerschulische
Jugendbildung gibt es in Rumänien nicht“, sagt der gelernte Sozialarbeiter.
Beyer, der das Land über eine Freundin kennenlernte, ist von der
Millionenstadt Bukarest fasziniert, war dort schon oft im Urlaub. Er kennt
aber auch die dörflicheren Seiten Rumäniens, die Armut und soziale
Probleme. „Straßen- und Heimkinder sind dort die Ärmsten der Armen“, sagt
der Zirkusfan, dessen Lachfalten nun das erste Mal im Gespräch aus seinem
Gesicht verschwinden. Bei einer Reise sei ihm dann die Idee gekommen: Wenn
bei seinem Zirkusprojekt in Deutschland Heimkinder mit Kindern aus allen
sozialen Schichten zusammenkamen, warum sollte das nicht auch in Rumänien
gelingen? Schnell fand er Unterstützer in der Stadt Hannover und der
Rumänien-Arbeitsgruppe Hemmingen „Ein Haus für Morgen“, die seit mehr als
20 Jahren Waisenkinder in Siebenbürgen unterstützt.
Der Verein sammelte innerhalb von sechs Monaten rund 15.000 Euro Spenden.
Mehr als genug um ein komplettes Zirkus-Equipment mit Matten, Laufkugeln,
einem Trapez und einer Seiltanzanlage per LKW nach Cristuru Secuiesc zu
schicken. Beyer selbst flog mit 13 Jugendlichen vom Zirkus Salto hinterher.
Heute lacht er, wenn er daran denkt, wie naiv er dieses Abenteuer begann:
„Wir haben völlig unterschätzt, wie wichtig die Sprache ist“, sagt der
Sozialarbeiter, der zwar ein wenig Rumänisch, aber kein Ungarisch spricht.
„Wir brauchten vier Dolmetscher, die simultan übersetzt haben.“
Eine Woche lang probten die Hannoveraner mit 25 rumänischen Kindern und
Jugendlichen, viele davon aus dem Waisenhaus. Die Show in der umdekorierten
Lagerhalle des Ortes war das große Finale mit über 300 Zuschauern. „Das
ganze Dorf war auf den Beinen, um den Zirkus zu sehen“, schwärmt Beyer,
sogar der Bürgermeister kam.
Diese große Unterstützung gab es nicht von Anfang an. Den rumänischen
Behörden sei der Sinn eines solchen Zirkusprojekts nicht gleich klar
gewesen. „Dort herrscht noch ein ganz anderes pädagogisches Verständnis“,
sagt Beyer, der das Prinzip außerschulischer Bildung vermitteln möchte. „Es
ist mehr als ein Hobby. Durch die zirkuspädagogische Arbeit lernen die
Kinder.“ Gerade die Teamfähigkeit und das Selbstvertrauen würden gestärkt,
das ist wichtig für alle Kinder – vor allem aber für Heimkinder.
## Von anderen lernen
Heute ist eine eigene Zirkusgruppe namens „Szaltó“ in Cristuru Secuiesc
entstanden. Die Lagerhalle ist passé. Nun wird jeden Montag in der
Turnhalle der örtlichen Grundschule geprobt. Die Betreuer bezahlt der
Verein aus Hemmingen, das meiste bringen sich die Kinder aber selbst bei.
„Das geht bei uns nach dem Multiplikatorenprinzip: Die Jüngeren lernen von
den Älteren“, erklärt Beyer.
Um der Gruppe neue Ideen zu geben, hat er Pauli, die 15-jährige
Nelli-Hortenzia Jakab und deren Erzieherin Kinga Balázs für eine Woche nach
Hannover eingeladen. „Die beiden proben hier eisern vier bis fünf Stunden
am Tag“, erzählt Beyer. Aber auch Sightseeing, ein Besuch im
Varieté-Theater GOP oder Currywurst-Essen stehen auf dem Programm. „In
Hannover sind Menschenmassen unterwegs, das wirkt stressig“, sagt Nelli. Es
ist das komplette Gegenteil zu ihrem Zuhause – aber sie mag es trotzdem.
Für die talentierten Teenager ist es die erste Reise nach Deutschland. Das
große Ziel Beyers ist ein Jugendaustausch mit allen Zirkuskindern des
rumänischen Projekts. „Nach dem Motto: Salto trifft Szaltó.“
## Wortlose Kommunikation
Auch Betreuerin Balázs ist heute von dem zirkuspädagogischen Konzept
überzeugt. „Gerade für die Kinder aus dem Heim ist es wichtig, etwas
Besonderes zu lernen, damit sie fühlen, dass sie genauso viel wert sind wie
alle anderen“, sagt die 34-Jährige. Gerade filmt sie Nelli und Pauli auf
der Bühne im großen Saal im Haus der Jugend. Dort probt die Artistik-Gruppe
des Zirkus für einen Auftritt am nächsten Tag. Nelli und Pauli steigen
spontan mit ein. Nach eineinhalb Stunden Proben stehen die zwei mitten in
der menschlichen Pyramide, bewegen sich locker im Takt der Musik.
Die Kommunikation mit den anderen Kindern klappt gut, mit Zeichen und fast
ohne Worte. Und obwohl das Training anstrengend ist und Paulis Beine
zittern, als er die fast gleichgroße Nelli für eine Übung auf die Schultern
nimmt, strahlen die beiden. „Ich bin stolz, wenn ich neue Übungen lerne“,
sagt Pauli nach dem Training ein bisschen außer Atem. Und auch Nelli
findet: „Es ist ein großartiges Gefühl, wenn ich das, was ich kann, den
Zuschauern als Geschenk geben kann.“ Ob sie einmal auf die Zirkusschule
gehen wollen, wissen die Schüler noch nicht. „Aber wir freuen uns darauf,
den anderen zu Hause die neuen Tricks beizubringen.“
16 Feb 2014
## AUTOREN
Andrea Scharpen
Andrea Scharpen
## TAGS
Kolumne Sportsfroindin
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