# taz.de -- Geteiltes Zypern: Die geöffnete Sackgasse | |
> Seit 36 Jahren war ein griechisches Dorf zwischen Pufferzonen eingekeilt. | |
> Jetzt ist die Grenze durchlässig geworden. Der Preis: fünf Millionen | |
> Euro. Dafür gibt's frischen Fisch. | |
Bild: Teure Abkürzung: Die neue Straße, die durch die Uno-Pufferzone nach Nik… | |
KATO PYGROS taz | Normalerweise, wenn Marina Andreou im November ihre | |
Eltern über das Wochenende im heimatlichen Dorf besucht, sind das ruhige | |
Tage. Zu Beginn des zyprischen Winters verirren sich höchstens ein paar | |
Einheimische in das Restaurant des Pyrginia Beach Hotel in Kato Pyrgos und | |
trinken zwei, drei oder auch vier Bier, während die Gaststube vom | |
beständigen Geräusch des laufenden Fernsehers gefüllt wird. | |
Normalerweise stehen die Zimmer im November komplett leer. Die 28-jährige | |
Marina kann sich dann von ihrem Job in der Statistikabteilung in der | |
Hauptstadt Nikosia erholen. Normalerweise begibt sie sich spätestens am | |
Sonntagnachmittag mit dem Wagen wieder auf den umständlichen Rückweg durch | |
die Berge, etwa 120 Kilometer weit und in weniger als zweieinhalb Stunden | |
unmöglich zu schaffen. | |
Doch dieses Jahr ist alles anders. Auf der Terrasse des Restaurants sind am | |
Samstagmittag alle Tische besetzt. Marina muss den Eltern und den beiden | |
jungen Vietnamesinnen, die dort arbeiten, zur Hand gehen. Die Gäste, | |
griechische Zyprioten, sitzen an den langen Tischreihen und verlangen nach | |
mehr: Salat, Kartoffeln, Fleisch, Käse, Brot. Und Fisch. Schließlich liegt | |
der kleine Fischerhafen direkt unter dem dreigeschossigen Gebäude, und da | |
wird es ja wohl frischen Fisch geben. Gibt es auch. | |
Wenn Marina Andreou an diesem Sonntag zurück nach Nikosia fährt, kann sie | |
viel später aufbrechen als sonst. Es gibt da nämlich einen neuen Weg, und | |
unter großzügiger Auslegung der Straßenverkehrsordnung ist sie nun in gut | |
einer Stunde wieder daheim. Die Straße ist auch längst nicht so gefährlich | |
wie die alte voller Kurven, denn sie führt größtenteils die Küste entlang. | |
Nicht nur Marina ist begeistert. Auch ihre Mutter Sofia: "Großartig" sei | |
die Straße, es kämen auf einmal so viele Gäste, sagt die schlanke, | |
schwarzhaarige Frau. Fröhlich ist auch Miutsa, die im Dorf nah bei der | |
großen Eiche einen Kramladen betreibt und ganz neue Kunden begrüßen darf. | |
"Endlich", sagt der Lehrer Andreas Ioannou von dem winzigen Gymnasium von | |
Kato Pyrgos. Er sei auch schon über die neue Straße nach Morphou gefahren, | |
das er zum ersten Mal seit Jahrzehnten wiedergesehen habe, berichtet der | |
61-Jährige mit dem grauen Haarkranz verschmitzt lächelnd. | |
Was ist an dieser Straße so besonderes? Dazu muss man wissen, dass Kato | |
Pyrgos, ein lang gestrecktes Straßendorf mit vielleicht zweitausend | |
Einwohnern an der Nordküste Zyperns, das vom Orangen- und Zitronenanbau | |
lebt, gewissen Grenzen der politischen Geografie unterliegt. Denn im Westen | |
endet die Küstenstraße nach wenigen Kilometern: Dahinter liegt erst eine | |
UNO-Pufferzone und dann Erenköy, griechisch Kokkina, früher einmal ein | |
türkisches Dorf, heute nur noch Stützpunkt der türkischen Armee. Betreten | |
für Griechen verboten. | |
Deshalb schraubt sich die Straße in schwindelnde Höhen in die Berge hinauf, | |
