# taz.de -- Geschmack und Würze: Maggi, das Arbeiterkind | |
> Maggi will seine Rezepturen ändern, auch die der legendären „Würze“. D… | |
> salzig-braune Flüssigkeit wird nirgends so gern verspeist wie im | |
> Saarland. | |
Bild: Besonders beworben wird die Würze im Saarland nicht, heißt es bei Maggi… | |
Ob Eisberge, Waldbrände oder La Réunion – ständig ist etwas „so groß wie | |
das Saarland“, dessen bescheidene Fläche offenbar das menschliche Maß nicht | |
überschreitet und daher besonders für Vergleiche taugt. Absolut | |
unvergleichlich und jedes menschliche Maß überschreitend allerdings ist der | |
Verbrauch, den die Saarländerinnen und Saarländer bei einem bestimmten | |
Produkt an den Tag legen: Maggi. | |
Ein Liter der Würzsoße pro Haushalt und Jahr wird hier verbraucht. Ein | |
Liter, das ist doppelt so viel wie der deutsche Durchschnitt. Statistiker | |
nennen das einen signifikanten Wert. Nur das Ruhrgebiet kommt ansatzweise | |
in die Nähe der saarländischen Exzesse, das übrige Land fällt weit zurück. | |
Zwischen Freisen und Überherrn, Perl und Wörschweiler leben knapp 1 Million | |
Menschen in rund 450.000 Haushalten, das macht also 4.500 Hektoliter oder | |
auch: 3.750 Badewannen gefüllt mit einer industriellen Flüssigkeit, bei der | |
in der Regel schon ein winziger Spritzer genügt, um die entsprechende | |
Speise für jeden feineren Gaumen ungenießbar zu machen. | |
Wie lässt sich die außerordentliche Beliebtheit von Maggi im Saarland (und | |
nur im Saarland) erklären? Lässt sich womöglich, umgekehrt, das Saarland | |
über seine Beliebtheit zu Maggi entschlüsseln? | |
## Geschmackliche Simulation von Fleisch | |
Wer sich dem kleinsten Flächenbundesland, das ziemlich genauso groß ist wie | |
das Saarland, von Osten auf der Autobahn nähert, kann erstmals an der | |
Raststätte Homburg einkehren – eine Enttäuschung. Kein Maggi, nirgends. | |
Zumindest nicht auf den Tischen. | |
Auf Nachfrage mag auch die Dame hinter dem Buffet nicht einräumen, dass | |
sich womöglich ein Tröpfchen in die ungarische Gulaschsuppe, unter die | |
Putenbruststreifen oder in die Remouladensoße verirrt hat, die mit dem | |
gebackenen Seelachsfilet serviert wird. Nun unterhält der | |
Raststätten-Dienstleister bundesweit 170 Filialen, Konzessionen an | |
regionale Vorlieben widersprechen womöglich dem universalistischen | |
Geschäftsmodell. | |
Beim Blick aus dem Fenster fällt uns ein roter Sattelschlepper von Ansorge | |
auf, der draußen vorbeigleitet. Sofort nehmen wir die Verfolgung auf. | |
Ansorge ist ein Spediteur, der zu seinen Kunden vor allem Nestlé zählt – zu | |
dem Maggi seit 1947 gehört, als der ehemalige Lieferant von | |
Spezialkampfsuppen für die Wehrmacht nur durch betriebswirtschaftliche | |
Radikaldegermanisierung vor der Zerschlagung gerettet werden konnte. | |
Während andere starke Marken wie Tempo oder Q-tip stellvertretend für ganze | |
Produktfamilien stehen, hat das artifizielle Maggi sogar auf die Botanik | |
rückgekoppelt. Liebstöckel, dessen Duft entfernt daran erinnert, nennt man | |
längst auch „Maggikraut“. Dabei verkaufte sich die Würzsoße zunächst als | |
geschmackliche Simulation von etwas, das knapp und begehrt war: Fleisch. | |
Erfunden wurde Maggi 1886 vom schweizerischen Unternehmer Julius Maggi, | |
ursprünglich nur zur geschmacklichen Aufwertung seiner Erbsensuppen – die | |
wiederum dazu beitragen sollten, die drohende Unterernährung der | |
Arbeiterklasse abzumildern. | |
## Aufgelöste Schlachtabfälle? | |
Über die Rezeptur schweigt sich das Unternehmen aus. Womöglich aus Gründen. | |
Unken unkten schon damals, bei der Tunke handele es sich um in Salzsäure | |
aufgelöste Schlachtabfälle, abgelöscht mit Natronlauge. Was man sicher | |
weiß, macht’s nicht wesentlich appetitlicher. Ausgangsprodukt ist Weizen | |
(bis 2006 auch Soja, daher die geschmackliche Verwandtschaft mit der | |
Sojasoße). Statt auf Salzsäure setzen die Lebensmitteltechniker heute auf | |
enzymatische Elektrolyse, ergänzt um Geschmacksverstärker. | |
Weil aber gesundes Essen neuerdings als organic food zur sozialen und | |
weltanschaulichen Distinktion dient, kündigte Maggi kürzlich an, im Rahmen | |
der „ Simply Good“-Initiative, die Rezeptur ändern zu wollen. Schmackhafter | |
und vor allem „natürlicher“ soll es nun sein, mehr „Gemüse, Kräuter und | |
