# taz.de -- Graffiti-Aktion: Betonburg im Farbrausch | |
> Seit Monaten herrscht im Hannoverschen Ihme-Zentrum der Stillstand. Die | |
> Bagger sind abgezogen, doch die Bauzäune und die eingerissenen Fassaden | |
> sind geblieben. Nun haben Sprayer die Sanierungsruine verschönert - unter | |
> Mitwirkung der Bevölkerung. | |
Bild: Wird immer mehr zur Sanierungs-Ruine: das Ihme-Zentrum in Hannover. | |
Das Ihme-Zentrum in Hannover ist ein zugiger Ort. Seit Jahren ziehen sich | |
die Bauzäune wildwuchsartig durch die Sichtbetonburg aus den 1970er Jahren, | |
sperren Treppen ab und machen aus Wegen Sackgassen. Die mehr als 2.000 | |
Bewohner und die Besucher der dort ansässigen Ämter quälen sich durch die | |
dunklen, stinkenden Holzabsperrungen. | |
Als "Stadt in der Stadt" geplant, wird das Ihme-Zentrum immer mehr zu einer | |
Sanierungsruine. Seit der Insolvenz der beauftragten Projektfirmen im | |
Januar 2009 sind die Bagger und Raupen verstummt, auch das ohrenbetäubende | |
Schrillen der Betonsägen ist weg. Geblieben sind teilweise eingerissene | |
Geschossdecken der großen Gewerbeeinheiten. Verbogene, rostige Eisenstränge | |
ragen aus ihnen hinaus. | |
Doch dieser Zustand soll sich nun ändern. Besucher, die jetzt zum | |
vorläufigen Haupteingang des Ihme-Zentrums wollen, kommen an einer frisch | |
gemalten Skyline-Collage vorbei. Davor stehen Transportkarren voller | |
Sprühdosen, junge Männer ziehen Kreppband von den Sperrholzwänden. Sichtbar | |
wird eine Zickzack-Linie, die an die Bauzäune aus der Vogelperspektive | |
erinnern soll. | |
Die im Ihme-Zentrum ansässigen Ämter haben die Veränderung losgetreten. | |
"Als Besucher des Jugendamtes sich in der Zeitung über die Wege beschwert | |
haben, da mussten wir handeln", sagt Angelika Martin vom Gebäudemanagement | |
der Stadt Hannover. Mit ihrem Amt residiert sie selbst in einem | |
elfgeschossigen Komplex mitten zwischen 20-Etagern. Martin kontaktierte den | |
Kommunikationsdesigner Björn Vofrei, der wiederum beste Kontakte zur | |
Sprayer- und Künstlerszene hat. "Wir wollten, dass die Leute mitkriegen, | |
Graffiti ist nicht nur rumtaggen", sagt Martin. In den Medien würden "immer | |
nur die Schmierereien gezeigt". | |
Der 29-jährige Vofrei sitzt auf einem Verteilerkasten auf der | |
gegenüberliegenden Straßenseite und betrachtet die Wirkung seiner Arbeit. | |
Er hat das Gestaltungskonzept entwickelt, inklusive Farbleitsystem für die | |
öffentlichen Wege. "Für jede Wand haben wir eine bestimmte Farbauswahl an | |
Spraydosen bereitgestellt", sagt Vofrei. | |
Durch einen Gang aus Holzwänden führt der Weg an gelben | |
Hartplastikbauabsperrungen vorbei zu zwei Großraumaufzügen. Es geht in die | |
erste Ebene des Komplexes, wo sich einst eine Ladenstraße im typischen | |
1970er-Jahre-Fußgängerzonendesign schlängelte, samt Waschbetonpflanzkästen | |
und Bänke-Inseln. Nun klaffen die ehemaligen Läden als schier endlose, | |
dunkle Löcher, einzig gehalten durch die Betonpfeiler. Versorgungsleitungen | |
unter der nackten Decke. Der unebene Fußboden in den Gängen wirkt, als | |
hätte man dort Teppichboden abgerissen. Der Estrich fehlt, Regenwasser | |
sammelt sich in den Kuhlen. | |
Inzwischen haben die Graffiti-Künstler auch hier die alten, dunkel | |
vergilbten und bekritzelten Sperrholzzäune grundiert und mit dem Sprayen | |
begonnen. Vofrei setzt auf den Ehrenkodex der Szene, der da lautet: | |
"Besprühte Flächen werden nicht angefasst". Sprayer Felix, mit | |
zusammengebundenen Dreadlocks, hat einen Teppich vor seine zwei mal zwei | |
Meter große Fläche gelegt, um den herabfallenden Farbnebel aufzufangen. | |
"Wir dürfen nur die zugewiesenen Holzflächen bemalen. Sonst müssen wir das | |
alles wieder wegmachen", mahnt Projekteiter Vofrei. Mit einem Mitsprayer im | |
Kapuzenpulli begutachtet Felix sein Bild. Eigentlich war er von mehr Fläche | |
ausgegangen. "Jetzt haben wir uns auf so eine Art gerahmtes Bild | |
konzentriert und versucht unsere Eindrücke von Hannover einzufangen." | |
Felix ist aus Bremen angereist, andere Sprayer kommen aus Kiel, Wolfsburg | |
oder Osnabrück - die Norddeutschen sind gut vertreten. Ein Heidelberger | |
sprayte mal kurz auf der Durchreise, außerdem kamen ein Italiener und ein | |
Sprayer aus Barcelona. Etwa 50 Graffiti-Künstler zwischen 16 und 35 Jahren | |
kamen, obwohl die Flächen legal sind - oder gerade deswegen. | |
Steffi, auch aus Bremen, behauptet sich mit einem zarten Blumenmotiv | |
zwischen all den männlichen Sprayern. "Man kann ganz viele Impressionen und | |
auch Ideen austauschen, das ist für mich die Hauptsache dabei", sagt sie. | |
Als sie erfährt, dass die Arbeiten hier länger zu sehen sein werden, lacht | |
sie. "Das ist ja super!" | |
Auf der Flussseite des Komplexes mit idyllischem Blick auf die Ihme gießt | |
eine elegante, grauhaarige Frau die Blumen an ihrem Fenster. Sie beobachtet | |
die Sprayer bei ihrer Arbeit. "Wir warten schon so ewig lange darauf, dass | |
sich ein bisschen was tut", sagt sie. Ans Weggehen hat sie nie gedacht. | |
"Wir gehören einfach hierher." | |
Mit Hilfe des Internet-Projekts "Hannover-Liebe" haben die Aktiven um | |
Vofrei viel lokales Material zusammengetragen, das sie auf den Wänden | |
zitieren. Positive Gedanken von Hannoveranern über ihre Stadt, alles | |
multimedial aufbereitet. Auch für die Macher ist das Projekt existenziell: | |
Viele Jungkreative wollen nicht nur Hannover, sondern auch sich selbst mit | |
dieser Referenz empfehlen - und kehren damit von der künstlerischen Fiktion | |
zum Realen zurück. | |
Inzwischen regnet es leicht über dem abendlichen Ihme-Zentrum und der | |
Generator für einen Projektor will nicht anspringen. Leichte Müdigkeit ist | |
spürbar. Schließlich wirft das Licht Silhouetten von echten Hannoveranern | |
auf die Holzwände. Die werden dann ausgemalt. Denn um sie, die Einwohner, | |
soll es ja gehen. | |
26 Aug 2010 | |
## AUTOREN | |
Beate Barrein | |
## TAGS | |
Hannover | |
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