vorbei an den Ruinen von Geisterdörfern, in deren Lehmbauten nur noch | |
Ziegen wohnen, und hinter der Enklave wieder hinunter an die See. Marina | |
kann sich erinnern, wie das war, als sie als 13-Jährige zum | |
Englischunterricht in die nächste Provinzstadt Paphos musste, Abfahrt um | |
vier Uhr morgens mit dem uralten Bedford-Bus aus dem Zweiten Weltkrieg: | |
"Furchtbar!" | |
Im Osten von Kato Pyrgos wiederum liegt noch eine UNO-Pufferzone, dahinter | |
der türkisch besiedelte Nordteil Zyperns. Wieder: Zutritt verboten. Nach | |
Norden hin gibt es nur Wasser. Und nach Süden hin steigen die Berge des | |
dicht bewaldeten Troodos-Gebirges hoch und höher. Kato Pyrgos wurde so zum | |
politischen Gefangenen, eingezwängt zwischen feindlichen Gebieten, den | |
Wellen des Mittelmeers und rauer, unwegsamer Natur. Abgehängt von der | |
Politik, vergessen von der Hauptstadt, aus der die Zeitungen erst am späten | |
Nachmittag im Kramladen eintrafen. Ein seltenes Ereignis, wenn im Herbst | |
und Winter einmal ein Fremder das Dorf betrat. | |
Bis Mitte Oktober. Denn da, genauer am 14. des Monats, brach die | |
Weltgeschichte über Kato Pyrgos herein: Der Präsident der Republik Zypern | |
saß zusammen mit seinem zyperntürkischen Pendant im Kaffeehaus an der | |
großen Eiche. Der EU-Erweiterungskommissar war aus Brüssel angereist, | |
gekommen waren der US-Botschafter, UNO-Vertreter, Journalisten. Über der | |
Straße Fähnchengirlanden mit griechischen und zypriotischen Flaggen und | |
schließlich das Volk, also die Einwohner von Kato Pyrgos. Es war die | |
Einweihung der neuen Straße, die da gefeiert wurde. 5 Millionen Euro haben | |
die 5,7 Kilometer gekostet, finanziert von der EU, der UN und den USA. Ein | |
Klacks. | |
Da, wo vorher am Ende der Straße ein griechischer Checkpoint mit Soldat und | |
grundsätzlich heruntergelassener Schranke den Weg nach Osten versperrte, | |
sitzen jetzt vier vergnügte Polizisten in blauen Uniformen in einem weißen | |
Container zwischen den Fahrbahnen, lassen die Fahrzeuge passieren und | |
zählen sie. Sie haben viel zu zählen. 500, am Wochenende gar bis 800 Autos | |
passieren den Übergang am Tag. Besondere Vorkommnisse haben sie bisher | |
nicht zu vermelden, sagen sie unisono. | |
Dann geht der Weg durch die UNO-Pufferzone einen Hügel hinauf. Dort oben | |
liegt der türkische Stützpunkt, immerhin mit einer Blechhalle ausgestattet, | |
denn die Reisenden müssen hier kurz aussteigen und Papiere stempeln lassen, | |
bevor es weiter über das türkische Dorf Yesilirmak nach Astromeritis geht, | |
wo die griechischen Zyprioten den türkischen Nordteil wieder über einen | |
anderen Checkpoint verlassen. | |
"In einer Stunde nach Nikosia!" Der Lehrer Andreas Ioannou, die | |
Statistikerin Marina Andreou, Maria aus dem Kleiderladen und all die | |
anderen Einwohner von Kato Pyrgos können es immer noch kaum glauben. Die | |
Straße ist für sie eine Befreiung. Und nicht nur für sie: Denn jetzt | |
entdecken die Bewohner der Hauptstadt das vergessene Dorf am Meer, das | |
plötzlich so nahe herangerückt ist, bestellen Fisch im Restaurant, buchen | |
übers Wochenende sogar Zimmer bei Sofia Andreou, der Mutter von Marina, und | |
sorgen für einen Boom, wie es ihn noch nie gegeben hat. Und dann kommen | |
noch ganz andere Gäste, nämlich solche, die man in Kato Pyrgos seit 36 | |