Gewürze“ sollen rein, anstelle von Inhaltsstoffen, „die kaum jemand kennt�… | |
Einstweilen wird aber noch Mononatriumglutamat und Dinatriuminosinat | |
abgefüllt, in Singen, wo auch der rote Lkw mit dem Kennzeichen „KN“ (für | |
Konstanz) herkommt. Wir folgen ihm bis zum Großhandelsmarkt im Zentrum von | |
Saarbrücken, wo „Würze“ von Maggi im handlichen Benzinkanister auf Abnehm… | |
wartet. 4,5 Liter für rund 40 Euro. Was da genau drin ist, weiß auch der | |
Verkäufer nicht. Dafür weiß er, wer für solche irrsinnigen Maggi-Mengen | |
eine Verwendung hat: „Metzger kaufen das!“ | |
Ein Sprecher der Fleischerinnung des Saarlands bestätigt leutselig: „Ach, | |
wir machen das überall rein. Würste, Leberknödel, Frikadellen. Wir | |
schreiben Speisewürze drauf, das muss man ja neutral halten. Aber natürlich | |
ist das Maggi.“ Natürlich. Die größten Mengen wanderten in die Produktion | |
„der guten Lyoner“. Nun ist die Lyoner im Saarland, ähnlich etabliert wie | |
Maggi, eine kulinarische Institution. Und die Fleischwurst ist eine | |
Brühwurst, im Saarland kommt schon in der Herstellung „natürlich“ der | |
flüssige Brühwürfel zum Einsatz. | |
Die Vermählung der beiden Elemente in einer einzigen Wurst führt auf die | |
richtige Fährte. Denn die Lyoner galt früher als „Steak des armen Mannes“. | |
Und der arme Mann, der sein eiweißhaltiges Steak bitter nötig gehabt hätte, | |
war der Bergmann – an der Saar wie an der Ruhr. So erklärt sich auch Maggi, | |
kurioserweise ansässig in der Lyoner Straße in Frankfurt, die Nachfrage | |
nach seinem Produkt. | |
1887 leitete der junge Frank Wedekind, später berühmter Dramatiker | |
(„Frühlings Erwachen“), das Pressebüro der Firma und dichtete Verslein wie | |
„Söhnchen, mein Söhnchen! Kommst du erst zu den Truppen, so isst man dort | |
auch längst nur Maggi’s Fleischconservensuppen.“ Heute klingt es auf | |
Nachfrage aus der Zentrale prosaischer: „Die Arbeiter haben sich stets ihre | |
oft kargen Mahlzeiten mit Maggi ‚schmackhaft‘ gewürzt. Ob aufs Brot, aufs | |
Ei und ganz besonders in den leider oft sehr dünnen Suppen.“ | |
Besonders beworben wird die Würze im Saarland nicht, heißt es bei Maggi, | |
„da sie sich aufgrund ihrer Beliebtheit quasi von selbst verkauft“. Nicht | |
nur sind ihr weite Teile der Bevölkerung auch nach dem Ende von Bergbau und | |
Hüttenwesen treu geblieben. Aus ihren proletarischen Zusammenhängen | |
sickerte sie, unter Umgehung nur der „gehobenen Küche“, in alle sozialen | |
Schichten. | |
## Hauptsach, gudd gess! | |
Auch in der allmählich aussterbenden Dorfgastronomie steht Maggi | |
griffbereit in der Küche. Und dort, wo die saarländische Küche | |
saarländischer kaum sein könnte, steht sie auf dem Tisch. Ein Sprecher des | |
Landtags in Saarbrücken bestätigt: „Das gibt’s in der Kantine, natürlich. | |
Das steht da neben Pfeffer und Salz. Ich verwende das auch. Im Saarland | |
heißt es ja: Hauptsach, gudd gess!“ | |
An der Saar ist Maggi also keine Geschmacksfrage. Weshalb die geringfügige | |
Modifikation einer Rezeptur, die überdies im 20. Jahrhundert mehrfach | |
geändert wurde, keinen Saarländer wirklich kümmert. | |
Das Zeug ist, sofern es nicht plötzlich nach Grafschafter Goldsaft oder | |
Lebertran schmeckt, als Größe gesetzt beziehungsweise gestellt, und zwar | |
„quasi von selbst“ auf den Tisch. Ein industrielles Lebensmittel aus | |
industrieller Vergangenheit, das es bis zum „natürlichen“ Habitus einer | |
regionalen Ernährung gebracht hat – und damit zum Bestandteil einer | |
regionalen Identität. | |
In „Die feinen Unterschiede“ schreibt der Soziologe Pierre Bourdieu: „Der | |
Geschmack ist die Grundlage all dessen, was man hat“, mehr noch „all | |
dessen, was man für die anderen ist, dessen, womit man sich selbst | |
einordnet und von den anderen eingeordnet wird“. Der Essgeschmack lässt | |
sich also nicht „aus dem Gesamtzusammenhang des Lebensstils herauslösen“, | |
und der ist im Saarland traditionell proletarisch geprägt. | |
Die objektive Qualität eines Produkts und seine tatsächliche Wertschätzung, | |
Güte und Beliebtheit also, unterscheiden sich wie „gut“ von „gudd“. Ein | |
feiner Unterschied. Im Saarland wird er verstanden. | |
19 Jun 2017 | |
## AUTOREN | |
Arno Frank | |
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