Jahren nicht mehr im Kaffeehaus gesehen hat: türkische Zyprioten. | |
Manche von ihnen machen sich auf, um die Gräber ihrer Verwandten auf dem | |
Friedhof von Erenköy zu besuchen. Die meisten aber kommen, um | |
weiterzufahren, nach Paphos und in die Kleinstadt Polis. Dorthin, wo sie | |
oder ihre Vorfahren früher einmal, vor dem Krieg von 1974, gelebt haben. | |
So wie der 26-jährige Jaja Yorjulmaz aus Yesilirmak, dem ersten Dorf nach | |
Kato Pyrgos auf türkischer Seite: "Ich bin nach Polis gefahren und habe mir | |
das Haus meines Großvaters angeschaut. Der jetzige Besitzer war sehr | |
freundlich und hat uns zum Kaffee eingeladen", berichtet er. Als Chef des | |
Restaurants Vouni King profitiert er genauso wie Sofia Andreou von der | |
neuen Straße und dem Checkpoint, denn viele Hauptstädter machen neuerdings | |
bei ihm Station. Stolz begrüßt Yorjulmaz im roten T-Shirt mit der | |
Aufschrift seines Unternehmens die neuen Gäste, die in der großen, ganz aus | |
Holz errichteten Gaststube an langen Tischen und offenen Fenstern Platz | |
finden. | |
In Kato Pyrgos hat man die türkischen Zyprioten seit 36 Jahren nicht mehr | |
leibhaftig zu Gesicht bekommen. Sie wurden zu Schattengestalten, | |
Unbekannten, von denen nicht ganz klar war, ob man ihnen trauen könne. | |
Jetzt sitzen sie plötzlich in den zahlreichen Kaffeehäusern, und die | |
Älteren unter ihnen kramen ihr eingerostetes Griechisch hervor. | |
Die Grenze ist durchlässiger geworden, aber sie besteht natürlich noch | |
immer. Die Hoffnung, dass die Politiker und Diplomaten in Nikosia, Brüssel | |
und New York das in naher Zukunft ändern könnten, hält sich in Grenzen. | |
Schon um den Checkpoint gab es ein jahrelanges Gezerre. Der Lehrer Andreas | |
Ioannou, der als Vertreter des Dorfs in einer gemischten Kommission zur | |
Grenzöffnung saß, berichtet, während er im Kaffeehaus dem so ungewohnten | |
Strom fremder Autos hinterherblickt: "Es hat fast fünf Jahre lang gedauert. | |
Ich glaube, am Ende waren es die UN, die EU und die Amerikaner, die | |
gedrängt haben. Wir hatten hier ein Treffen mit dem US-Botschafter. Das hat | |
sehr geholfen." | |
Ganz umsonst ließen die türkischen Militärs Kato Pyrgos nicht aus seiner | |
Isolation heraus. Sie verlangten, dass im Gegenzug ihre Enklave Erenköy mit | |
der Elektrizität des Feindes versorgt wird. Ioannou: "Sie verstehen, dass | |
es für unsere Seite nicht einfach war, das zu akzeptieren, dem türkischen | |
Militär Strom zu liefern." Aber am Ende stimmten sie zu. | |
Nun haben die Dörfler noch ein Problem: Sie dürfen ihre Orangen und | |
Zitronen nicht über die Grenze nach Nikosia fahren und in der Hauptstadt | |
vermarkten. Das nämlich ginge nur in geschlossenen und verplombten | |
Lastkraftwagen. Im türkischen Norden Zyperns gilt schließlich kein | |
EU-Recht, und damit ist der kleine Checkpoint mit der weißen Blechbaracke | |
faktisch eine Außengrenze der Europäischen Union. | |
Nun haben die Menschen in Kato Pyrgos aber keine geschlossenen Lkws. Sie | |
fahren ihre Südfrüchte mit Pick-ups zum Markt. Aber Lehrer Ioannou hat da | |
schon eine Idee: "Das Beste wäre, die EU um Hilfe zu bitten. Es würde nicht | |
so viel kosten, dass sich die Leute bei uns neue Lkws kaufen können." | |
22 Nov 2010 | |
## AUTOREN | |
Klaus Hillenbrand | |
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